Mich trägt mein Traum

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Gaefa
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 22.09.2014, 17:57:31

Hm. Ich weiß nicht recht, was ich von diesem Teil halten soll. Das Ende geht mir doch ein bisschen zu glatt. Will er da etwa Anouk von seinem Ensemble fernhalten? Und ich find es immer noch nicht gut, dass er das Phantom spielt, das ist nicht nur eine Nummer zu groß, sondern mindestens 3. Aber okay. Und ich hätte mir wieder einen nicht so großen Zeitsprung gewünscht. Was war mit Weihnachten? Silvester? Schade, dass du da einfach drüber hinweg gehst. Weihnachten hätten sie sich ja z.B. iwie sehen oder wenigstens länger sprechen können, da ja spielfrei ist an den Feiertagen... Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
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armandine
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 22.09.2014, 19:09:49

Das habe ich auch gerade gedacht mit Weihnachten, wenigstens Heiligabend. Und eine irgendwie fehlte mir auch eine Beschreibung der Vorstellung, sorry. Ich will aber nicht nur meckern, ich freue mich ja auch, dass es weitergeht. Vielleicht wäre es an der Zeit, mal wieder was von den anderen Freunden zu hören? Sarah z.B.?

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 23.09.2014, 18:31:12

Ou, Weihnachten&Co! :doh: Und ich hab verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht, dass sie sich stressfrei sehen können! :oops: Als Ausgleich einen etwas längeren Teil inklusive positiver Überraschung! Und danke für Kritik/Anregung. Werde versuchen, alles umzusetzen.

Anfang Februar erreichte uns, was wir schon längst als überstanden abgehakt hatten: eine Grippewelle. Es traf als erstes Rolf, unseren Koukol, und weil er bei der ganzen Show so gut wie nichts zu sagen hatte, fiel uns erst hinterher auf, wie heiser er war und wie blass. Er wurde sofort zum Arzt geschickt, aber durch die Vorstellung, die er trotz Erkrankung noch mit uns gespielt hatte, begannen die Viren fröhlich zu wandern. Als nächstes meldeten sich zwei Damen aus dem Ensemble krank, aber bei einer war es zum Glück nur eine harmlose Erkältung, die mit vielen Tabletten und Halsbonbons in Schach gehalten werden konnte. Rolf kehrte gesundet zurück und wir glaubten uns schon verschont, als es Felix erwischte. Er schaffte es noch, den ersten Akt zu singen, dann sprang sein Zweitcover ein – denn der erste Cover war ebenfalls bettlegerisch. Zwei Tage später erhielt ich am frühen Morgen einen Anruf: Sofia war krank, ich würde Sarah spielen. Ich betete, dass wenigstens das zweite Grafencover gesund war, als ich das Theater betrat. Ich hatte wirklich keine Lust, eine Woche oder mehr das Bett hüten zu müssen. Aber als ich vorsichtshalber auf das schwarze Brett schaute, durchfuhr mich ein jäher Schreck: Felix und beide Cover fielen aus! Aber ich hatte keinen Anruf bekommen, dass die heutige Show ausfallen würde. Das hieß, irgendjemand war als Ersatz gefunden worden. – Wer? Jemand aus dem Ensemble? Ein kurzfristig eingesprungener Darsteller? Ich zerbrach mir den Kopf darüber, während ich in meine Garderobe ging und mir schon mal die Haare zurücksteckte. Ich wüsste nicht, wer sich für die Rolle des Grafen eignen würde; vielleicht Alex, der eigentlich den Professor spielte? Dessen Cover war noch frei und könnte dann spielen. – Eines stand fest: für Fans, die extra wegen eines bestimmten Darstellers angereist waren, würde die Show vielleicht eine Enttäuschung werden!
Ich machte mich auf den Weg in die Maske und kam dabei an dem Raum vorbei, in dem der Graf immer zurecht gemacht wurde. Die Türe war geschlossen, aber von drinnen drangen dumpf Stimmen zu mir. Ich zögerte kurz, dann beschloss ich, dem geheimnisvollen Darsteller einen Besuch abzustatten. Irgendwann würde ich ja doch erfahren, wer es war, und inzwischen war ich richtig neugierig. Ich klopfte also an und öffnete die Türe.
„Hallo“, sagte ich, „ich wollte nur vorbeischauen, wer denn heute den Grafen vertritt.“
Der Darsteller sah mich an und erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es Marius war.
„Oh!“, sagte ich, freudig überrascht.
„Hallo, Anouk!“, begrüßte er mich lachend. „Ist die Überraschung gelungen?“
„Ziemlich“, stimmte ich zu, auch wenn ich bezweifelte, dass es wirklich eine Überraschung hatte sein sollen. Viel eher hatte man im Stress wohl vergessen, mich zu informieren.
Es stellte sich heraus, dass man in der Not alle infrage kommenden Darsteller angerufen hatte, bis sich Marius bereit erklärt hatte, wenigstens für diesen Abend bei den Vampiren zu spielen – und damit die Rolle wieder aufzunehmen, mit der er berühmt geworden war. Er kam direkt aus Hamburg, wo er eigentlich in der Tourproduktion von Miss Saigon gastierte. Wir hatten also wahnsinniges Glück.
Vor der Show hatten wir noch Zeit, ein bisschen zu reden, und während ich in der Maske saß, konnten wir nach langer Zeit mal wieder plaudern.
„Jetzt hast du also dein Ziel erreicht!“, stellte Marius fest.
„Na ja, fast“, erwiderte ich. „Aber mit dem Cover bin ich eigentlich ganz zufrieden.“ Ich grinste. „Jedenfalls kann ich mich nicht über Eintönigkeit beschweren.“
„Wer kann das in unserem Job schon?“, entgegnete er. „Und, hast du schon etwas anderes in Aussicht?“
Ich zuckte mit den Schultern und schloss die Augen, als Katie begann, mein Gesicht abzupudern. „Bisher noch nichts“, antwortete ich. „Ehrlich gesagt fühle ich mich hier ganz wohl. Aber soweit ich weiß, laufen Felix’ und Sofias Verträge nur bis Sommer. Zumindest bei Sofia bin ich mir ziemlich sicher, sie hat letztens noch erzählt, dass sie für Die drei Musketiere engagiert ist.“
„Ich verstehe. Du hast also das Krisengebiet schon mal genau ausspioniert, um nach der Belagerung direkt erobern zu können?“
„Ich würde es nicht so feindselig ausdrücken!“, protestierte ich. „Ich… will nur alles genau im Blick haben.“
„Jaja“, neckte er mich, bevor er wieder etwas ernster wurde. „Also, ich erinnere mich, dass du einmal von weiteren Traumrollen sprachst. Bald wird eine neue Elisabeth gesucht, wie wäre es damit?“
Ich sah ihn von der Seite an. „Hast du etwas gegen Tanz der Vampire oder klingt das nur für mich so, als wolltest du mich hier rausholen?“
„Ich fand auch, dass es irgendwie kritisch klang“, mischte Katie sich ein, während sie meine Lippen bemalte.
„Auf keinen Fall!“, wehrte Marius ab. „Ich denke nur… na ja, ich habe das Gefühl, für dich kämen größere Rollen infrage. Sarah ist nicht die größte aller Rollen, und dein Potential kommt mir manchmal etwas… verschenkt vor.“
Ich musste mit der Antwort warten, bis Katie fertig war, den Lippenstift so korrekt wie möglich aufzutragen.
„Dir ist schon bewusst, dass ich zweiundzwanzig bin?“, entgegnete ich dann. „Ich komme mir jetzt schon vor, als hätte ich alles erreicht, was ich je wollte. Warum sollte ich mich hetzen?“
„Ich will nur, dass du weißt, dass du Chancen auf eine große Karriere hast“, entgegnete er ruhig, „wenn du dein Talent nicht versteckst.“ Er grinste. „Und dass du weißt, dass ich einer deiner größten Fans bin!“
„Wie nett!“ Ich stand nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel auf. „Dafür darfst du dich jetzt auch mit mir einsingen!“
Gemeinsam verließen wir die Maske und verbrachten den Rest der Zeit, die wir für uns hatten, damit uns einzusingen. Es tat gut, nach längerer Zeit wieder mit Marius zu arbeiten, auch wenn wir dabei etwas über die Stränge schlugen: wir begannen mit Totale Finsternis, bastelten ein improvisiertes Duett aus The winner takes it all und landeten nach einer langen Debatte über die schönsten aller Duette bei Beneath a moonless sky.
„Genau das meinte ich“, sagte Marius, als wir geendet hatten und ich etwas außer Atem war. „Eine Rolle, die eine Nummer größer ist.“
„Christine ist aber nicht nur eine Nummer größer“, entgegnete ich, „sondern mindestens fünf. Außerdem spielt Love never dies momentan nicht in Deutschland.“
„Du könntest ein internationaler Star werden!“, rief er und warf theatralisch die Hände in die Luft, und ab da beschloss ich, ihn in dieser Beziehung nicht mehr Ernst zu nehmen. Ein Blick auf die Uhr riet uns außerdem, uns schleunigst auf unsere anstehende Show zu konzentrieren, denn es war bereits sieben Uhr.
Die Show war großartig. Zum ersten Mal spielte ich mit einem Darsteller, auf den ich in diesem Stück nicht eingespielt war, und gerade das verlieh der Sarah-Krolock-Beziehung einen ganz neuen Reiz: wir versuchten beide, uns auf die Ebene des Gegenübers zu versetzen, und verbunden mit unserem jeweiligen Rollencharakter wurde das Zusammenspiel richtig authentisch. Schon im ersten Akt bemerkte ich wieder einmal, warum ich so gerne mit Marius arbeitete: weil wir hinter der Bühne reden und lachen, aber auf der Bühne sofort stimmungsvoll agieren konnten.
„Jetzt kommt unser Lied!“, meinte er noch, bevor der Vorhang sich zum zweiten Mal hob, und Totale Finsternis hatte tatsächlich das Zeug zu einer persönlichen Freundschafts-Hymne: es war sehr leicht, sich auf Marius’ Spielweise einzulassen: während Felix einen größtenteils grausamen und gierigen Grafen spielte, legte Marius die Rolle etwas tiefgründiger aus – er war offenbar der Meinung, Krolock begehre Sarah nicht nur ihrer Schönheit und ihres Blutes wegen, sondern empfand tatsächlich so etwas wie Liebe. Beim Biss tat er allerdings, was ich inzwischen als Grafen-Krankheit abstempelte: er entsorgte sein Blutbeutelchen in meinem Ausschnitt. Ich bemerkte, dass ich mich daran gewöhnte. Trotzdem wies ich ihn nach der Show darauf hin. Er sah mich ein wenig ungläubig an.
„Bisher habe ich das immer so getan!“, meinte er.
„Das habe ich mir fast gedacht“, entgegnete ich, gar nicht verwundert. „Ich spucke meines immer auf den Boden.“
„Hoffentlich wischen sie nach jeder Show“, kommentierte er trocken. Nach der Show war ich wie immer zu aufgedreht, um schon nach Hause zu gehen und erkundigte mich vorsichtig, ob man schon genaueres über unsere Kranken wusste.
Wusste man: bei niemandem war Besserung in Sicht, und Marius erlaubte sich nach intensiver Rücksprache mit dem Team aus Hamburg einen weiteren, gräflichen Tag am morgigen Sonntag.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 24.09.2014, 22:19:29

Ein schöner Teil und ich hab mich gefreut, Marius wiederzusehen. Zwar wusste ich nicht, dass er mit Krolock berühmt geworden ist, aber das erklärt ja Anouks Schwärmereien für ihn! Ich bin gespannt, wie sich der nächte Tag entwickelt (falls nicht wieder einer deiner hoch beliebten Zeitsprünge kommt ;)). Lass uns nicht zu lange warten.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 27.09.2014, 15:49:56

Ich versuche, ab jetzt weniger Zeitsprünge zu machen - versprochen! ;)

Ein Tag, an dem wir zwei Shows spielten, war für mich meistens sehr anstrengend. Denn meistens war ich nach einer Show ziemlich kaputt: das Adrenalin forderte seinen Tribut, ich wurde müde und bekam Kopfschmerzen.
„Gute Show“, sagte Emmanuel im Vorbeigehen, als wir nach dem Applaus in unsere Garderoben verschwanden. „Übrigens haben wir demnächst Nacht der offenen Tür, kann ich dich für die offenen Proben am Nachmittag eintragen?“
„Klar“, antwortete ich, ohne mir große Gedanken darüber zu machen.
„Schön. Genaueres dann übermorgen.“ Er sagte das, als ob ich das schon wissen sollte. Wahrscheinlich hatte ich mal wieder nicht richtig aufs schwarze Brett geschaut. Ich beschloss, das auf nachher zu verschieben, und schlüpfte in der Garderobe in meine Joggingsachen. Auf dem Tisch standen ein Becher Kaffee und eine halb angebrochene Packung Kekse. Ich nahm den Zettel, der daneben lag und las: Weil du zwischen den Shows immer einen Durchhänger hast: selbst gekaufte Kekse und etwas zum Wachhalten. Marius. Ich musste lächeln. Man könnte sich glatt daran gewöhnen, mit einem so guten Freund wie Marius zusammenzuarbeiten. Morgen würde ich wieder mit Felix singen – oder einem seiner Cover, falls er noch nicht gesund war. Vielleicht würde ich aber auch wieder ein Vampir sein. Ich breitete die Sofadecke aus und machte es mir bequem, um wenigstens für eine Stunde ein bisschen Erholung zu bekommen.
Aber ich hatte gerade erst die Augen zu, als es an meine Türe klopfte.
„Ja?“, rief ich und versuchte, nicht genervt zu klingen – immerhin hatte ich ja nicht mal ansatzweise geschlafen.
„Anouk? Störe ich?“, erklang eine vertraute Stimme von der Tür. Ich setzte mich hastig auf.
„Öh – nein!“, erwiderte ich etwas perplex, denn da stand Sarah in meiner Garderobe, einen Backstage-Pass dabei. Ich kämpfte mich aus meiner Decke um sie zu umarmen.
„Wie kommst du hierhin?“, fragte ich.
„Ich hab morgen eine Audition“, antwortete sie. „Für Romeo und Julia.“
Ich nickte – Romeo und Julia würde im nächsten Jahr das Eröffnungsstück des neuen, bisher noch nicht ganz fertiggestellten Theaters irgendwo am Alexanderplatz sein.
„Und? Bist du ambitioniert genug, um für Julia vorzusingen?“
Sie grinste. „Aber klar! Mamma Mia war cool, aber jetzt… hab ich Lust auf was größeres.“
„Wer hat das nicht.“ Wir setzten uns auf mein Sofa.
„Und, wie läuft es mit Liam?“, fragte sie. „Dass er Phantom wird, hätte ich nie gedacht!“
„Es wär’ auch besser, er wäre es nicht“, rutschte es mir heraus. Sie sah mich betroffen an.
„Wie meinst du das denn?“
„Ach.“ Ich streckte meine Beine aus und starrte finster auf meine Füße, und dann konnte ich endlich meinen ganzen Frust abladen. „Wir haben uns schon ewig nicht mehr gesehen! Am Telefon wimmelt er mich ab – das heißt, es tut ihm immer sehr leid und es passiert nicht selten, dass wir unsere freien Zeiten immer knapp verpassen, aber… Ich würde mir gerne mehr Zeit für ihn nehmen. Ich weiß, ich weiß“, wehrte ich einen möglichen Einspruch ab, „wir sind Darsteller, darauf hätten wir uns einstellen müssen.“ Ich seufzte. „Ich habe nur Angst, dass wir uns auseinanderleben. Das… will ich auf keinen Fall.“ Ich bemerkte, dass ich diese Diskussion – oder besser, diesen Monolog – schon so oft besprochen hatte, dass es mich selbst nervte. Und es machte mir schlechte Laune. Sarah rieb mir über den Rücken.
„Soll ich mal mit ihm sprechen?“, bot sie sich an, aber ich wehrte sofort ab.
„Bloß nicht!“, rief ich. „Danke, aber ich glaube, das würde zu einem Streit führen. Er scheint immerhin nicht viel zu vermissen.“ Ich bemerkte, wie bitter das klang, und atmete tief durch.
„Okay, Zeit für ein anderes Thema. Wie lange hast du vor zu bleiben?“
„Morgen ist die Audition, bis Dienstag habe ich ein Zimmer gebucht. Wenn ich tatsächlich weiterkommen sollte, werde ich mich nach etwas anderen umsehen müssen.“
„Meine Türe steht dir jederzeit offen“, entgegnete ich. „Vorausgesetzt, du kannst dich mit meinem Kämmerchen zufrieden geben.“

Nach der Abendvorstellung verbrachte ich noch etwas Zeit mit Marius in der Stadt. Ich begleitete ihn bis zum Bahnhof, auch wenn ich am liebsten ins Bett gefallen wäre.
„Schau mal hier“, sagte er und reichte mir ein Musical-Magazin, als wir seine Zeit vor der Abfahrt im Zeitungsladen vertrödelten. „Ist das nicht dein Freund?“
„Das ist er“, murmelte ich und nahm die Zeitung entgegen. Das Magazin war seit einigen Tagen heraus, mit einem Artikel zum Castwechsel beim Phantom der Oper. Ich überflog die Textspalten, bis ich Liams Namen entdeckte. Die Kritik war durchwachsen: stimmlich top, altersmäßig der Hauptdarstellerin stark unterlegen, sorgte er allerdings für etwas Verwirrung. „Soll ich ihn von dir grüßen, falls er mir in Hamburg über den Weg läuft?“, fragte Marius scherzhaft.
„Da das in einer so großen Stadt sehr wahrscheinlich ist, kannst du das ruhig machen“, grinste ich zurück und lauschte auf eine Durchsage. „Wenn du deinen Zug nicht verpassen willst, solltest du schleunigst los!“
Wir sprinteten durch den Bahnhof, und Marius schaffte es, den haltenden Zug gerade noch zu erwischen.
„Das war ein tolles Wochenende!“, rief er mir noch zu, ehe die Türen sich schlossen. Ich wartete, bis der Zug abfuhr, dann verließ ich langsam und alleine den Bahnhof.
Als ich zu Hause ankam, war es schon spät, und mein Kopf hämmerte schmerzhaft. Es war höchste Zeit, etwas Schlaf abzubekommen! Etwas überrascht bemerkte ich das Kind, das vor der geöffneten Haustüre saß. Es war ein Mädchen, vielleicht zehn oder elf Jahre, mit niedlichen schwarzen Zöpfchen. Sie blätterte in einer Zeitung, die gar nicht wie eine Mädchenzeitschrift aussah (keine rosa Pferdchen, keine Bibi Blocksberg, nicht mal ein bisschen rosa oder hellblau), und summte dabei leise vor sich hin. Offenbar gehörte sie zu der Familie, die noch um diese Zeit damit beschäftigt war, ihre Möbel in die neu gemietete Wohnung mir gegenüber zu räumen. Auf dem Weg nach oben begegnete mir eine Frau, vermutlich die Mutter, und zwei Jungs zwischen fünf und fünfzehn. Ich schloss meine Türe auf und betete inständig, dass sie nicht auf die Idee kamen, noch irgendwelche Billy-Regale zusammen zu schrauben. Doch als ich im Bett lag, blieb alles ruhig, und ich widmete mich zufrieden meinem – wie ich fand – wohlverdientem Schlaf.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 27.09.2014, 22:11:44

Juhu, ein neuer teil! Ich bin gespannt, wie sich die Situation zwischen anouk und Liam weiterentwickelt. Mal sehen, welche Bedeutung der neuen nachbarsfamilie noch bekommen wird. Schön, dass Sarah wieder auftaucht. Bitte bald weiter!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 28.09.2014, 13:18:21

So, ich habe ein bisschen vorgeschrieben, daher kommen jetzt wieder regelmäßiger neue Teile :)

Ich träumte, ich stünde auf einer großen leeren Bühne. Im Publikum saßen tausende Leute, und ich hatte meinen Text vergessen. Ich wusste nicht mal, in welchem Stück ich spielte.
„Die Arie!“, rief Marius mir aus dem Off zu. „Schöpfe dein Potenzial aus! Sing die Arie!“
Welche Arie? Ich schaute verwirrt zur anderen Seite, und da stand Sarah in einem seltsamen Kleid und mit blonder, schlecht sitzender Perücke. Ich lachte auf.
„Was machst du denn hier?“, fragte ich ungläubig, da hob sie eine Pistole aus dem Nichts und zielte auf mich. „Sing jetzt die verdammte Arie!“, schrie sie.
„Aber welche Arie?“, schrie ich wütend zurück – wollten mich denn alle auf den Arm nehmen? Allerdings… die Pistole sah schon ziemlich echt aus, und Sarah sehr, sehr böse.
Da schlossen sich zwei Hände um meine Arme, und als ich mich umwandte, sah ich Liam im Kostüm des Phantoms.
„Die Maske steht dir!“, sagte ich, aber er trat zurück, warf theatralisch die Arme zurück und rief: „Sing, mein Engel der Muse! Sing für mich!“
Ich sah verwirrt an mir hinab und bemerkte, dass ich ein schickes blaues Abendkleid trug, und da hörte ich auch die Melodie, die das Orchester spielte. Ich schlug mir gegen die Stirn. „Love never dies, natürlich!“ Ich begann erleichtert zu singen und schloss die Augen, aber an der höchsten Stelle brach meine Stimme weg. Peinlich berührt sah ich auf.
„Das macht doch nichts, Anouk!“, sagte Mrs. Paige, und plötzlich stand in der Aula meiner alten Schule und die Besucher des Tages der offenen Tür starrten begeistert zu mir hoch. „Wir spulen einfach noch mal zurück.“ Sie drehte sich zu mir um. „Ach, Anouk! Haben Sie schon wieder vergessen, die Kostüme zurückzugeben?“
„Hä?“, sagte ich und hob einen Arm. Ich trug immer noch das Abendkleid. Da läutete die Schulglocke, und noch mal… noch mal… Ich öffnete schlaftrunken die Augen. Es läutete immer noch, und mir wurde klar, dass jemand an der Türe klingelte. Müde warf ich einen Blick auf die Uhr – für einen spielfreien Tag war halb acht viel zu früh! Trotzdem stand ich auf und öffnete die Haustür einen Spalt breit. Niemand da.
„Hallo!“, erklang es fröhlich von unten, und als ich den Blick senkte, sah ich das kleine Mädchen von gestern Abend. Es hielt immer noch eine Zeitung in der Hand.
„Bist du das hier?“, fragte es und hielt mir eine aufgeschlagene Doppelseite entgegen. Es handelte sich um ein gestelltes Pressefoto für Rebecca mit Marius, Muriel und mir. Die Seite hatte an den Rändern unzählige Risse und Eselsohren.
„Ja, ich bin die linke“, antwortete ich mit rauer Stimme. „Warum?“
„Dann bist du Anouk Steger!“
„Korrekt.“ Ich verkniff mir ein Gähnen. „Es tut mir leid, aber ich bin wirklich furchtbar müde!“, sagte ich dann. „Wie wär’s, wenn du später noch mal vorbeischaust, dann… können wir reden oder… was auch immer du willst.“ Ich musterte sie. „Hast du heut keine Schule?“
„Hab frei“, entgegnete sie. Damit drehte sie sich um und verschwand im Treppenhaus. Ich tapste zurück ins Bett, verwirrt und k.o., und es dauerte nicht lange, bis ich wieder schlief.

Bei meinem Frühstück, das eigentlich schon als Mittagessen durchgehen konnte, dachte ich genauer über meinen schrägen Traum nach. Die genaue Aussage meines Unterbewusstseins konnte ich allerdings nicht entschlüsseln. Dann fiel mir das Mädchen wieder ein. Ich fragte mich, ob sie tatsächlich schulfrei hatte oder einfach schwänzte. Je länger ich über meinen morgendlichen Besuch nachdachte, desto mehr nahm das Gefühl zu, dass mir irgendetwas bevorstand. Um mich davon abzulenken, arbeitete ich nach dem Essen ein wenig an meiner Stimme – der Traum hatte mich dazu inspiriert, mal wieder Love never dies zu singen, und zum Glück konnte ich es diesmal flüssig durchsingen. Ich sang, bis mein Handy losbimmelte. Es war Sarah, die mir von ihrer Audition erzählen wollte.
„Ich glaube, es war ganz… okay“, berichtete sie. „Es waren unglaublich viele da, weißt du, wen ich getroffen habe?“ Sie wartete gar nicht auf eine Antwort; offenbar war sie immer noch aufgeregt. „Aubrey! Wir haben uns unterhalten und gesagt, wie seltsam es ist dass wir jetzt Konkurrentinnen sind! Ich habe ihr ein bisschen von dir erzählt, schöne Grüße übrigens, sie kann sich die Show leider nicht ansehen.“ Sie holte tief Luft und ich nutzte die Atempause, um auch mal zu Wort zu kommen.
„Was hast du gesungen?“, fragte ich.
Erinnerung aus Cats. – Ich weiß, ich weiß, man sollte nicht so berühmte Stücke singen, aber ich dachte, wenn sich jeder daran hält außer mir, ist das doch wiederum gut. Oder?“
„Klingt logisch“, gab ich zu. „Ich will dir auch keine Angst machen. Wann wird Bescheid gegeben?“
„Schon morgen!“, antwortete sie, nervös und begeistert. „Sie wollen das anscheinend schnell geklärt haben. Ich bin so aufgeregt! – Du, ich muss Schluss machen, ja? Ich rufe dich morgen an. Wünsch mir Glück!“
„Ich drücke alle Daumen!“, versprach ich, ehe wir uns verabschiedeten. Dann griff ich nach meinem Glas und ging in den Flur, um mir etwas zu trinken zu holen. Als ich vor dem Kühlschrank kniete, hatte ich plötzlich das Gefühl, das jemand vor der Haustüre stand. Ich blieb ganz ruhig sitzen und lauschte angestrengt; unter dem schmalen Türspalt fiel ein dumpfer Schatten auf den Boden. Nach einem kurzen Moment angespannter Stille erklangen Schritte, die sich eilig entfernten. Ich sprang auf und riss meine Haustüre auf, gerade, als sich die Wohnungstür mir gegenüber schloss. Kurz entschlossen eilte ich über den Flur, aber mein Finger verharrte über der Klingel. Was, wenn es wieder nur das kleine Mädchen gewesen sein sollte? Wenn es mir irgendeinen Streich spielte? Zweifelnd blieb ich stehen und warf einen Blick auf das Türschild. Familie Savari. Einige Sekunden lang blieb ich noch stehen, dann drehte ich um und ging langsam wieder in meine Wohnung zurück. Das ganze bereitete mir Kopfzerbrechen, aber noch längst keine Angst. Ich verbrachte den Rest des Tages lesend und Musik hörend, immer wieder aufhorchend. Aber nichts geschah.

Noch zwei weitere Male sprang ich als Cover ein, dann regenerierten sich unsere Hauptdarsteller, und ich nahm wieder meinen Platz im Ensemble ein. Inzwischen gingen die Kopfschmerzen, die ich am Sonntag eigentlich als Erschöpfung eingestuft hatte, gar nicht mehr richtig weg. Und als ich am Freitag aufwachte, begann auch mein Hals unangenehm zu kratzen. Ich kochte mir einen Tee, aber es half kaum.
„Ich werde krank!“, jammerte ich Sarah am Telefon vor, die mich informierte, dass sie auch die zweite Audition-Runde überstanden hatte.
„Bleib doch im Bett!“, schlug sie vor. „Wenigstens für einen Tag.“
„Nicht, solange ich nicht heiser werde“, protestierte ich. Dazu war ich viel zu gerne im Theater. Aber als ich dort ankam, hatte sich auch das erledigt: nach der Kälte draußen klang meine Stimme abscheulich.
„Anouk, du siehst scheußlich aus!“, informierte mich Felix, kaum dass ich eingetreten war, und wich einige Meter zurück. „Ich bin gerade gesund – halte bloß Abstand!“
„Übertreib nicht so“, murmelte ich.
„Du hörst dich auch schrecklich an!“, warf jemand anderes an. Ich gab es auf und sagte Bescheid, dass ich wieder nach Hause gehen würde. Unterwegs kam ich an einer Apotheke vorbei und kaufte, was die Apothekerin beinahe als Wundermittel anpries.
Als ich verschnupft und schon wieder total kaputt den Hausflur betrat, hatte ich eigentlich vor, sofort ins Bett zu kriechen. Aber schon auf der ersten Treppenstufe hielt ich inne: aus dem Keller kam Musik. Nein, nicht Musik: jemand sang. Und das, was bei mir ankam, klang richtig gut – es war Love never dies! Ich wurde neugierig und beschloss, wenigstens einen Blick zu riskieren. So leise ich konnte, schlich ich die Stufen hinab und folgte der Stimme. Sie kam aus dem Partykeller, der so gut wie nie genutzt und dementsprechend kalt und staubig war. Die Türe war nur angelehnt. Ich lauschte eine Weile, dann war ich entschlossen, herauszufinden, um wen es sich da handelte. Vorsichtig drückte ich die Türe auf.
Aus der Musikbox rechts neben der Theke erklang, in einer reichlich schlechten Qualität, die Instrumentalversion der Arie. Daneben stand, mir halb abgewandt, ein Mädchen oder eher eine junge Frau. Sie sang mit geschlossenen Augen und schien völlig vertieft. Ich lächelte, weil der Anblick mich irgendwie an mich selbst erinnerte, und lehnte mich gegen den Türrahmen. Es musste sich um ein Familienmitglied der Familie Savari handeln, denn ich kannte das Mädchen nicht. Plötzlich begann meine Nase zu kribbeln. Ich wandte mich ab um zu niesen, dabei schlug meine Tasche gegen den Türrahmen, und kurz darauf stoppte die Musik ganz. Peinlich berührt drehte ich mich um.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 28.09.2014, 16:38:15

Juhu, es geht schon weiter! Ich hatte mir fast gedacht, dass das kleine Mädchen ein Musicalmagazin in den Händen hält. Ich bin gespannt, was die neuen Nachbarn noch so zu bieten haben und wer da gesungen hat! Hoffentlich wird Anouk nicht zu krank! Bitte bald weiter - Uuuund: Was ist denn jetzt mit Liam??
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 29.09.2014, 19:51:22

Gaefa hat geschrieben: Uuuund: Was ist denn jetzt mit Liam??

Voliá :)

Wir starrten uns eine Weile lang schweigend an. Ihr war mein Erscheinen offenbar noch peinlicher, denn sie lief dunkelrot an, sagte aber nichts.
„Tut mir leid“, meldete ich mich schließlich zu Wort. „Ich… wollte dich nicht belauschen. Ich habe dich singen gehört und fand es ziemlich gut. Da wollte ich nachsehen, mit wem ich die Ehre habe.“
Ihre Augen weiteten sich. „Sie fanden es gut?“, wiederholte sie. Ich hob eine Braue.
„Mehr als gut!“
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie starrte verlegen auf ihre Finger. „Danke.“
Ich wartete ab, aber sie sah nicht wieder auf, also ergriff ich abermals das Wort. „Ich gehe wohl besser nach oben“, sagte ich und drehte mich um. Als ich in der Mitte des Flurs war, rief sie mir etwas hinterher. „Sie spielen heute gar nicht?“
Ich wies auf meinen Hals. „Nein. Ich bin erkältet.“
Sie nickte, dann schien ihr etwas einzufallen. „Falls meine Schwester sie neulich gestört hat, tut mir das sehr leid“, sagte sie. „Ich habe ihr gesagt, sie soll nicht bei Ihnen klingeln, aber natürlich tut sie nie, was man ihr sagt.“
„Macht doch nichts.“ Ich sah meine Chance kommen, das ganze aufzuklären. „Was war denn der Zweck ihres Besuches?“
„Ach“, sie senkte wieder den Blick, „sie weiß, dass ich… na ja, dass ich Sie ganz toll finde. Als Sängerin. Ich war mir nicht sicher, ob Sie tatsächlich meine Nachbarin sind, ich meine, jeder kann Steger heißen…“
Mir fiel nichts darauf ein. Mein Kopf brummte und ich hatte immer mehr das Bedürfnis, endlich zu liegen.
„Na dann“, sagte ich schließlich. „Sind wir wohl tatsächlich Nachbarn.“
„Ja.“ Sie lächelte erleichtert.
„Ich muss jetzt wirklich los“, sagte ich abermals und hob zum Abschied die Hand. „Hoffentlich höre ich demnächst noch mal was von dir!“
Sie gab keine Antwort.

Jemand machte sich in meiner Küche zu schaffen. Ich lauschte meinem rasenden Herzen, während ich die Finger in die Bettdecke krallte. Mir war furchtbar heiß, aber ich wagte es nicht, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Denn da war jemand in meiner Küche!
Ich hatte kein Fieber und ich war definitiv wach. Bis auf das Klappern von Tellern war alles still. Ich suchte mit den Augen meinen Nachttisch ab, aber ich fand keine potenzielle Waffe. Nicht mal mein Handy war in Reichweite. Ich atmete tief ein, dann kroch ich in Zeitlupe aus dem Bett, um kein Geräusch zu machen. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer griff ich nach einer leeren Glasflasche und hielt den Flaschenhals fest umklammert. Derartig ausgerüstet, betrat ich den Flur, genau in dem Moment, in dem eine Gestalt aus der Küche kam.
Ich kreischte vor Schreck laut auf und ließ die Flasche fallen; sie zersprang in lauter Scherben, die über den Boden spritzten. Fassungslos starrte ich Liam an, der ebenso erschrocken war wie ich.
„Wie… was… Was machst du hier?“, fragte ich verschnupft und immer noch heiser.
„Frühstück“, erwiderte er.
Ich sah ihn entgeistert an. „Das sehe ich auch. – Aber wie kommst du hier rein?“
„Du hast mir einen Zweitschlüssel gegeben“, antwortete er geduldig. „Erinnerst du dich?“
Ich kratzte mich am Kopf. „Oh je, stimmt! – Aber du hättest wenigstens Bescheid sagen können!“
„Ich wollte dich überraschen“, erklärte er. „Ich saß im Theater, ganz vorne. Aber du warst nicht da.“ Er klang ein wenig enttäuscht. „Dann dachte ich, ich kann einfach vorbei kommen. Ich habe bis einschließlich Montag freigenommen.“
Ich wusste immer noch nicht, was ich davon halten sollte, dass er einfach so auftauchte. Natürlich war der Zweitschlüssel genau dafür da gewesen; trotzdem hatte er mich zu Tode erschreckt. Aber nach dem ersten Schock erlaubte ich ihm eine Umarmung – wenn er sich nicht anstecken wollte, war das das Maximum.
„Du kommst reichlich ungelegen!“, meinte ich, als wir es uns auf dem Sofa gemütlich machten. „Jetzt bist du endlich mal da, und wir dürfen uns nicht mal zu nahe kommen!“
„Es reicht mir schon, hier zu sein“, erwiderte er treuherzig und legte einen Arm um mich, und das fand ich so süß von ihm, dass ich ihm doch einen Kuss gab. Aber nur einen winzigen.
Wir unterhielten uns lange und ausgiebig über unsere Engagements. Ich erzählte ihm begeistert von meinen Auftritten mit Marius, und er lachte darüber, dass ich mich immer noch als Fan outete. Dann berichtete er ein wenig – oder eher, sehr viel – über seine Arbeit beim Phantom.
„In der Maske dauert es ewig!“, sagte er. „Und mir wird ganz schön warm – ich trage immerhin zwei Perücken und die Maske! Übrigens ist letztens der Kronleuchter nicht runtergekommen.“
„Oh nein!“
„Oh doch! Ich habe versucht, irgendwie zu improvisieren – ich war selber so erschrocken, dass ich einen totalen Blackout hatte!“
„Was hast du gemacht?“
„Ich habe einfach noch mal gerufen: Christine!, und die Leute vom Licht haben schnell einige Effekte auf die Bühne gezaubert. Für die Zuschauer war es natürlich trotzdem nicht dasselbe.“
„Na ja, das ist nicht so peinlich wie das, was mir passiert ist“, entgegnete ich. „Du weißt schon – als ich auf der Treppe gestolpert bin.“
„Wenigstens bist du nicht ganz gefallen!“, lachte er. „Ich glaube, wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich gelacht.“
„Ich glaube nicht“, konterte ich trocken.
„Wieso?“
„Weil ich mich dann getrennt hätte!“
Er schloss die Arme fester um mich. „Okay. Ich korrigiere: ich hätte dich aufgefangen und wäre ganz ernst geblieben.“
Ich lächelte. „Schon besser.“
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 30.09.2014, 10:42:41

Mh.. iwie ist mir das fast zu schön um wahr zu sein, dass er da einfach auftaucht und alles in Ordnung ist? Aber ich würde es den beiden gönnen! Ich bin wie immer gespannt, wie es weitergeht :)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 02.10.2014, 20:57:59

Danke für den Kommentar :) Weiter geht's:

Liam blieb bis Sonntagabend. Ich brachte ihn wie gewohnt bis zum Bahnhof und hatte die ganze Zeit mit den Tränen zu kämpfen, während wir auf den Zug warteten. Ich wollte ihm nicht zeigen, wie schwer mir der Abschied fiel, aber als der Zug abfuhr, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich ging nach Hause, etwas ernüchtert, denn die letzten Tage mit Liam waren so schön gewesen, dass ich jetzt nichts mit mir anzufangen wusste. Langsam schloss ich meine Haustüre auf und trottete in den Flur. Als ich den Briefkasten leerte, in dem nichts als Werbung und Prospekte waren, nahm ich mit einem leisen Lächeln den Gesang auf, der aus dem Keller kam – schon wieder. Ich stopfte die Kataloge in meine Tasche und stieg die Treppe hinunter, diesmal extra laut, um das Mädchen nicht zu erschrecken. Als ich in der Tür zum Partykeller erschien, lehnte sie wartend am Tresen und sah mir zögerlich entgegen.
„Verrätst du mir, weshalb du hier unten singst?“, wagte ich zu fragen. „Die Luft hier unten ist nicht das beste für deine Stimmbänder.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß. Aber etwas besseres… kann ich mir nicht leisten.“ Sie blickte auf ihre Schuhe. „Ich darf’s auch nicht.“
Ich ließ mich auf die Bank gleiten, die neben der Türe stand, und sah ihr entgegen. „Du darfst nicht singen?“, wiederholte ich. Diesmal schwieg sie länger, und ich fürchtete schon, sie beleidigt oder verunsichert zu haben. Dann kam sie langsam näher, zog den Stuhl neben mir zurück und setzte sich ebenfalls.
„Meine Eltern“, erklärte sie langsam. „Vor allem mein Vater. Wir haben nicht so viel Geld, und es gibt noch meine Geschwister… Mein Vater sagt, ich soll etwas anständiges lernen. Studieren. Alle sind stolz, dass ich das Abitur schaffe, die erste in der Familie. Dabei will ich nur singen.“
„Aber er will davon nichts hören“, schloss ich. Sie nickte. „Und deine Mutter?“
„Ach… Ich weiß gar nicht, auf welcher Seite sie ist. Ich glaube, sie würde mich gerne unterstützen, aber sie weiß, dass wir uns etwas professionelleres nicht leisten können. Ich weiß es ja auch.“ Sie seufzte. „Trotzdem übe ich, so oft es geht. Heimlich. Damit sie sich keine Sorgen machen, ich könnte wieder diese Ideen haben, wie sie es nennen.“
Ich starrte sie an, mit klopfendem Herzen. Denn ich sah mich. Mich selbst, ebenso unsicher, ebenso hoffnungslos, ebenso leidenschaftlich. Und ich sah Bertelin.
Der mich aufgenommen hatte, ohne irgendetwas zu verlangen. Der mein Potenzial erkannte. Der mir helfen wollte.
Konnte es sein, dass es nun an mir war, zu helfen? Dass ich ihr Potenzial fördern könnte? Ich warf einen Blick auf das aufgeschlagene Libretto (Cats) vor mir. Ihr Name stand oben links in die Ecke geschrieben. Linda Savari. Ich legte die Hände auf den Tisch und stemmte mich hoch.
„Also, Linda“, sagte ich, „ich glaube, es wartet noch einiges an Arbeit für mich… Und ein paar Medikamente, die genommen werden wollte.“ Ich lächelte ihr matt zu, während ich meine Sachen zusammenraffte. „Ich wünsche dir viel Erfolg. Und ich werde dich nicht verraten“, kam ich ihrem besorgten Blick zuvor. Sie sah mich erleichtert an, erleichtert und dankbar.
Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ein wenig Enttäuschung dabei war.

Sarah kam zu Besuch, und ich gab eine private Backstage-Führung, um ihr das Warten auf den Ausgang der Auditions zu verkürzen. Wir stiegen gemeinsam auf das Dach des Wirtshauses, wo der Dachgraf seinen Auftritt hatte, und ich machte ihr vor, wie ich auf der Treppe gestolpert war. Sie setzte sich in Sarahs Badewanne und zerkaute einen Blutbeutel.
Anschließend setzten wir uns in Reihe sieben und sahen auf die verlassene Bühne. Ich erzählte ihr von Liams Besuch und von Linda. Von meinen Gedanken.
„Ich finde, du solltest ihr helfen!“, reagierte sie spontan. „Es muss ja nicht jeden Tag sein.“
„Dazu hätte ich auch gar keine Zeit.“
„Du sagst, ihre Eltern arbeiten immer lange?“
„Zumindest kommen sie ziemlich spät abends nach Hause“, bestätigte ich.
„Hm.“ Sie dachte kurz nach. „Montags sind keine Vorstellungen, richtig? Das wäre doch perfekt – nach der Schule kannst du ihr eine Stunde geben.“
Ich war skeptisch. „Meinst du? Ich meine – ich weiß gar nicht, ob ich entsprechende… Lehrerqualitäten habe.“
„Als ob du die brauchst“, entgegnete sie. „Ich denke, du kannst ihr das bieten, das ihr fehlt. Du hast sogar Verbindungen zur entsprechenden Branche! Wenn sie so gut ist, wie du sagst, dann solltest du ihr eine Chance geben!“
„Sie ist besser“, erwiderte ich. „Es ist, als… hätte sie schon unzählige Stunden gehabt! Klar gibt es einige Fehler, und ihre Haltung müsste dringend verbessert werden, dann könnten die Töne noch kräftiger werden… Sie sollte gleichzeitig an ihrer Stütze arbeiten, manchmal scheint sie auch etwas außer Atem… Mrs. Paige hat immer so eine nette Übung mit mir gemacht, die hat mir sehr geholfen, die höheren Töne zu treffen…“
„Siehst du“, lächelte Sarah. „du hast tausende Ideen. Nutz dein Potenzial, um ihres zu nutzen!“
Das war, zugegeben, sehr poetisch gesagt, aber es war wahr.

Ich wusste nicht, warum, aber ich zweifelte immer noch an mir. Vielleicht war es auch eher die Angst, dass Lindas Familie mir Probleme bereiten könnte. Immerhin hatten sie ihr das Singen verboten. Andererseits hatte sie ein Recht darauf, ihre Interessen auszuleben, solange sie nicht illegal waren. Ich dachte nach und dachte nach, und dann holte ich mir Hilfe.
Ich rief Bertelin an.
Ich erreichte ihn nach einigem Ausprobieren verschiedener Nummern über meine alte Musikschule.
„Ja?“, maulte er ins Telefon, „Bertelin hier?“ Ich musste grinsen.
„Anouk Steger!“, motzte ich zurück. „Kann ich Sie sprechen?“
„Oh, Anouk.“ Er klang etwas besänftigter. „Was gibt’s? Engagieren sie mich endlich als Vocal Coach oder wie das heute heißt?“
„Eigentlich werde ich bald einer“, antwortete ich. „Na ja, so was ähnliches.“ Ich schilderte ihm rasch die Situation. Das war gar nicht so leicht, denn zwischendrin redete er plötzlich immer mal mit jemand anderem und wanderte durch irgendwelche Gänge, wodurch ich seine eingeworfenen Kommentare wie „tja“, „so ist das halt“ und „falsche Bildung an falschen Stellen!“ noch schlechter verstehen konnte.
„Und jetzt willst du ihr Singen beibringen?“
„Genaugenommen will ich ihr die nötigen Techniken beibringen.“ Ich konnte es nicht lassen, ein wenig besserwisserisch zu sein.
„Und was hat sie dann davon?“
„Bessere Chancen?“
„Und wie soll sie die nutzen, wenn ihre Familie ihr im Weg steht?“
„Herrgott, sie ist alt genug!“, rief ich. „Sie wird wohl einsehen, was sie bewirken kann und einfach machen, was sie-“ Ich brach ab, denn Bertelin brach in schallendes Gelächter aus.
„Eben erzählst du mir noch, dass sie dich an dich selbst erinnert“, sagte er, „und jetzt glaubst du, sie wird bei Gelegenheit einfach machen? Ich dachte gerade du weißt, was Zweifel von Seiten der Familie bewirken können.“
Ich schwieg.
„Anouk, ich kann dich verstehen“, wand er dann aber ein. „Wenn du glaubst, das richtige zu tun, warum nicht? Aber denk dran: wenn sie einmal deine Schülerin ist, dann ist sie deine Schülerin ohne Wenn und Aber.“
„Das weiß ich.“
„Ich will dich nur dran erinnern, falls du irgendwann in Zeitdruck gerätst.“
„Das werde ich nicht, keine Sorge.“
Blieb nur zu hoffen, dass die Familie Savari mir wohlgesonnen blieb, falls die heimlichen Stunden auffliegen sollten!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 03.10.2014, 10:27:31

Ich find es schön, dass sich Anouk dazu entschließt, Linda zu helfen! Ich bin schon sehr gespannt auf ihre Stunden !
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 06.10.2014, 17:22:01

Weiter gehts :)

Ich sah mir die Lieder an, die Linda für unsere Stunden herausgesucht hatte: ich hatte sie gebeten, die Songs auszusuchen, mit denen sie Schwierigkeiten hatte. Neben Love never dies und Wishing you were somehow here again hatte sie sich für In my life aus Les Misérables entschieden. Ich drehte mich zu ihr um, die Blätter in den Händen. Es war unsere erste Stunde, und wir waren beide aufgeregt.
„Womit hast du am meisten Probleme?“
Sie zögerte nicht mit der Antwort. „Ich komme ganz gut durch die Songs, nur die höchsten Töne strengen mich sehr an.“
Ich dachte kurz nach. „Inwiefern?“, fragte ich dann.
„Ich habe immer das Gefühl, mein Hals ist dafür zu eng“, antwortete sie, wieder ohne nachzudenken. „Ich konzentriere mich so stark, wie ich will: wenn meine Stimme nicht kurz vorher versagt, dann bekomme ich Halsschmerzen.“
„Okay.“ Ich hatte eine Idee. „Kannst du Wishing you were somehow here again singen?“
“Jetzt?”
Ich nickte. Sie räusperte sich und wurde sichtlich nervös. Weil sie nicht wusste, wohin mit den Händen, nahm sie eine Flasche Wasser in die Hände, an der sie sich festhielt.
Während sie sang, machte ich mir Notizen. Am Ende des Liedes verstand ich, was sie meinte: ihre ohnehin sehr filigrane Stimme schmälerte die hohen Töne und ließ sie gequetscht und gedrückt klingen.
„Okay, danke“, sagte ich und warf einen Blick auf meine Notizen. „Das war gar nicht schlecht. Wenn wir an den Sachen arbeiten, die noch nicht klappen, dann wird das auch noch. Also, als erstes habe ich hier stehen: Haltung!!!“ Ich stand auf und ging zu ihr hinüber. Sie war ein Stück größer als ich und schien sich ihrer Höhe nicht nur bewusst zu sein, sondern sich ihrer auch zu schämen. „Wenn du auf der Bühne stehst, ist es gar nicht verkehrt, größer zu sein als andere“, versuchte ich ihr die unausgesprochenen Zweifel zu nehmen. „Außerdem ist eine aufrechte Haltung beim Singen wichtig.“ Ich zog sie an den Schultern hoch und hob ihr Kinn an. „Warum? – Damit deine Stütze richtig funktioniert.“ Ich trat einige Schritte zurück und musterte sie. „Schon besser.“ Ich dachte kurz nach, dann nickte ich mir zu. „Ich kann dir leider etwas Theorie nicht ersparen“, sagte ich dann.
„Macht nichts“, erwiderte sie rasch, und ich musste lächeln.
„Okay. Ein bisschen Infos zur Stütze: die Stütze bedeutet nichts weiter als eine gesteuerte Atemtechnik. Wenn du den Körper locker lässt und einen Ton singst, kommst du schneller außer Atem. Mit der Stütze kannst du deinen Atem bewusster einsetzen und damit auch die Töne lenken.“ Ich wartete kurz, bis sie sich einige Stichpunkte aufgeschrieben hatte, ehe ich weitermachte. „Bei der Stütze arbeiten mehrere Muskelgruppen zusammen: Bauch-, Brust- und Rückenmuskulatur. – Atme einmal ein, und zwar tief in den Bauch.“
Sie machte, was ich ihr sagte.
„Spürst du den Atem?“
Sie nickte angestrengt, und ich beeilte mich, fortzufahren.
„Gut. Auf deinem Rücken sind ebenfalls Muskeln, und wichtig sind die ungefähr hinter deinem Magen.“ Ich ging um sie herum und drückte kurz auf die entsprechende Stelle. Wenn du Atem geholt hast, und zwar in den Bauch, spannst du sofort Bauch- und Rückenmuskeln an. In der Regel spannen sich dabei die Brustmuskeln automatisch an.“ Ich ließ es sie ein paar Mal ausprobieren. „Es ist eine Sache der Übung und Körperbeherrschung. Ich habe selbst lange dafür gebraucht, die Stütze hinzubekommen – und dadurch ein korrektes Vibrato!“ Ich legte eine CD in den Player und schaltete ihn an. „Ich möchte, dass du jetzt einfach das Lied mitsingst, das läuft. – Kennst du What I did for love?
Sie nickte.
„Sehr gut. Das hier wird von Linda Eder gesungen, deiner Namenskollegin. Am besten hörst du es dir einmal an, sie hat ein sehr starkes Vibrato. Beim zweiten Mal singst du mit uns versuchst dabei nicht, die Töne zu treffen, sondern an deiner Stütze und deinem Vibrato zu arbeiten.“ Ich schaltete das Lied an und gab Linda den Text zur Hilfe. Ich schwelgte dabei insgeheim in Erinnerungen an meine Abschlussfeier. Aber anschließend hieß es wieder, mich auf unseren Unterricht zu konzentrieren. Ich ließ Linda mitsingen und hörte genau auf ihre Stimme. Sie traf tatsächlich ziemlich oft daneben, was die Töne anging, aber ich hatte sie ja angewiesen, sich darum keine Gedanken zu machen. Tatsächlich gelang es ihr, im zweiten Teil des Liedes einen wunderbar vollen Vibrato und eine sicherere Stimmführung hinzubekommen, und das überraschte sie selber so, dass sie aufhörte zu singen.
„Weiter, weiter!“, rief ich, ebenso begeistert wie sie. Sie sang wieder mit, und es klappte überraschend gut. Sie war selber ganz glücklich über ihre neue Fähigkeit. Und ich war so stolz auf sie und mich, dass ich ihr den Wunsch gewährte, gemeinsam ein Lied zu singen. Wir entschieden uns für Ein neues Leben, und ich bemerkte zufrieden dass ihre Stimme schon viel kräftiger klang.
Als ich mich verabschiedete, war ich ebenfalls ein wenig enttäuscht, dass wir beide nicht mehr Zeit hatten.

Die Nacht der offenen Tür stand bevor, und ich verbrachte mehr Zeit als gewöhnlich im Theater: Emmanuel hatte einiges an Ideen, und eine davon sagte mir besonders zu: er hatte vor, einen Workshop für Musicalnachwuchs zu organisieren. Ich überredete ihn kurzerhand, sich nicht nur auf Auszubildende zu beschränken, sondern auch Mädchen und Jungen zu nehmen, die noch nicht auf einer Schule angenommen waren. Mein reges Interesse für das Projekt war ihm zunächst suspekt, bis ich ihm beichtete, dass ich unentgeltlich Gesangsstunden gab. Da lachte er.
„Anouk, das hätte ich nicht von dir gedacht“, sagte er. „Als Lehrerin kann ich mich dir gar nicht vorstellen!“ So etwas ähnliches hatte Sarah doch auch gesagt?
„Es ist einfacher, als ich dachte“, erwiderte ich. Emmanuel dachte kurz nach.
„Also gut. Aber bei deiner Schülerin gelten dieselben Anmeldefristen wie bei den anderen: wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“
„Klar“, entgegnete ich und schickte Linda eine Nachricht mit dem Link zu der Seite, auf der sie sich anmelden konnte.
Johanna, ein Ensemblemitglied, und ich wurden schließlich dazu auserkoren, den Nachwuchsworkshop zu leiten, und setzten uns gleich zusammen.
„Ich finde, wir sollten eine große Choreographie erarbeiten“, schlug sie vor, „und am Ende der Veranstaltung führen wir die mit dem Nachwuchs und unserem ganzen Ensemble vor – das wird super eindrucksvoll!“
„Da kommen ja nur Ewigkeit oder das Finale infrage!“, erwiderte ich.
„Ich glaube, Ewigkeit ist um einiges leichter!“, lachte sie.
„Aber das Finale stimmgewaltiger.“
„Stimmt.“ Sie dachte kurz nach. „Ich bin trotzdem für Ewigkeit. Aber vielleicht können wir mit den vier besten noch Krolock, Alfred, Sarah und Magda einüben?“
„Das wäre cool. Aber dann müssen wir schauen, dass die anderen nicht benachteiligt sind! – Wie wäre es, wenn wir den anderen doch noch den Finale-Tanz beibringen? Zumindest ansatzweise.“
„Hm, das wäre eine Idee. – Welche Gruppe willst du dann übernehmen?“
„Die vier Charaktere, wenn es dir nichts ausmacht.“
Sie lachte. „Jaja, ich weiß schon warum. Dabei bist du doch gar keine schlechte Tänzerin!“ Aber sie erklärte sich einverstanden.
Und sobald die Anmeldungen im Netz auszufüllen waren, sicherte Linda sich einen Platz.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 06.10.2014, 17:35:29

Ich finde es toll, dass Anouk die Stunden gibt! Und du beschreibst es wirklich toll und kannst dein theoretisches Wissen einbringen, das lässt die Szene noch sehr viel authentischer wirken, super! Ich bin schon auf den Workshop gespannt! Ich rate jetzt einfach mal, dass Linda bei den 4 Hauptrollen ist - vllt Sarah? *g* Lass mich nicht zu lange warten!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 07.10.2014, 16:52:31

Irgendwo muss die Theorie sich ja mal bezahlt machen :) Danke für den Kommentar! Liest eigentlich noch irgendwer mit..?
Heute wird's ein bisschn kitschig. Mir war danach :tja:

Die zwei Wochen bis zur Nacht der offenen Tür vergingen dank meinem vollen Terminplan im Flug: da Johanna und ich den Workshop professionell leiten würden, bekamen wir Hilfe von einer Theaterpädagogin. Die versorgte uns mit Tipps und Tricks, die mir manchmal etwas zu pädagogisch waren, aber teilweise auch ganz nützlich. Auch in Bezug auf meinen privaten Unterricht.
Auf unsere zweite Gesangsstunde freute ich mich sehr, und Linda offenbar auch: sie war früh da und gemeinsam riskierten wir es, eine kleine Heizung einzustecken, auch auf die Gefahr, dass die Luft mehr als trocken werden würde.
„Gut, ich hoffe, du hast noch ein bisschen geübt?“, begann ich unsere Stunde. Sie nickte.
„Wann immer ich Zeit hatte.“
„Das ist gut, denn nachdem wir die heutige Lektion beendet haben, wirst du beides kombinieren müssen.“ Ich hielt ihr einen Spiegel vor die Nase, den ich mitgebracht hatte. „Bevor man sich nicht damit beschäftigt, ist man sich gar nicht bewusst, wie das Gesicht beim Singen eigentlich arbeitet. Damit meine ich nicht, wie du aussiehst, sondern welche Funktionen dein Mund erfüllt.“ Ich stapelte ein paar Bücher auf dem Tresen und stellte den Spiegel so darauf, dass er auf ihrer Höhe war. „Ich möchte – und ich weiß, dass das erst unangenehm ist – dass du dir beim Singen zusiehst.“ Ich überlegte kurz. „Am besten What I did for love, das eignet sich hierfür ganz gut.“ Ich nickte ihr zu, und etwas unsicher begann sie zu singen. Ich bemerkte, dass sie ihrem Blick im Spiegel immer wieder auswich und legte die Hände an ihre Schläfen, damit sie stur in den Spiegel starrte.
„Die Stütze!“, flüsterte ich, als ihre Stimme etwas leierte, und ihr Körper spannte sich wieder mehr an und ihre Stimme wurde sicherer; sie sang wieder „geradeaus“.
„Okay“, sagte ich, als sie fertig war, „die Stütze hast du gut eingebracht, und deine Körperhaltung ist auch besser!“ Ich deutete auf den Spiegel. „Jetzt zu einer anderen Technik: dein Mund ist der Verbindungstunnel zwischen Stimme und Außenwelt. Ist er ganz geschlossen, kann der Ton kaum heraus, richtig? Je weiter dein Mund aufgeht, desto runder wird der Ton – versuch’s mal!“ Ich machte die Übung mit ihr, weil sie mir bei Mrs. Paige damals ziemlich peinlich gewesen war. „Und desto kräftiger wird er“, ergänzte ich, als wir fertig waren. „Dadurch, dass du deinen Mund weit öffnest, öffnest du auch deinen Rachen. Die Töne können so klarer kommen. Das ist bei den hohen Tönen besonders wichtig – wenn du den Mund nämlich nur halb aufmachst, werden sie angestrengt und gequetscht, weil sie ja erst mal eine Herausforderung sind für deine Stimmbänder im Gegensatz zum gewohnten Sprechen oder Singen. – Ich möchte, dass du den Song noch mal singst und dabei immer ganz bewusst an das Gefühl zu Gähnen denkst. Du kannst das Wort zur Einstimmung auch singen – die Mundhaltung dabei ist nämlich immer für den entsprechenden Ton perfekt.“
Linda starrte mich an. „Ich soll Gähn singen?“, wiederholte sie ungläubig. Ich hob den Finger.
„Ich hab noch weit bescheuerte Übungen drauf!“, erwiderte ich und sie sah ein bisschen ernüchtert aus. „Aber keine Angst“, sagte ich darum, „das sind Übungen, die dich irgendwann ganz automatisch zur richtigen Technik führen.“ Ich nickte ihr aufmunternd zu, und wir gingen die Übung ein paar Mal durch.
„Lass den Kiefer fallen!“, rief ich, auch wenn ich wusste, wie schwer mir das anfangs fiel. Anschließend hielt ich ihr wieder den Spiegel vor, sodass sie sich abermals beobachten und selbst korrigieren konnte.
„Es fühlt sich irgendwie seltsam an“, sagte sie. „Aber es klappt auch besser…“
„Was klappt besser?“, hakte ich geduldig nach. Ich hatte gelernt, dass man leichter lernte, wenn man die Lernvorgänge ausformulierte. Sie überlegte kurz.
„Ich habe das Gefühl, dass ich freier singe und deutlicher.“
Ich nickte. „Irgendwann wirst du dich seltsam fühlen, wenn du den Mund mal nicht weit genug aufmachst. Natürlich musst du ihn nicht ständig aufreißen – jeder sollte da seinen Stil finden. Und noch mal: beim Singen geht es nicht darum, wie du aussiehst, sondern darum, wie du dich anhörst. Ich musste das auch lernen.“ Ich lächelte und dachte an Mrs. Paige – die hatte Eitelkeiten gar nicht durchgehen lassen!
„Und jetzt noch mal ein kurzer Theorieteil.“ Ich setzte mich und klopfte auf den Stuhl neben mich. Linda setzte sich und schlug gespannt ihren Schreibblock auf, der bereits jetzt gut gefüllt war.
„Wir widmen uns den hohen Tönen – wir wollen also deinen Stimmumfang erweitern. Erweitern umfasst immer zwei Seiten: Höhe und Tiefe in diesem Fall. Das hängt nämlich stark miteinander zusammen. Wir werden also regelmäßig ein paar Oktaven tiefer singen, was auch mal ganz lustig sein kann.“ Ich machte eine kurze Pause. „Zweitens: hohe Töne werden oft als etwas unerreichbares assoziiert. Hoch bedeutet immer weit weg. Viele Sänger – nicht nur Anfänger – legen den Kopf in den Nacken oder strecken irgendwie den Hals, wenn sie höher singen wollen.“ Ich verkniff mir ein Grinsen. „Aber du musst den Ton nicht fangen.“ Ich sah sie an. „Der Ton ist in dir drin, die ganze Musik ist in dir.“ Ich ließ das kurz auf sie wirken. Diese Erkenntnis hatte mir selbst so viel gebracht – plötzlich hatte ich einen neuen Blick auf meine Stimme, auf mich selbst bekommen.
„Der Ton kommt daher, wo alle herkommen.“ Ich stand auf. „Trotzdem gibt es natürlich ein paar Tricks.“ Ich positionierte sie an der Wand, ohne sie dagegen zu lehnen.
„Unsere Gähn-Übung haben wir ja schon gemacht. Um deine Stimme optimal aufzuwärmen, kannst du abwechselnd einen hohen und einen tiefen Ton singen und dabei immer weiter auseinanderspringen. Auf A wäre das dann so:“ Ich sang den Buchstaben A einmal hoch, dann etwas tiefer, noch höher, noch tiefer und so weiter, bevor ich sie aufforderte, das gleiche zu tun.
„Der zweite Kniff, den du ganz schnell lernen kannst“, fuhr ich fort, „ist, dass du dir die Höhe bildlich vorstellst – aber den Körper nicht bewegst! Wishing you were somehow here again ist dafür ein gutes Beispiel: die erste Hälfte des letzten Wortes, also good, ist relativ tief, aber das bye springt wieder hoch. Wenn du dir dabei vorstellst, wie hoch deine Stimme plötzlich springt und dich mental darauf vorbereitest, klappt es besser – zumindest bei mir.“
Linda hörte wie immer ruhig und konzentriert zu, und wie beim letzten Mal war ich beinahe erstaunt, wie lernfähig sie war: schon beim zweiten Anlauf schaffte sie es, den Ton durchzuziehen. Ich hätte ihr gern noch mehr beigebracht, aber ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass wir ohnehin schon viel zu lange übten. Wir räumten auf und verließen den Keller. Vor meiner Wohnungstür lag ein Paket, das wohl jemand für mich angenommen und dort hingestellt hatte. Ich erwartete keine Post, aber irgendwie ahnte ich schon, von wem es war.
Drinnen bestätigte sich mein Verdacht, als ich das Paket aufriss, ehe ich meine Jacke richtig aufgehängt hatte: Liam. In dem Päckchen, das deutlich kleiner war als das der Rosen, die er mir mal geschickt hatte, lagen ein Briefumschlag und ein kleines Döschen. Ich nahm beides, setzte mich auf die Couch und öffnete zuerst das Kästchen, weil meine Neugierde siegte. Vermutlich hätte er mir auch ganz unromantisch ein Überraschungsei schicken können – ich hätte es trotzdem zuerst geöffnet, einfach um zu wissen, was darin war.
Er schenkte mir einen Ring. Mein erster Gedanke war ungerechterweise: wenn er mir per Post einen Antrag macht, dann trenne ich mich von ihm!, aber erstens waren wir viel zu jung zum Heiraten und zweitens sah der Ring gar nicht aus wie ein Verlobungsring. Er war aus Silber, ungefähr einen Zentimeter breit, mit einer Reihe eingesetzter, dunkelroter Rechtecke. Er sah sowohl elegant als auch modern aus, und er passte mir wie angegossen. Nachdenklich öffnete ich den Briefumschlag. Mir fiel ein Zettel entgegen: Ich habe das Gefühl, unsere Romantik schläft ein. Und außerdem wollte ich dir nur versichern, dass ich dich liebe, auch wenn es kaum Zeit für mich gibt, noch mal vorbeizukommen. Vielleicht hast du Lust, über die Ostertage vorbeizukommen? Liam. Beiliegend waren vier Fotos von seiner Premiere als Phantom, zusammen mit mir. Ich legte sie auf den Tisch, zog den Ring vom Finger und betrachtete beides. Ich wusste nicht, was ich von seinem Geschenk halten sollte; etwas Materielles als Liebesbeweis hatte ich schon immer etwas kritisch betrachtet. Andererseits war das Ganze furchtbar lieb gemeint, und es freute mich, dass Liam meinen Hang für Romantik in gewisser Weise teilte. Immerhin hatte er bis jetzt einen Strauß Rosen und diesen Ring mit der Post geschickt und war zwischendurch Hals über Kopf zu mir nach Berlin gereist.
Ich konnte mich nicht wehren: die Aktion bereitete mir unglaubliches Herzklopfen – und ziemliches Heimweh nach ihm. Ich sah auf die Uhr. Ob er montagabends etwas vorhatte? Aufgeregt zog ich mein Handy hervor und rief ihn an.
Liam war da, und wir verbrachten die halbe Nacht damit, miteinander zu telefonieren.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 07.10.2014, 17:16:25

Wieder ein schöner Teil!
Eine sehr ausführlich beschriebene und recht theoretische Gesangsstunde, aus der man als Laie allerdings auch einiges lernen kann ;)
Die Post von Liam... mh, irgendwie traue ich dem Glück nicht so ganz, aber trotzdem eine schöne Idee. Und das mit dem Antrag per Post - das ginge nun wirklich nicht! Aber ich glaube nicht, dass Liam auf eine solche Idee käme. Ich bin sehr gespannt, wie sich alles weiterentwickelt. Hoffe der nächste Teil kommt wieder so schön schnell wie in letzter Zeit!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon little miss sunshine » 07.10.2014, 18:36:24

Gaefa hat geschrieben:Wieder ein schöner Teil!
Eine sehr ausführlich beschriebene und recht theoretische Gesangsstunde, aus der man als Laie allerdings auch einiges lernen kann ;)
Die Post von Liam... mh, irgendwie traue ich dem Glück nicht so ganz, aber trotzdem eine schöne Idee. Und das mit dem Antrag per Post - das ginge nun wirklich nicht! Aber ich glaube nicht, dass Liam auf eine solche Idee käme. Ich bin sehr gespannt, wie sich alles weiterentwickelt. Hoffe der nächste Teil kommt wieder so schön schnell wie in letzter Zeit!

Ich kann mich dem eigentlich nur anschließen ;)( und ja,ich lese - sehr begeistert,übrigens,immer noch^^ - mit,schaffe es nur leider nicht immer,ein Kommentar zu schreiben)
Is this the real life, is this just fantasy...

The air is humming, and something great is coming!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 11.10.2014, 17:56:41

Achso, wollte nur sicher gehen, dass ich meine Leser nicht verliere ;)
Danke für eure Kommentare! Hier geht's weiter.

An eine Sache hatte ich bei der Nacht der offenen Tür gar nicht gedacht: was würde Linda ihren Eltern erzählen? Ich fühlte mich verantwortlich, aber nicht bereit dafür, Interessenfragen mit ihnen auszufechten. Allerdings fiel mir diese Frage natürlich erst ein, als Johanna und ich uns schon vorbereiteten.
Den ganzen Tag liefen besondere Programmpunkte: verschiedene Szene in verschiedenen Sprachen, Backstage-Touren, Schminken der Darsteller, Interviews, Karaoke… Wie versprochen, nahm ich vormittags an einer offenen Probe teil. Diese dauerte noch länger als sonst, da Emmanuel und René immer wieder an das Publikum gewandt erklärten und begründeten. Und immer herrschte ein stetiger, wenn auch unterdrückter Lärmpegel: das Rascheln von Jacken und Tüchern, leise Stimmen, quengelnde Kinder, Schritte von aus- und eingehenden Besuchern. Als ich irgendwann Linda im Publikum entdeckte, spürte ich einerseits Erleichterung – andererseits eine ziemliche Anspannung. Erst nach der Probe konnte ich mich aufmachen, sie zu suchen. Ich fand sie vor den offenen Türen zum Theatersaal nahe der Bar, wie sie sich andächtig umsah. Ich lächelte.
„Ganz schön imposant, was?“, sagte ich. Sie nickte.
„Ein wunderschönes Theater!“, stimmte sie zu. Dann verschränkte sie die Finger ineinander und starrte auf den Boden. „Ich bin ganz schön aufgeregt“, gestand sie dann. „Was ist, wenn die anderen viel besser sind? Du sagtest, es wären sogar Auszubildende dabei…?“
„Unter anderem!“, beruhigte ich sie. „Die meisten sind Laien, wie du. – Und du bist ja gar kein Laie mehr!“, fügte ich strahlend hinzu. „Du lernst! Bei mir! – Trotzdem solltest du das vielleicht nicht jedem verraten“, fiel mir besorgt ein. „Nicht, dass es illegal ist, kostenlose Stunden zu geben, ich will nur keine Angebote und Nachfragen bekommen und dann zwischen den Fronten stehen.“
Sie nickte. „Schon klar. Ich glaube sowieso nicht, dass ich viel reden werde.“
Ich musterte sie nachdenklich. Ihr Selbstbewusstsein stand momentan auf Null, sie war schlimmer als ich damals. Offenbar war sie sich nicht bewusst, wie gut sie war und sein konnte. Ich hakte mich bei ihr ein. „Linda Savari“, sagte ich streng. „Du bist ein Naturtalent, hörst du? Wenn du die gelernten Techniken anwendest, ohne etwas zu erzwingen, dann wirst du unter den besten sein, das verspreche ich dir!“ Mir fiel plötzlich wieder ein, was ich sie schon die ganze Zeit hätte fragen sollen – nämlich, was ihre Eltern wussten oder eben nicht. Aber ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass dies kein günstiger Zeitpunkt war – in weniger als fünfundvierzig Minuten würde der Workshop beginnen. Ich wollte sie nicht noch nervöser machen, als sie schon war. „Am besten, du machst dich langsam auf den Weg“, riet ich ihr also. „Wärm dich ein bisschen auf, vielleicht kommt ja doch ein Gespräch in Gang.“ Ich lächelte, als sie den Mund skeptisch verzog, und schob sie weiter. „Nur Mut, Linda. In einer Stunde stehst du schon auf der Bühne!“

Johanna und ich betraten die Bühne. Der Zuschauerraum war bedeutend leerer als zuvor, aber viele der anwesenden Jugendlichen musterten die besetzten Stühle trotzdem beunruhigt.
Linda stand allein, aber nicht abseits in der Gruppe, ein wenig in sich zusammengesunken. Da ich aber versprochen hatte, sie nicht mehr zu beachten als die anderen, wandte ich den Blick bewusst ab. Johanna begrüßte die Anwesenden kurz und rief die Namen auf; bis auf ein Mädchen waren alle gekommen.
„Schön. Also, dann stellen wir uns noch einmal kurz vor“, fuhr sie fort. „Ich bin Johanna, ich spiele im Ensemble und bin außerdem das Cover der Solo-Tänzerin im Nightmare. Meine Kollegin Anouk hier“, sie deutete auf mich, „ist ebenfalls im Gesangsensemble und das Cover der Sarah. – Wer von euch hat die Show denn schon mit uns gesehen?“, wollte sie neugierig wissen. Ungefähr ein Drittel meldete sich.
„Schön!“, ergriff ich schnell das Wort, ehe Johanna zu sehr abschweifen konnte. „Unser Programm heute wird erst einmal mit einer kurzen Aufwärmrunde beginnen: Atemübungen, Stimmübungen. Anschließend erarbeiten wir die Choreographie von Ewigkeit in ihren Grundzügen. Nach eineinhalb Stunden machen wir eine Pause von dreißig Minuten, und nach weiteren fünfundvierzig Minuten werden wir die vier Personen, die am besten in die Rollen von Krolock, Alfred, Sarah und Magda passen auswählen. Während die Vier dann von mir übernommen werden, macht Johanna mit dem Rest am Finale weiter.“
„Und am Ende des Workshops steht eine gemeinsame Choreographie von Ewigkeit mit allen Darstellern!“, rief Johanna, ein bisschen wie eine Werbefrau. Unsere Schüler sahen uns begeistert oder nervös, mit leuchtenden Augen entgegen.
Wir begannen mit einer Aufwärmrunde, die länger dauerte, als wir geplant hatten. Trotzdem machten wir im normalen Tempo weiter, und während des ersten Durchlaufs, in dem wir „trocken“ singen ließen, kristallisierten sich schon die größeren Stimmen heraus. Johanna und ich gingen stetig zwischen den Jungen und Mädchen herum, korrigierten leise irgendwelche Technik- oder Haltungsfehler und wussten schon jetzt, dass die Auswahl trotzdem schwierig werden würde.
In der Pause, die wir alle dringend nötig hatten, wurde ich von einer Zuschauerin abgefangen, die ich erst auf den zweiten, peinlicherweise etwas genervten Blick als Mrs. Paige erkannte.
„Anouk, sie haben ja richtiggehend Lehrerqualitäten!“, lobte sie.
„Och, na ja“, machte ich, weil ich darauf keine richtige Antwort hatte außer „danke“.
„Ich unterrichte auch privat“, sagte ich dann aber doch und erzählte ihr rasch von Linda. Sie zeigte sich erfreut. „Anouk, es freut mich, dass sie ein wenig in meine Fußstapfen treten! Vielleicht können Sie ja auch mal an unserer Schule einen kleinen Workshop leiten!“
Ich behielt es für mich, dass ich genau genommen in Bertelins Fußstapfen trat, nahm ihren Vorschlag aber überrascht und positiv auf.
Nach der Pause, die ich größtenteils verquatscht hatte, gingen wir die Choreographie noch einmal durch. Sie war nicht perfekt, aber für die kurze Zeit, die wir erst daran arbeiteten, war sie sehr gut.
„Ich sehe da vielversprechende Talente!“, raunte Johanna mir zu. „Deine Schülerin ist übrigens echt gut!“
Ich grinste. „Danke! Sie scheint auch ein paar Kontakte geknüpft zu haben!“ Ich lugte kurz hinüber zu Linda, die von einem ziemlich hochgeschossenen Blonden belagert wurde – die Gruppe geriet sofort ins Schwatzen, wenn wir uns abwandten. Und dann passierte etwas: ich wollte gerade wieder den Blick abwenden, als Linda auf- und in das Publikum sah. Ihre Augen, die eigentlich keinen bestimmten Punkt zu suchen schienen, blieben an etwas – oder jemandem – hängen und weiteten sich, erschrocken und ertappt. In sekundenschnelle überkam mich eine unangenehme Ahnung, und ich wandte mich langsam um.
Da standen die Eheleute Savari, mit geschockten, fassungslosen Gesichtern. Lindas Vater, den ich immer, wenn ich ihn sah, als sanftmütig und gelassen empfunden hatte, fixierte mich wütend.
„Oh-oh!“, murmelte ich. Johanna drehte sich um.
„Was ist los?“ Sie folgte meinem Blick. „Was hast du denen denn getan?“, platzte es aus ihr heraus. Ich schüttelte nur benommen den Kopf.
„Das sind Lindas Eltern!“, erwiderte ich. Und Johanna, die die ganze Geschichte kannte, blickte sofort durch.
„Was sollen wir machen? Einfach weiterüben?“
Linda sah nicht aus, als ob sie einfach weiterüben könnte. Ich schüttelte abermals den Kopf.
„Nein. Wir machen es dadurch nur schlimmer.“ Ich schluckte. „Ich muss ihnen das erklären. Ich bin dafür verantwortlich.“ Und mit seltsam weichen Knien verließ ich langsam die Bühne, die mir plötzlich endlos lang vorkam.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 11.10.2014, 19:49:41

Oh oh, welche unerwartete Entwicklung... Ich hoffe doch sehr, dass Lindas Eltern Verständnis aufbringen und das ganze nicht in einer Katastrophe für alle endet. Ich hab sogar schon eine Idee, wie du die Idee, von der du in der PN geschrieben hast, umsetzen könntest. Ich bin sehr gespannt - bitte bald weiter!!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 12.10.2014, 20:09:55

Danke Gaefa für deine Kommentare :)
Hier kommt die Reaktion von Lindas eltern:

Ich wusste selbst nicht, weshalb ich plötzlich so eine Angst hatte. Alle Umstände sprachen doch für Linda: sie war achtzehn und konnte über ihr eigenes Glück bestimmen, ich war eine kompetente Lehrerin und außerdem gab ich auch noch kostenlose Stunden. Aber Herr Savari sah nicht aus, als könnte ihn nur ein einziges dieser Argumente überzeugen. Hinter mir hörte ich Johannas Stimme: „Okay, noch mal eine Pause, zehn Minuten. Achtet darauf, dass ihr warm bleibt!“ Dann ertönten Schritte hinter mir, die rasch näher kamen. Indes war ich bei Lindas Eltern angekommen und blieb vor ihnen stehen. Versuchte, freundlich zu blicken, aber gleichzeitig zu zeigen, dass ich um den Ernst der Lage wusste. Kurzum: kompetent.
„Guten Abend“, grüßte ich freundlich und hielt ihnen meine Hand hin. Sie schwebte gewissermaßen zwischen uns, ohne von Herrn Savari auch nur beachtet zu werden. Seine Frau sah darauf, rührte sich aber nicht.
„Frau Steger, ich wünsche meine Tochter zu sprechen. Jetzt.“ Es überraschte mich, dass er mich nicht sofort anschnauzte – offenbar war ihm noch nicht klar, wer hinter Lindas neuen Aktivitäten steckte. Er klang einigermaßen gefasst.
„Nun… Linda arbeitet gerade in unserem Workshop an einer - “
„Es ist mir ziemlich egal, was sie hier macht“, fuhr er mir gereizt über den Mund. „Meine Tochter wird mich sprechen. Jetzt.“ Er sah dabei zur Bühne hinauf, wo Linda, den Tränen nahe, gerade langsam die Treppe hinunter stieg. Dann wandte er sich wieder an mich.
„Haben Sie meine Tochter hierfür animiert?“, fragte er. Ich schluckte.
„Es war meine Idee“, mischte Linda sich ein. „Ich nehme Gesangsunterricht bei Frau Steger.“
„Du…“ Ihm blieb kurz die Spucke weg, dann verfinsterte sich sein Blick. „Linda, ich dachte, wir hätten das besprochen“, sagte er dann. „Dass wir“, er warf mir einen raschen Blick zu und senkte die Stimme, „dass wir nicht die Mittel dazu haben.“
„Der Unterricht ist kostenlos“, flüsterte sie.
„Das wird ja immer besser!“ Er sah seine Tochter vorwurfsvoll an. „Du nimmst Stunden bei einer vielbeschäftigten Musicaldarstellerin, ohne ihr nur einen Cent zu bezahlen und vor allem ohne uns darüber zu informieren?
Linda schwieg betreten. Ich wartete darauf, dass sie explodierte, aber auch in dieser Hinsicht war sie verschlossener als ich: sie fraß ihren Kummer in sich hinein, statt sich einmal auszusprechen.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereite“, ergriff ich abermals das Wort und suchte fieberhaft nach Worten – höflichen, diplomatischen Worten, die ihn überzeugen und beruhigen konnten. „Wenn Sie erlauben, würde ich Ihnen gerne alles so schildern, wie es war.“
Er sah mich kurz an, dann nickte er knapp. Ich holte tief Luft.
„Es ist eigentlich ganz einfach: ich konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht auftreten und kam deshalb früher als geplant wieder nach Hause. Da hörte ich jemanden im Partykeller singen. Ich wurde neugierig und wollte herausfinden, wer da sang, und da traf ich Linda. Sehen Sie, Linda ist ein außergewöhnliches Talent. Ihre Stimme ist überdurchschnittlich gut entwickelt, und das ohne irgendeine Hilfe oder jeglichen Unterricht. Ich fand heraus, dass sie gern etwas in diesem Bereich machen würde, und bot ihr an, kostenlose Stunden zu geben.“
Herr Savari sah mich aufmerksam an, während ich erzählte, aber ich konnte seine Miene nicht deuten. Er war weder nachdenklich noch wütend, sondern lediglich ein wenig… streng.
„Dieser Workshop ist ein erster Schritt für Linda, Erfahrungen zu sammeln“, fügte Johanna hinzu. Sie hielt ein Klemmbrett in den Händen, das sie sehr geschäftsmäßig aussehen ließ. Und das wiederum wirkte vertrauenerweckend. „Er bindet sie an nichts, sondern dient der Orientierung und dem Austausch mit Gleichgesinnten.“ Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Liste. „Tatsächlich steht hier, dass sie selbst im Vergleich mit den Auszubildenden, die ebenfalls unter den Teilnehmern sind, außerordentlich ist.“ Sie sah Herr Savari fest an, sich ihrer Autorität bewusst. „Dass Linda diesen Workshop mitmacht, ist eine große Bereicherung. Jeder Teilnehmer bekommt eine Teilnahmebescheinigung ausgestellt, und diese wirkt sich positiv auf spätere Bewerbungen aus.“
Herr Savari sah von Johanna zu Linda, die vor Angst und Beschämung gar nicht wusste, wohin sie sehen sollte. Nachdenklich musterte er seine Tochter, und mir klopfte das Herz bis zum Hals. Seine Frau legte ihm die Hand auf den Ellbogen, und ich schöpfte Hoffnung. Er sah sie kurz an und nickte dann.
„Frau Steger, kann ich Sie einen Moment unter vier Augen sprechen?“
Ich nickte. „Aber sicher“, sagte ich hastig. Wir zogen uns in einen stillen Winkel hinter dem Bühnentreppchen zurück. Herr Savari lehnte sich gegen die Bühne, während ich mich um einen sicheren, selbstbewussten Stand bemühte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Johanna Frau Savari bearbeitete, wobei es wie eine Plauderei aussah. Die Frau lächelte sogar kurz mit einem flüchtigen Blick auf ihre Tochter.
„Frau Steger, ich kann mir vorstellen, was Sie von uns denken müssen“, begann Herr Savari. „Dass wir Rabeneltern sind, die ihre Kinder auf Schritt und Tritt verfolgen und ihre Träume zerschlagen. So zumindest muss es für Linda aussehen.“
„Nun ja…“ Ich zögerte kurz. „So sieht sie es, ja.“
Er nickte. „Sie haben Ihre Geschichte erzählt, nun will ich meine erzählen.“
Ich sah ihn abwartend an.
„Es ist nicht so, dass ich Lindas Wünsche nicht wertschätze“, fing er an. „Ich freue mich, dass sie eine Begabung hat. Aber gleichzeitig muss ich immer unsere finanzielle Situation bedenken: wir haben drei Kinder und wenig Geld. Meine Frau arbeitet jeden Tag hart und wir schlecht bezahlt, und so geht es mir auch. Linda wird die erste in der Familie sein, die ihr Abitur schafft, und darauf sind wir unglaublich stolz.“ Er warf einen Blick auf seine Tochter, und trotz allen Zorns war er warm und traurig. „Ich fürchte, Linda versteift sich da auf einen Wunschtraum, der nahezu aussichtslos ist. Sie hat sich noch keinen Studienplatz gesichert, dabei ist sie eine erstklassige Schülerin. Ich begleite sie oft zu Berufsmessen und Probevorlesungen, aber sie ist nie begeistert. Sie will ins Musical.
Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich für einen Unmenschen halten, gebe ich offen zu: ich habe ihr schlichtweg verboten, ihrem Hobby nachzugehen, um sie vor sich selbst zu schützen. Denn wie unsicher ist dieses Geschäft? Ich möchte, dass meine Kinder eine Perspektive haben, die wir ihnen nicht bieten können. Und dafür muss ich sie manchmal vor sich selbst schützen.“
Ich sah nachdenklich auf den Boden. Ich verstand ihn. Ich verstand seine Beweggründe und seine Ängste, aber ich verstand auch Linda. Mehr als er vielleicht.
„Ich bin Ihnen nicht böse“, antwortete ich also, „und ich… verurteile Sie auch nicht. Aber bei Lindas Talent stehen die Chancen gut, dass sie irgendwo angenommen wird.“
„Irgendwo – wo soll das sein? Wer soll die Unterkunft bezahlen?“, unterbrach er mich ruhig.
„Es gibt Stipendien.“
„Es gibt wenige“, konterte er. „Frau Steger, ich danke Ihnen, dass Sie sich so für meine Tochter einsetzen. Aber ich möchte, dass sie von dieser… wirren Idee wegkommt, dass es nur das Eine für sie gibt. Dieses… unbeständige, unsichere. Je länger Sie sich mit mir und mit Linda darüber streiten und unterhalten, umso schwerer wird es irgendwann, ein endgültiges Nein zu akzeptieren.“ Er wandte sich zum Gehen. „Ich werde Linda mit nach Hause nehmen. Danke noch mal.“ Er drehte sich um.
„Denken Sie noch einmal darüber nach!, rief ich verzweifelt. Er blieb stehen, sah mich aber nicht an. „Und“, und jetzt setzte ich alles auf eine Karte, „bedenken Sie, dass Ihre Tochter volljährig ist. Bedenken Sie, wie wertvoll es ist, eine Berufung zu spüren und dafür zu kämpfen. Wir alle stünden nicht hier, hätten wir das nicht getan.“ Ich war selbst erstaunt von mir, dass ich so etwas sagte. Aber es stimmte, und die Lage war ernst. Herr Savari ging schweigend weiter, und niedergeschlagen sah ich zu, wie er mit Linda redete, mit Müden Gesten, und wie sie sich abwandte und hinter die Bühne lief, mit tränenüberströmtem Gesicht.

Der Workshop und das Ergebnis wurden ein voller Erfolg, aber so richtig konnte mich das nicht freuen. Ich hatte, was Linda anging, versagt, und auch wenn die vier ausgewählten Schülerinnen und Schüler tolle Hauptrollen abgaben, konnte ich keine richtige Euphorie über ihr Können empfinden. Am Ende des Tages tröstete mich Johanna.
„Du hast alles getan, was du tun konntest“, sagte sie. „Vielleicht ist es besser, das Ganze ruhen zu lassen.“
„Du meinst, ich sollte Linda einfach aufgeben?“
„Vielleicht setzt sie ja doch ihren Kopf durch“, entgegnete Johanna nicht sehr überzeugt. Ich ließ die Schultern hängen und trat den Heimweg an. Als ich vor meiner Wohnungstüre ankam, blieb ich stehen und starrte das Türschild der Savaris an. Hinter der Türe war alles still. Am liebsten hätte ich geklingelt und ihnen befohlen, Linda weiterüben zu lassen, aber ich spürte, dass das nicht mehr meine Aufgabe war.
Trotz dieser Erkenntnis wandte ich mich nur widerstrebend ab.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben


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