Beitragvon Franka » 07.02.2008, 15:29:11
Hier schon mal die ersten Stimmen aus Dresden:
7.01.2007 - Jekyll and Hyde in Dresden - Aus zwei mach eins
Die Textzeile „Es ist vorbei, es ist soweit, es wird niemand erfahr'n!“ läutet eine der anspruchsvollsten Partien in Frank Wildhorns Musical „Jekyll and Hyde“ ein. Kaum ein anderes Stück stellt die Darsteller vor die Aufgabe zwei unterschiedliche Stimmlagen zu vereinen und innerhalb von vier Minuten die zwei Seiten der menschlichen Seite in einem epischen Kampf darzustellen, doch „Konfrontation“ ist nicht mehr und nicht weniger als die Herausforderung sich über die Grenzen des Menschseins hinweg und hinein in die unbeherrschte, kompromisslose Bösartigkeit zu stürzen.
Chris Murray stellt die Figur des Jekyll in der Inszenierung der Dresdner Staatsoperette genau so dar – kompromisslos, jenseits aller Grenzen, zügellos und unbändig emotional. Er schreit und tobt, vereinnahmt die Bühne wie ein Rasender, faucht wie ein wildes Tier, nur um im nächsten Moment hilflos auf dem Rücken liegend um Frieden zu betteln, ehe er wieder aufspringt und Mr. Hyde erneut zu gewalttätiger Existenz verhilft.
Diesem ergreifenden, physisch wie psychisch völlig auslaugenden Höhepunkt geht ein langer inszenatorischer Weg voller geschürter Zweifel und Zwiespältigkeit voraus, denn die Aufführung in Dresden greift das Kernmotiv des Musicals – die Doppelbödigkeit der Seele – als roten Faden auf und entführt den Zuschauer in tiefschwarze und himmelhochjauchzende Extreme der Emotionen.
Das Wildhorn-Musical erzählt die Geschichte von Dr. Henry Jekyll, der ein Mittel zur Heilung von Geisteskranken gefunden hat, das das Gute und das Böse der menschlichen Seele in zwei voneinander unabhängige Teile trennen soll. Der Vorstand des Krankenhauses, bei dem er um menschliche Versuchskaninchen bittet, lehnt seine Forschungen aufgrund moralischer Bedenken ab, doch Henry gibt nicht auf und erprobt die Arznei selbst. Das Resultat ist ebenso erschreckend wie faszinierend, denn nun verwandelt sich der gutmütige Henry in Mister Edward Hyde, dessen Hass sich gegen alles richtet, was Henry lieb und teuer ist. Mordend streift Hyde durch die nebligen Gassen Londons und wendet sich schließlich auch Henrys Bekannter, der Prostituierten Lucy, zu, die in glühender Liebe zu Dr. Jekyll entbrannt ist und nun die grauenhaftesten Misshandlungen von dessen Alter Ego ertragen muss.
Wie der Kampf um die Seele Henrys ausgeht, erzählt Regisseur Winfried Schneider in plakativen, überzeugenden Bildern, die von der kochenden, brodelnden und zischenden Alchimistenküche Jekylls über die heimelige Atmosphäre im Hause Emma Carews - Henrys Verlobte -– bis hin zur grauen, stickigen Fassade des spätviktorianischen Englands reicht und dabei nicht an den Kulissen spart.
Auch die Kostüme spiegeln den vorherrschenden Dualismus wieder, denn die Aristokraten tragen Roben und Frack, wohingegen Lucy in Mieder, Strumpfband und verführerisch roter Spitze anzutreffen ist. Bühnen- und Kostümbildnerin Ella Späte legt besonders großen Wert auf eine authentische Ausstattung, um den dramatischen Kontrast von Hydes Irrsinn im normalen, alltäglichen England noch deutlicher hervorzuheben.
In diese gefährliche Kulisse fügen sich die Darsteller mühelos, jeder versucht seiner Figur soviel von der stückeigenen Zweideutigkeit einzuflößen, wie möglich.
Da ist zum Einen der bereits erwähnte Chris Murray, der sich hemmungslos in seine Rolle vertieft. Es ist beängstigend, mit welcher Intensität er Jekyll und Hyde Leben einhaucht, mit welchem körperlichen Einsatz er spielt, ohne dabei am gesanglichen Ausdruck zu sparen. So liegt er beispielweise als Hyde bei „Gefährliches Spiel“ gierig zu Lucys Füßen und grapscht und schlägt mit rücksichtloser Gewalt nach ihrem Körper oder stürzt sich nach ihrer Ermordung völlig irr vom Bett ; ein gewagter Stunt, der den ein oder anderen Zuschauer veranlasst, scharf Luft zu holen und sich zu fragen, ob das noch metaphorisches Schauspiel oder schon ungeschminkte Realität auf Bühnenbrettern ist.
Besonders einfühlsam präsentiert sich auch Hans-Jürgen Wiese als Henrys bester Freund John Utterson. Obwohl ein typisch englischer Gentleman mit Zylinder und Spazierstock, so ist in ihm kein Funken der vielzitierten britischen Distanziertheit zu spüren, im Gegenteil, sein eindringliches Schauspiel und seine warme Baritonstimme erklären, warum sich sogar Edward Hyde bereit erklärt, ihm das Geheimnis der gespaltenen Seele anzuvertrauen.
Genauso emotional wirkt Susanne Panzner als Lucy. Auf der einen Seite ist sie selbstbewusst und flirtet bei „Schafft die Männer ran“ im knappen Outfit und mit erotischer Choreographie mit dem gesamten Publikum, auf der anderen Seite präsentiert sie die verklärte Seite eines jungen Mädchens, das sich einen Märchenprinzen wünscht, um von ihrem Elend erlöst zu werden durch sanften, romantischen Gesang.
Als Gegenstück zu ihr tritt Ilonka Vöckel in der Gestalt der reinen, unschuldigen Emma Carew auf, die in Henry ihre große Liebe gefunden hat. Obwohl ihre Bühnenpräsenz geringer ist als die Lucys, stellt sie ihre Songs nichtsdestotrotz auf kräftige und charmante Weise dar, sodass sie keinesfalls als dummes Blondchen sondern als rigorose, durchsetzungsfähige und willensstarke Frau auf der Bildfläche erscheint.
Die Namensänderung von Lisa zu Emma Carew ist übrigens eine der inszenatorischen Eigenheiten des Theaters, die sich ebenfalls in einer leicht abgewandelten Form des Librettos und der bedauerlichen Kürzung einiger Songs bemerkbar machen.
„Jekyll and Hyde“ in der Staatsoperette Dresden ist ein großartiges, berauschendes Werk, das den Mut zur Akzeptanz der in allen vorhandenen dunklen Seite fördert, ohne sich des moralischen Zeigefingers zu bedienen und durch brillante und charakterstarke Darsteller eine atmosphärisch dichte Emotionalität hervorruft, die durch nichts zu überbieten ist. Ein Meisterwerk also.
Quelle: Musical Total