armandine hat geschrieben:Mir gefällt es auch sehr gut in diesem Teil. Was ist eigentlich aus Isabelle geworden?
Danke für die Erinnerung. Antwort folgt:
Ich wachte auf mit einem eigentümlichen Gefühl im Bauch. Mein ganzer Körper schien angespannt zu sein, noch ehe ich richtig wach war, und in meinem schläfrigen Unterbewusstsein meldete sich eine hektische Stimme, die rief:
heute! Heute! Heute! Ich gähnte und drehte mich zur Seite und stieß mit der Nase gegen… ja, was? Ich öffnete die Augen und starrte in Liams Gesicht.
„Ich dachte, ich muss dich für tot erklären lassen“, begrüßte er mich. „Ich hätte nicht gedacht, dass das Schlafmittel
so stark wirkt!“
Und da war ich schlagartig wach. Ich setzte mich auf und blinzelte.
Kurzer Überblick über die Realität: Liam war seit gestern hier. Ich hatte zum ersten Mal Schlafmittel nehmen müssen, um überhaupt ruhig liegen zu können, denn heute war der 31. Oktober.
Halloween. – Premiere! Neben mir raschelte das Bettzeug, als Liam sich ebenfalls aufsetzte und mich prüfend ansah.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er.
„Ich glaube, ich muss mich übergeben“, erwiderte ich. In den letzten zwei Minuten hatte jemand einen Aufzug in meinen Magen gebaut – und vergessen, die Bremsen einzustellen.
„Ich schätze, das wäre nicht gut für deine Stimme“, kommentierte er trocken. „Es ist jetzt elf Uhr. Wie wär’s, wenn wir uns fertig machen und nett frühstücken gehen?“
„Frühstücken?“, wiederholte ich und starrte ihn ungläubig an. Er glaubte doch nicht ernsthaft, dass ich heute irgendetwas runterbekommen würde?
Glaubte er tatsächlich. Und er gab nicht eher Ruhe, bis ich vollständig angezogen und geduscht war, vor ihm in einem Café saß und auf mein Frühstücksei starrte.
Und selbst da versuchte er noch, mich zum essen zu zwingen.
„Komm schon, Anouk! Nachher kippst du auf der Bühne um!“
„Ich esse im Theater“, murmelte ich.
„Dazu wirst du keine Zeit haben.“ Er schob den Teller näher zu mir und sah mich mit einem Bettelblick an, der Steine zum Weinen bringen konnte.
„Bittebitte?“
Ich starrte finster zurück. „Meinetwegen“, knurrte ich dann und begann, demonstrativ langsam das Ei zu pellen.
„Ich will deinen Job ja nicht herabwürdigen, aber… dir ist schon bewusst, dass du ’nur’ einen Ensemble-Vampir spielst?“
„Kann eben nicht jeder das Phantom sein“, spielte ich schnippisch auf seinen anstehenden Rollenwechsel an. „Aber im Ernst: ich dachte, du weißt wie sehr ich bei
Tanz der Vampire mitspielen wollte.“
„Ich weiß!“, stimmte er zu und griff nach meiner eiskalten Hand. Ich verschränkte meine Finger mit seinen und aß stumm, was er mir bestellt hatte. Insgeheim verletzte seine Bemerkung mich.
Premieren. Ich wusste nicht, ob ich sie hassen oder lieben sollte. Im Moment… hasste ich sie. Ich saß hinter der Bühne auf dem Boden an die Wand gelehnt und erholte mich von meinem jüngsten Panikanfall: ich hatte einfach meine Zähne nicht einsetzen können. Wie ich sie auch drehte und wie fest ich auch drückte, sie passten einfach nicht mehr auf meine echten Zähne.
„So schnell kann sich mein Kiefer doch nicht verändern!“, hatte ich gerufen. „Von gestern auf heute!“
Alle waren ratlos, bis Valerie, ein Ensemblemitglied, völlig aufgelöst zu uns kam – mit dem selben Problem. Inzwischen konnten wir fast wieder darüber lachen, dass wir unsere Zähne irgendwie vertauscht hatten. Aber nun war es endgültig vorbei mit meiner Ruhe.
„Kann man dir irgendwie helfen?“, fragte Daniel, der vor mir auftauchte.
„Ja“, erwiderte ich, „geh doch bitte ins Foyer und such nach Liam. Ich brauch ihn jetzt, ganz dringend.“
„Tja, ich fürchte, du musst dich für den Moment mit deinem Exfreund zufrieden geben“, sagte er und reichte mir die Hand, „denn ich darf diesen Teil des Theaters nicht mehr verlassen. So wie du.“ Er zog mich hoch und musterte mich.
„Bleib einfach ganz ruhig, Anouk“, sagte er dann. „In den letzten Proben ist doch kaum etwas schief gegangen.“
Aber das konnte mich nicht mehr beruhigen. Ich blieb, wo ich war, und langsam versammelten sich alle Ensemblemitglieder. Emmanuel kam, als die Show ganz knapp bevorstand. „Zeit zum Spucken!“, rief er, und wir stellten uns in einer Reihe auf und „spuckten“ uns dreimal über die Schulter, gefolgt von einem kurzen Blick in die Augen. Es dauerte eine Weile, bis sich alle Glück gewünscht hatten, doch dann wurde es totenstill.
„Ihr geht jetzt da raus“, sagte Emmanuel, „und rockt die Bühne, okay? Ich will niemanden mehr sehen, der Angst hat.“ Er sah uns der Reihe nach an. „Ich bedanke mich für eine aufregende, bereichernde, lustige und manchmal nervenaufreibende Probenzeit, für euer Engagement und eure Tatkraft. Ihr seit ein tolles Ensemble, und diese Wiederaufnahme wird eine ganz tolle! Toi, toi, toi!“ Er reckte die Daumen in die Höhe und wir applaudierten, und im selben Augenblick begann die Overture.
Die Premiere zog an mir vorbei wie ein Film. Ich lief durch die Reihen und erschreckte zwei Zuschauer. Ich kroch in Ewigkeit in meinen Sarg, ohne dass etwas passierte, nur irgendwo neben mir verriet ein hohles Klappern und ein leises Flüstern, dass irgendwer seine Zähne verloren hatte. Aber ich war zu aufgeregt, um darüber einen Lachanfall zu bekommen, wie es sonst der Fall gewesen wäre. Einmal auf der Bühne, war ich von einer aufmerksamen Ruhe erfüllt, ich war präsent und in meiner Rolle. Kein einziger Gedanke wurde daran verschwendet, dass ich ’nur’ ein Ensemble-Vampir war, wie Liam gesagt hatte. Denn das stimmte nicht. Ich war nicht irgendjemand in der Masse, ich war ich, eine ausgebildete Musicalsängerin, auf einer großen Bühne, in einem beliebten Stück, ich war an meinem Ziel angekommen:
Tanz der Vampire. Die Premierenfeier, der ganze Trubel und die vielen Fotografen machten mich ganz schwindlig. Ich fiel dem ersten in die Arme, der sie mir entgegenhielt, als ich im Foyer ankam – meinem Vater.
„Ich hab die ganze Zeit nur auf dich geschaut!“, sagte er, als er mich an sich drückte. „Du warst toll, richtig böse!“
Meine Mutter folgte, sie hatte rote Augen. „Hast du wieder geweint?“, fragte ich etwas anklagend. Sie hob die Schultern.
„Schatz, wenn du mal Kinder haben solltest“, entgegnete sie und warf einen kurzen Blick zu Liam, der sich hastig abwandte und ein Lachen zu unterdrücken schien, „dann wirst du mich verstehen.“
„Und wie hat es dir gefallen, Oma?“, rief ich meiner Oma zu, die mich das erste Mal live auf der Bühne erlebt hatte.
„Ganz toll, Kind, ganz toll!“, versicherte sie mir. „Ich hab dich zwar immer mal aus den Augen verloren, aber trotzdem
ganz toll!“
Ich grinste und wandte mich dem nächsten zu – eigentlich Liam, aber der unverwechselbare Bertelin, den ich anscheinend niemals würde abschütteln können, zwängte sich einfach zwischen uns.
„Der Broadway ist nicht weit!“, prophezeite er. „Ich sehe dich schon als… als…“ Er kratzte sich kurz am Kopf. „Na, ist ja egal als was. Hauptsache Broadway.“ Er setzte eine selbstzufriedene Miene auf, wie immer, wenn er mich lobte. Inzwischen war ich mir sicher, dass er nur kam, um Selbstbestätigung zu erfahren, aber ich gönnte ihm diesen Triumph. Immerhin hatte er – ich konnte es nicht besser ausdrücken –
meinen Weg geebnet. „Jetzt bin ich aber endlich dran“, sagte Liam und küsste mich. „Du warst klasse. Der beste Vampir überhaupt. Ehrlich, man könnte nur dich zwischen die Särge stellen, es würde keinen Unterschied machen.“
Damit brachte er mich zum Lachen, und sein Kommentar vom Morgen störte mich gar nicht mehr.
Der Abend hielt noch weitere angenehme Überraschungen bereit – Isabelle zum Beispiel. Ich stellte fest, dass sie gesünder aussah, nicht mehr so blass wie bei unseren letzten Treffen. Dünn war sie immer noch, aber es wirkte nicht mehr kränklich.
„Mir geht es wirklich besser“, sagte sie, als ich sie darauf ansprach. „Ich habe ein festes Engagement, das ich um nichts in der Welt aufgeben würde!“ Sie starrte kurz auf ihre Füße.
„Ich habe die Schwangerschaft abgebrochen“, sagte sie leise.
„Ich weiß“, entgegnete ich und legte den Arm um ihre Schultern. „Und wenn es für dich richtig ist, dann kann niemand etwas dagegen sagen.“
Nach Isabelle traf ich noch Marius und Muriel, was mich besonders freute: ich hatte sie schon länger nicht getroffen.
„Ich weiß noch genau, wie ich mit dir Totale Finsternis gesungen habe!“, sagte er. „Ich war total überrascht, dass so ein Persönchen so eine Stimme hat!“
„Vielleicht wirst du ja der nächste Krolock!“, lachte ich.
„Na, wollt ihr mich etwa loswerden?“, fragte Felix, der unsere letzten Worte aufgeschnappt hatte.
„Konkurrenz belebt das Geschäft. Sagt man das nicht so?“, erwiderte Marius zwinkernd, und wir verfielen in eine lockere Unterhaltung.
Dieser Abend – oder besser, diese Nacht – wurde spät. Tatsächlich war schon der erste graue Schimmer des anbrechenden Tages zu sehen, als ich mich völlig erschöpft mit Liam auf den Heimweg machte. Aber morgen war ein Feiertag, an dem wir nicht spielen würden, also musste ich mir über meinen nachzuholenden Schlaf schon mal keine Gedanken machen.
Liam und ich wanderten durch die Stadt bis zum Brandenburger Tor. Der Platz war beinahe ganz verlassen und wirkte in der späten Nacht ganz friedlich. Wir standen da, Arm in Arm, betrachteten das Bauwerk und schwelgten in Erinnerungen an unsere Schulzeit.
Ich dachte das erste Mal seit langem wieder an Jamie. Ich fragte mich, was er wohl machen würde, würde er noch leben, aber ich fragte mich nicht mit Bitterkeit.
Im diesem Moment, in dem ich Liams Arm um meine Mitte spürte, war ich so glücklich, dass ich mir nichts vorstellen konnte, das jemals Liams und meine Beziehung oder mein Glück in Gefahr geraten könnte.