Danke Gaefa für deine Kommentare

Hier kommt die Reaktion von Lindas eltern:
Ich wusste selbst nicht, weshalb ich plötzlich so eine Angst hatte. Alle Umstände sprachen doch für Linda: sie war achtzehn und konnte über ihr eigenes Glück bestimmen, ich war eine kompetente Lehrerin und außerdem gab ich auch noch kostenlose Stunden. Aber Herr Savari sah nicht aus, als könnte ihn nur ein einziges dieser Argumente überzeugen. Hinter mir hörte ich Johannas Stimme: „Okay, noch mal eine Pause, zehn Minuten. Achtet darauf, dass ihr warm bleibt!“ Dann ertönten Schritte hinter mir, die rasch näher kamen. Indes war ich bei Lindas Eltern angekommen und blieb vor ihnen stehen. Versuchte, freundlich zu blicken, aber gleichzeitig zu zeigen, dass ich um den Ernst der Lage wusste. Kurzum: kompetent.
„Guten Abend“, grüßte ich freundlich und hielt ihnen meine Hand hin. Sie schwebte gewissermaßen zwischen uns, ohne von Herrn Savari auch nur beachtet zu werden. Seine Frau sah darauf, rührte sich aber nicht.
„Frau Steger, ich wünsche meine Tochter zu sprechen. Jetzt.“ Es überraschte mich, dass er mich nicht sofort anschnauzte – offenbar war ihm noch nicht klar, wer hinter Lindas neuen Aktivitäten steckte. Er klang einigermaßen gefasst.
„Nun… Linda arbeitet gerade in unserem Workshop an einer - “
„Es ist mir ziemlich egal, was sie hier macht“, fuhr er mir gereizt über den Mund. „Meine Tochter wird mich sprechen. Jetzt.“ Er sah dabei zur Bühne hinauf, wo Linda, den Tränen nahe, gerade langsam die Treppe hinunter stieg. Dann wandte er sich wieder an mich.
„Haben Sie meine Tochter hierfür animiert?“, fragte er. Ich schluckte.
„Es war meine Idee“, mischte Linda sich ein. „Ich nehme Gesangsunterricht bei Frau Steger.“
„Du…“ Ihm blieb kurz die Spucke weg, dann verfinsterte sich sein Blick. „Linda, ich dachte, wir hätten das besprochen“, sagte er dann. „Dass wir“, er warf mir einen raschen Blick zu und senkte die Stimme, „dass wir nicht die Mittel dazu haben.“
„Der Unterricht ist kostenlos“, flüsterte sie.
„Das wird ja immer besser!“ Er sah seine Tochter vorwurfsvoll an. „Du nimmst Stunden bei einer vielbeschäftigten Musicaldarstellerin, ohne ihr nur einen Cent zu bezahlen und vor allem
ohne uns darüber zu informieren?“
Linda schwieg betreten. Ich wartete darauf, dass sie explodierte, aber auch in dieser Hinsicht war sie verschlossener als ich: sie fraß ihren Kummer in sich hinein, statt sich einmal auszusprechen.
„Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereite“, ergriff ich abermals das Wort und suchte fieberhaft nach Worten – höflichen, diplomatischen Worten, die ihn überzeugen und beruhigen konnten. „Wenn Sie erlauben, würde ich Ihnen gerne alles so schildern, wie es war.“
Er sah mich kurz an, dann nickte er knapp. Ich holte tief Luft.
„Es ist eigentlich ganz einfach: ich konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht auftreten und kam deshalb früher als geplant wieder nach Hause. Da hörte ich jemanden im Partykeller singen. Ich wurde neugierig und wollte herausfinden, wer da sang, und da traf ich Linda. Sehen Sie, Linda ist ein außergewöhnliches Talent. Ihre Stimme ist überdurchschnittlich gut entwickelt, und das ohne irgendeine Hilfe oder jeglichen Unterricht. Ich fand heraus, dass sie gern etwas in diesem Bereich machen würde, und bot ihr an, kostenlose Stunden zu geben.“
Herr Savari sah mich aufmerksam an, während ich erzählte, aber ich konnte seine Miene nicht deuten. Er war weder nachdenklich noch wütend, sondern lediglich ein wenig… streng.
„Dieser Workshop ist ein erster Schritt für Linda, Erfahrungen zu sammeln“, fügte Johanna hinzu. Sie hielt ein Klemmbrett in den Händen, das sie sehr geschäftsmäßig aussehen ließ. Und das wiederum wirkte vertrauenerweckend. „Er bindet sie an nichts, sondern dient der Orientierung und dem Austausch mit Gleichgesinnten.“ Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Liste. „Tatsächlich steht hier, dass sie selbst im Vergleich mit den Auszubildenden, die ebenfalls unter den Teilnehmern sind, außerordentlich ist.“ Sie sah Herr Savari fest an, sich ihrer Autorität bewusst. „Dass Linda diesen Workshop mitmacht, ist eine große Bereicherung. Jeder Teilnehmer bekommt eine Teilnahmebescheinigung ausgestellt, und diese wirkt sich positiv auf spätere Bewerbungen aus.“
Herr Savari sah von Johanna zu Linda, die vor Angst und Beschämung gar nicht wusste, wohin sie sehen sollte. Nachdenklich musterte er seine Tochter, und mir klopfte das Herz bis zum Hals. Seine Frau legte ihm die Hand auf den Ellbogen, und ich schöpfte Hoffnung. Er sah sie kurz an und nickte dann.
„Frau Steger, kann ich Sie einen Moment unter vier Augen sprechen?“
Ich nickte. „Aber sicher“, sagte ich hastig. Wir zogen uns in einen stillen Winkel hinter dem Bühnentreppchen zurück. Herr Savari lehnte sich gegen die Bühne, während ich mich um einen sicheren, selbstbewussten Stand bemühte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Johanna Frau Savari bearbeitete, wobei es wie eine Plauderei aussah. Die Frau lächelte sogar kurz mit einem flüchtigen Blick auf ihre Tochter.
„Frau Steger, ich kann mir vorstellen, was Sie von uns denken müssen“, begann Herr Savari. „Dass wir Rabeneltern sind, die ihre Kinder auf Schritt und Tritt verfolgen und ihre Träume zerschlagen. So zumindest muss es für Linda aussehen.“
„Nun ja…“ Ich zögerte kurz. „So sieht sie es, ja.“
Er nickte. „Sie haben Ihre Geschichte erzählt, nun will ich meine erzählen.“
Ich sah ihn abwartend an.
„Es ist nicht so, dass ich Lindas Wünsche nicht wertschätze“, fing er an. „Ich freue mich, dass sie eine Begabung hat. Aber gleichzeitig muss ich immer unsere finanzielle Situation bedenken: wir haben drei Kinder und wenig Geld. Meine Frau arbeitet jeden Tag hart und wir schlecht bezahlt, und so geht es mir auch. Linda wird die erste in der Familie sein, die ihr Abitur schafft, und darauf sind wir unglaublich stolz.“ Er warf einen Blick auf seine Tochter, und trotz allen Zorns war er warm und traurig. „Ich fürchte, Linda versteift sich da auf einen Wunschtraum, der nahezu aussichtslos ist. Sie hat sich noch keinen Studienplatz gesichert, dabei ist sie eine erstklassige Schülerin. Ich begleite sie oft zu Berufsmessen und Probevorlesungen, aber sie ist nie begeistert. Sie will ins Musical.
Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich für einen Unmenschen halten, gebe ich offen zu: ich habe ihr schlichtweg verboten, ihrem Hobby nachzugehen, um sie vor sich selbst zu schützen. Denn wie unsicher ist dieses Geschäft? Ich möchte, dass meine Kinder eine Perspektive haben, die wir ihnen nicht bieten können. Und dafür muss ich sie manchmal vor sich selbst schützen.“
Ich sah nachdenklich auf den Boden. Ich verstand ihn. Ich verstand seine Beweggründe und seine Ängste, aber ich verstand auch Linda. Mehr als er vielleicht.
„Ich bin Ihnen nicht böse“, antwortete ich also, „und ich… verurteile Sie auch nicht. Aber bei Lindas Talent stehen die Chancen gut, dass sie irgendwo angenommen wird.“
„Irgendwo – wo soll das sein? Wer soll die Unterkunft bezahlen?“, unterbrach er mich ruhig.
„Es gibt Stipendien.“
„Es gibt wenige“, konterte er. „Frau Steger, ich danke Ihnen, dass Sie sich so für meine Tochter einsetzen. Aber ich möchte, dass sie von dieser… wirren Idee wegkommt, dass es nur das Eine für sie gibt. Dieses… unbeständige, unsichere. Je länger Sie sich mit mir und mit Linda darüber streiten und unterhalten, umso schwerer wird es irgendwann, ein endgültiges Nein zu akzeptieren.“ Er wandte sich zum Gehen. „Ich werde Linda mit nach Hause nehmen. Danke noch mal.“ Er drehte sich um.
„Denken Sie noch einmal darüber nach!, rief ich verzweifelt. Er blieb stehen, sah mich aber nicht an. „Und“, und jetzt setzte ich alles auf eine Karte, „bedenken Sie, dass Ihre Tochter volljährig ist. Bedenken Sie, wie wertvoll es ist, eine Berufung zu spüren und dafür zu kämpfen. Wir alle stünden nicht hier, hätten wir das nicht getan.“ Ich war selbst erstaunt von mir, dass ich so etwas sagte. Aber es stimmte, und die Lage war ernst. Herr Savari ging schweigend weiter, und niedergeschlagen sah ich zu, wie er mit Linda redete, mit Müden Gesten, und wie sie sich abwandte und hinter die Bühne lief, mit tränenüberströmtem Gesicht.
Der Workshop und das Ergebnis wurden ein voller Erfolg, aber so richtig konnte mich das nicht freuen. Ich hatte, was Linda anging, versagt, und auch wenn die vier ausgewählten Schülerinnen und Schüler tolle Hauptrollen abgaben, konnte ich keine richtige Euphorie über ihr Können empfinden. Am Ende des Tages tröstete mich Johanna.
„Du hast alles getan, was du tun konntest“, sagte sie. „Vielleicht ist es besser, das Ganze ruhen zu lassen.“
„Du meinst, ich sollte Linda einfach aufgeben?“
„Vielleicht setzt sie ja doch ihren Kopf durch“, entgegnete Johanna nicht sehr überzeugt. Ich ließ die Schultern hängen und trat den Heimweg an. Als ich vor meiner Wohnungstüre ankam, blieb ich stehen und starrte das Türschild der Savaris an. Hinter der Türe war alles still. Am liebsten hätte ich geklingelt und ihnen befohlen, Linda weiterüben zu lassen, aber ich spürte, dass das nicht mehr meine Aufgabe war.
Trotz dieser Erkenntnis wandte ich mich nur widerstrebend ab.