Mich trägt mein Traum

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 15.08.2014, 19:36:37

Dafür bringt dieser Teil die Geschichte weiter voran - mit einem überraschenden Ensemblemitglied...

Meine Knie zitterten so sehr, dass mein Rock kleine Wellen schlug. Gott, mein Herz! War es überhaupt dazu gemacht, so schnell zu schlagen? Das konnte unmöglich gesund sein!
„Du bist noch immer so aufgeregt wie früher“, erklang es belustigt hinter mir, und ich presste meine Lippen zusammen und dachte: ruhig, Anouk. Mach ihm bewusst, dass du erwachsen bist und dass eure Zeit zurück liegt.
„Ich bin gar nicht aufgeregt“, log ich, „nicht im Sinne von ängstlich aufgeregt. Eher im Sinne von freudig aufgeregt. – Freudig, kann man das eigentlich sagen?“ Ich warf einen Blick auf die Uhr. „Okay, eigentlich müsste doch jemand kommen und uns sagen, wann wir bereit sein sollen, oder?“
„Wir sollen schon die ganze Zeit bereit sein. Und außerdem bist du aufgeregt. Du plapperst nämlich“, erwiderte er. Er – Daniel! Ich konnte immer noch nicht ganz fassen, dass er hier war. Hier, in meinem Ensemble, in meinem persönlichen Traum! Was bitteschön hatte er hier zu suchen? An der Stelle, an die ich mir Liam wünschte? Er stieß mich in die Seite.
„He, komm schon“, sagte er beschwichtigend. „Ich dachte, wir wollten Freunde bleiben?“
Das hieß ja noch lange nicht, dass er mir alles nachmachen musste. Ich schluckte den Kommentar herunter. Nein, das war ungerecht von mir. Aber der Moment, in dem ich ihn sah und mir klar wurde, dass wir nun zusammen arbeiten würden, war… schockierend gewesen. Mein Ex-Freund mit mir in einem Ensemble. Bei genauerem Nachdenken wusste ich gar nicht so genau, was mich daran störte. Wir waren erwachsen. Na ja, ziemlich neu erwachsen, aber trotzdem. Vor unserer Gruppe erschien eine Frau mit hohen Schuhen und ziemlich langen Beinen, die in einer schicken Anzughose steckten.
„Okay“, rief sie, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, „in fünf Minuten werdet ihr hereingerufen. Max redet ein bisschen, dann werdet ihr namentlich aufgezählt. Anschließend…“
„…singen wir Ewigkeit und die Hauptrollen kommen hereinmarschiert“, murmelte Daniel neben mir mit. Ich sah ihn an.
„Bist du gar nicht aufgeregt?“, flüsterte ich, als draußen Geklatscht wurde. Er zuckte mit den Schultern. „Doch. Aber es bringt mich nicht weiter, wenn ich mich damit selbst belaste. – Ist dein Freund hier?“
Liam wird sich die Cast-Präsentation im Internet ansehen“, sagte ich betont. Die Flügeltüre vor uns schwang erneut auf, und Max Arendt rief unsere Namen auf: das Ensemble von Tanz der Vampire. Wir betraten den Saal unter Applaus, ein bisschen Blitzlicht und Gemurmel, unterlegt mit dem Intro zu Ewigkeit. Wir hatten diesen Auftritt nur ein paar Mal geübt, aber zum Glück ging nichts schief: wir standen auf der Bühne, und ein paar Takte später war unser Einsatz. Ich war wirklich überrascht, wie gut wir schon als Ensemble funktionierten, und erinnerte mich an meine ersten Ensemble-Stunden auf der Schule: ich war in der Gruppe völlig verloren gewesen. Jetzt… war ich ein Teil eines großen Ganzen!
Anschließend wurden die Hauptdarsteller hereingerufen. Ich hatte nur Augen für Sofia Lopez, die Sarah spielte. Sie war ein völlig gegensätzlicher Typ zu mir: dunklere Haut, dunkelbraune Haare, ihre Stimme war ein wenig tiefer und kräftiger als meine, trotzdem sehr lieblich. Sie stand schon seit sechs Jahren auf der Bühne, kam gebürtig aus Spanien und arbeitete erst seit wenigen Jahren in Deutschland. Felix Clajus als Graf von Krolock dürfte für die wenigsten Fans ein Begriff sein: bisher hatte er bevorzugt in der Schweiz und in Österreich gespielt, und auch dort nur kleine Rollen. Was ich gar nicht verstehen konnte – er hatte eine angenehm rauchig-samtige Stimme, und die Weichheit seiner Züge dürften sich durch die Schminke sehr gut ins Gegenteil umkehren lassen. Die beiden sangen Totale Finsternis, und weil sie beide so starke Stimmen waren, war es ein fulminantes Duett. Insgeheim wünschte ich mir, ich könnte da vorne stehen, mit Marius oder gar Liam oder einfach irgendjemand, und mich glücklich schätzen, die Sarah zu spielen. Ich atmete tief ein. Ich wollte nicht neidisch sein oder missgünstig. Ich war dabei, das war alles, was ich immer gewollt hatte.

Die Cast-Präsentation fand vier Tage nach meinem denkwürdigen Gespräch mit Isabelle statt. Nachdem alle Fotos geschossen und die ersten Annäherungsversuche getan waren, trennten wir uns wieder, bevor in drei Wochen die Proben starten würden – zwei Tage nach meiner Derniere bei Marilyn! Und dann bist du nicht mehr so weit von Liam entfernt, dachte ich mit Herzklopfen. Eine neue Wohnung hatte ich schon. Es war schwieriger und teurer als erwartet, eine zu finden, und schließlich landete ich in einem Viertel, das nicht nur recht weit entfernt vom Theater war, sondern auch nur einen mittelmäßigen Ruf genoss. Aber was machte mir das! Ich kannte Berlin, ich war dabei. Ich war dabei… Das war dieser Tage mein Mantra. Hinter mir ertönten hastige Schritte, und Daniel verlangsamte stolpernd seinen Schritt neben mir.
„Wohnst du schon in Berlin?“, fragte er.
„Nein, ich muss wieder zurück nach Düsseldorf“, antwortete ich. „Ich spiele noch bis zum zwanzigsten bei Marilyn.“
„Und am dreiundzwanzigsten schon wieder hier“, schlussfolgerte er. „Aber du hast eine Wohnung?“
„Ja. Zum Glück. Zwischendurch dachte ich, ich würde keine bekommen. Aber mein Vater und meine Mutter haben mir bei der suche sehr geholfen.“
„Hast du noch guten Kontakt zu deinem Vater?“, erkundigte er sich.
„Ja, sehr guten!“, bestätigte ich. „Wir haben uns während der Ausbildung so oft getroffen…“ Ich lächelte. „Er ist wirklich nett.“ Wir blieben an einer Ampel stehen und ließen die Automassen vorbei rauschen.
„Wann musst du zurück?“, fragte er.
„Ich muss um halb sechs am Bahnhof sein“, erwiderte ich.
„Das ist in drei Stunden“, sagte er nach einem Blick auf die Uhr. „Kann ich dich dazu einladen, noch einen Kaffee trinken zu gehen und uns zu unterhalten? Auf kollegialer Basis, versteht sich.“
Ich zögerte kurz. Aber warum nicht?, dachte ich. Ich kann ihm schließlich nicht aus dem Weg gehen, nur weil wir mal zusammen waren.
„Gut“, nickte ich. „Aber ich bezahle meine Sachen selbst.“
Er verdrehte die Augen. „Von mir aus, Kollegin.

„Wie war die Cast-Präsentation?“
„Ach, es war einfach toll!“, schwärmte ich und legte die Füße auf den freien Platz mir gegenüber. „Aber du glaubst nicht, wer mit mir im Ensemble ist!“ Ich ließ Isabelle gar nicht raten. „Daniel!“
„Daniel wer? Daniel Behling, der Tenor?“
„Der würde wohl kaum eine Ensemblerolle annehmen! – Nein, Daniel Weiss. Mein Ex-Freund!“
„Oh“, machte sie. „Und jetzt?“
„Nichts und jetzt.“ Ich sah aus dem Fenster – es begann zu regnen. Der Frühling gab dieses Jahr nicht besonders viel her. „Wir hatten nie wirklich Streit. Es hat irgendwann nicht mehr gepasst. Es ist seine erste Rolle nach der Ausbildung, er hat ein Jahr nach mir angefangen. Wir waren nach der Präsentation noch zusammen essen.“
„Aha“, machte sie bedeutungsschwer, und ich versetzte ihr einen imaginären Schubser.
„Hör auf damit! Wir sind… Freunde und Kollegen. Ich habe vor, noch sehr lange mit Liam zusammen zu sein. – Sag mir lieber, wie es dir geht.“
Erst antwortete mir Schweigen. Bisher hatte sie ganz munter geklungen, aber am Telefon war es einfacher, sich zu verstellen.
„Ich habe morgen einen Termin beim Arzt“, antwortete sie schließlich leise. „Ich… denke, ich mache es.“
„Was? Du behältst das Baby?“
„Nein.“
Ich nickte langsam. „Okay. Es ist deine Entscheidung.“
„Glaubst du, es ist falsch? Bin ich ein schlechter Mensch?“
„Es ist falsch, etwas zu tun, was man nicht will. Außerdem ist es ja noch gar kein richtiges Baby, oder? Ich meine, es hat noch keine Gefühle…“ Ich war eigentlich gegen Abtreibung, aber ich wollte Isabelle nicht den Todesstoß versetzen und ihr mit Moral und Ethik kommen.
„Ja, du hast Recht. Ich… fühle mich auch ehrlich gesagt schlechter, weil ich Roman nichts sage.“
„Das Kind war ungewollt“, entgegnete ich, „was er nicht weiß…“ Gott, war ich abgebrüht!
„Ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen.“
„Ich kann’s verstehen. – Will er Kinder?“
„Er hat nie was davon gesagt. Seine Neffen kann er jedenfalls nicht ausstehen.“
„Es ist deine Entscheidung“, wiederholte ich. Ich wusste, das war nicht der Rat, den sie wollte, aber es gab ihr die Verantwortung, die sie brauchte. Ich beendete das Gespräch mit dem Versprechen, mich zu melden, lehnte mich zurück und hörte die Tanz der Vampire-Gesamtaufnahme. Und in meinem Kopf spielte ich die Sarah und war glücklich.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 16.08.2014, 11:37:29

Oh, da hab ich doch glatt gestern Abend gelesen und wurde danach abgelenkt, so dass ich den Kommentar vergessen hab. Wird hiermit nachgeholt!
Manchmal sind es für mich zu viele Zeitsprünge. Ich hatte fast erwartet, dass es direkt am nächsten Teil weitergeht. Oft muss man leider erst ein paar Zeilen lesen, um zu verstehen, was gerade passiert. Dennoch - schöne Idee mit der Castpräsentation und dass Daniel mit im Ensemble spielt. Kurze Frage: Nur Ensemble oder hat er auch inen Cover? Beim ersten Engagement wäre ja Ensemble in so einer großen Produktion schon mal gut ;)
Beim Gespräch mit Isabelle hab ziemlich lange gebraucht, um zu verstehen, dass sie sich am Telefon unterhalten, das hättest du vllt deutlicher machen können. Aber dass Isabelle nicht mit ihrem Freund darüber spricht... Wenigstens das sollte sie doch tun!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon little miss sunshine » 16.08.2014, 11:42:40

War ja irgendwie klar,dass Daniel wieder auftaucht :roll:. Warum ist Anouk denn so angespannt im Umgang mit ihm? Eigentlich war doch zwischen Ihnen alles geklärt -oder?!
Anouk sollte doch mal zufrieden sein,wo sie grade steht! Irgendwie schießt sie mir langsam etwas über's Ziel hinaus. Klar will man oft gerne das,was man (noch) nicht hat,aber sie ist doch jetzt schon so nahe an ihrem Traum - da sollte sie nicht übermütig werden...

Ich hoffe,Isabelle trifft die richtige Entscheidung - mit der sie dann zufrieden ist (und nicht ihre Eltern,ihr Freund oder sonst wer).

Erfährt man eigentlich mal wieder was von Anouks Eltern?
Und was ich noch mal richtig gut fände: Wenn noch mal ein "echter" Musicaldarsteller auftaucht,der für Anouk (persönlich und/oder privat) interessant sein könnte...auf jeden Fall freu ich mich über eine baldige Fortsetzung!
Is this the real life, is this just fantasy...

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 17.08.2014, 18:09:32

little miss sunshine hat geschrieben:Und was ich noch mal richtig gut fände: Wenn noch mal ein "echter" Musicaldarsteller auftaucht,der für Anouk (persönlich und/oder privat) interessant sein könnte...auf jeden Fall freu ich mich über eine baldige Fortsetzung!
Es wird einer auftauchen, aber über weitere Details hülle ich mich in geheimnisvolles Schweigen :)
Nicht nur euch ist aufgefallen, dass Anouk sich in Zukunftsvisionen verliert. Hier der neue Teil:

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht so traurig wie sonst fühlte, als ein weiteres Stück zu Ende ging. Aber die Derniere von Marilyn war überschattet von gepackten Koffern, Abschieden und Reiseplänen. Ich war vielleicht nicht übermütig, aber ich ging mein Ende doch mit einer gewissen Euphorie an.
Der Schlusston, die Rosen, der Applaus. Die Tränen einiger anderen Darsteller – ich bekam all das kaum mehr mit. Wie in einem Wahn freute ich mich auf die anstehenden Proben.
„Anouk, wo willst du hin?“, fragte mich Eva, die Darstellerin der Marilyn, als ich aus meiner bereits geräumten Garderobe verschwand und mich dem Ausgang zuwandte.
„Nach Hause“, antwortete ich. Sie sah mich halb erstaunt, halb geschockt an, einen Rest hartnäckigen roten Lippenstift auf dem Mund.
„Aber… Wir wollten gemeinsam Essen gehen!“, protestierte sie. Ich starrte sie an.
„Essen gehen?“, echote ich und kramte peinlich berührt in meiner Erinnerung nach einer Anmerkung, die ein Essen ankündigte.
„Ja, Anouk“, antwortete sie gereizt. „Wir haben einen Tisch bestellt, um ein letztes Mal zusammensitzen zu können.“
Ich wusste nicht, wie ich ihrer plötzlichen Feindseligkeit begegnen sollte. Könnte ich mich an diese Verabredung mit dem Ensemble erinnern, könnte ich zurückgiften – aber ich wusste rein gar nichts davon! Das schien sie mir anzusehen.
„Ehrlich, Anouk, warst du in den letzten Tagen wirklich nur noch körperlich anwesend?“ Sie sah mich verärgert an. „Du bist nicht die einzige, die ein neues Engagement hat, weißt du? Wir freuen uns alle, dass es weitergeht, aber trotzdem kann es nicht sein, dass du ständig mit den Gedanken woanders bist!“
„Ich bin nicht“, hob ich an und brach dann ab. „Natürlich denke ich an das anstehende Engagement“, sagte ich dann. „Wer tut das nicht?“
„Bis auf dich hat niemand das Abschiedessen vergessen.“
Bei aller Scham darüber begannen ihre Vorwürfe mir an den Nerven zu ziehen. „Okay, Eva, ich hab’s verstanden“, gab ich klein bei. „Tut mir leid, ich hab’s eben vergessen. Ich komme natürlich mit.“
Sie sah nicht sehr überzeugt ob meiner Entschuldigung, nickte aber. „Danke“, sagte sie kühl und machte sich auf den Weg in ihre Garderobe. Ich stand da, unsicher. Es gab nämlich noch eine entscheidende Sache zu klären.
„Eva?“, rief ich, und sie drehte sich zu mir um. Es kostete mich einiges an Mut und Überwindung, sie zu fragen. „Wo treffen wir uns?“

Es war die wohl kühlste Abschlussfeier, die ich je miterlebt hatte. Eva, die durch meine Frage tief in ihrem Stolz gekränkt war, hatte gar nicht darauf geantwortet, und so kam ich nicht nur völlig unorganisiert, sondern auch sehr verspätet bei den bereits Wartenden an. Es herrschte eine unangenehme Stimmung, und durch den peinlichen Vorfall war das Ensemble plötzlich sehr zweigespalten. Einige der Konfliktängstlichen schwebten die ganze Zeit zwischen uns beiden Hauptdarstellerinnen herum, bemüht, niemanden mehr zu bevorzugen als die anderen. Es war eine seltsame Situation, der ich mich nicht gewachsen fühlte. Mit weichen Knien und nervösen Fingern wartete ich darauf, dass es endlich spät genug war, um gehen zu können. Ich verstand nicht, warum Eva mir so böse war; ich sah ja selber ein, dass ich in den letzten Tagen unaufmerksamer war als wünschenswert gewesen wäre. Offenbar wertete sie mein Verhalten als Geringschätzung ihrer Arbeit, wie mir im Nachhinein klar wurde. Ich hatte bisher nie Streit mit ihr gehabt; wir hatten gemeinsam eine Person gespielt und viel miteinander geübt. Allerdings, fiel mir auf, als ich müde und niedergeschlagen meine Wohnung betrat, nie auf persönlicher Ebene. Wenn wir miteinander gesprochen hatten, ging es immer nur um das Stück…
Ich fragte mich, ob ich mich in meinem Erfolg in irgendetwas verrannt hatte. Mein Zorn über Daniels Auftauchen, meine Ungeduld bei Marilyn, meine exzessive Vorfreude – das alles kam mir plötzlich albern und abgehoben vor. Ich dachte an den Abend zurück und verdrückte ein paar Tränen, aus Trotz und Reue, und dachte darüber nach, Eva anzurufen und mich noch einmal zu entschuldigen. Aber falls sie schon im Bett war, würde sie mich nach einem nächtlichen Anruf tatsächlich abgrundtief hassen. Seufzend ließ ich mich aufs Bett fallen und starrte auf meine gepackten Koffer. War ich dieses Engagement falsch angegangen? War es für mich nur ein Lückenfüller gewesen, um das lange Warten auf Tanz der Vampire zu verkürzen? Ich hatte plötzlich das Gefühl, die Zeit nicht richtig genutzt zu haben. Im Nachhinein kam sie mir nebelig und unwirklich vor. Ich ließ mich auf das Kissen zurückfallen. Mein schlechtes Gewissen ließ mich erst sehr spät einschlafen.

Ich atmete tief ein und zwang mich, endlich wieder gute Laune zu haben. Denn ich stand kurz vor meiner Abreise, genau genommen stand ich am Düsseldorfer Hauptbahnhof, meinen gepackten Handkoffer in der Hand, und um mich rauschte es vor Stimmen. Schritte klopften und taperten über den Boden, Kofferrollen surrten, das Echo einer fernen Durchsage, Flügelschlag der Tauben. Es roch, wie es immer auf Bahnhöfen roch: nach altem Essen, nach weitgereisten Menschen und verbrauchter Luft.
„Das ist dein Zug“, sagte Mama nach einer Durchsage, die ich nicht richtig mitbekommen hatte. Ich blinzelte und sah nach links. Ja, da fuhr der Zug ein. Sie legte den Arm um mich und drückte mich.
„Ich wünsche dir ganz, ganz viel Spaß!“, sagte sie. „Ich werde jede noch so kleine Neuigkeit sofort erfahren!“ Sie hob die Stimme, als der Zug einfuhr. „Überanstreng dich nicht!“, rief sie, „und ruf an, wenn du da bist!“
„Ja, Mama.“ Ich gab ihr einen flüchtigen Kuss.
„Reservier uns die besten Plätze!“ Mit uns meinte sie die ganze Familie, Papa neuerdings eingeschlossen.
„Ja, mache ich.“ Ich stieg ein und drehte mich noch einmal um, um ihr zu winken. Als die Türen sich schlossen und der Zug langsam anfuhr, stand sie immer noch am Bahnsteig und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Ich sah es und hob mahnend den Finger, ehe sie nicht mehr zu sehen war und ich mich aufmachte, um meinen Platz zu finden.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 17.08.2014, 18:28:34

Gut, dass Anouk scheinbar wieder auf den Teppich kommt. Dennoch verstehe ich Evas Reaktion nicht völlig, aber nun gut. Vllt ist sie ja auch eifersüchtig, dass Anouk so ein tolles Engagement bekommen hat?
Ich bin auf ihre Zeit bei den Vampiren gespannt. Lass uns nicht zu lang auf die Proben warten! Und ein Treffen mit Liam ist auch längst mal überfällig!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 18.08.2014, 20:28:49

Zumindest das Warten auf die Proben hat mit dem neuen Teil ein Ende. Straßennamen und Orte existieren übrigens wirklich - in der Feurigstraße neben der genannten Passage hatten wir unser Apartment, als ich das erste Mal TdV in Berlin sah :)

Ich erklomm die letzten Treppenstufen und sah mich um. Kleistpark stand in weißen, großen Lettern auf einem blauen Schild über dem Geländer, das die Treppe hinunter in die Bahnstation eingrenzte. Ich kramte den Routenplaner hervor, den der Vermieter mir geschickt und den ich mir ausgedruckt hatte. Unschlüssig drehte ich erst die Karte, dann mich im Kreis und setzte mich schließlich in Bewegung, der Richtung folgend, die mir am logischsten erschien. Nach etwa fünfzehn Minuten langsamem Fußmarsch passierte ich ein Straßenschild, das mich fast zum Lachen brachte: Herbertstraße. Ich nahm die Namensverwandschaft zwischen meiner Nachbarstraße (denn ein paar Meter weiter entdeckte ich meine Straße) und einem meiner Lieblingscharaktere aus Tanz der Vampire als gutes Omen – das erste an diesem Tag! Der Zug hatte auf halbem Wege eine Panne gehabt, wir hatten aussteigen und eineinhalb Stunden auf den Ersatzverkehr warten müssen. Nun dämmerte es bereits. Ich bog in die Feurigstraße ein bis zu dem Haus direkt neben der Kaiser-Wilhelm-Passage. Unschlüssig sah ich an der gelben Fassade mit den weißen Balkonen hinauf. Zugegeben, das Gebäude sah nicht sehr einladend aus, aber ich hatte keinen Schick erwartet. Ich konnte es mir nicht mehr leisten, wie bei Rebecca in einem Hotel zu wohnen – und ich wollte es auch nicht. Ich zog den Schlüssel aus meiner Geldbörse, wo ich ihn aufbewahrte, und schloss die Haustüre auf. Meine Wohnung lag im zweiten Stock. Ich gelangte ohne Probleme hinein und stand in einem quadratischen, kleinen Flur, ausgestattet mit vier Garderobenhaken, einem Spiegel, einem schmalen Tischchen und einem gerade mal hüfthohen Kühlschrank neben bescheidener Küchenzeile. Die Tür rechts von mir führte in ein praktisches, kleines Bad, geradeaus ging es in ein Wohnzimmer. Das Schlafzimmer, das beinahe vollständig von Kommode und Doppelbett ausgefüllt wurde, war zusätzlich zugestellt mit meinem zweiten großen Koffer, den ich per Post vorgeschickt hatte. Ich atmete erleichtert aus – er war also schon angekommen! Ich hatte immer etwas Sorge, dass er einmal verloren gehen könnte, zusammen mit all meinen Klamotten und persönlichen Gegenständen.
Auf dem Wohnzimmertisch lag ein Zettel mit kurzer Begrüßung und diversen Telefonnummern, aufgeschrieben vom Hausmeister. Außerdem hatte er mir den kürzesten Weg zum Theater des Westens aufgeschrieben: mit dem Bus M46 einige Meter weiter dauerte es gerade mal 24 Minuten, ehe ich mein Ziel erreichte. Ich beschloss, ihn direkt anzurufen und mitzuteilen, dass ich gut angekommen war. Anschließend würde ich meine Wohnung ein wenig persönlicher einrichten.

Die Wegbeschreibung zum Theater des Westens nützte mir gar nichts, wie ich am letzten Abend festgestellt hatte. Denn unsere ersten Proben fanden auf der Probebühne des Theater Strahl im Kulturzentrum Weiße Rose statt. Die M46 fuhr allerdings auch dorthin, wie ich erleichtert feststellte. Am nächsten Morgen fuhr ich also eine Viertelstunde lang zu dem weißen Gebäude mit dem runden Dach, dem Kulturzentrum Weiße Rose, was in schwarzen Lettern über der Tür stand. Ich trat wie üblich ein wenig unsicher durch die große, graue Flügeltüre in das etwas nüchtern wirkende Foyer. Das Ensemble war schon da, jedenfalls ein Teil, ich erkannte einige Gesichter wieder. Zunächst stand ich unschlüssig herum, aber als ich sah, dass die meisten inzwischen ins Gespräch gekommen waren, entschloss ich mich dazu, mich einfach zu einer Gruppe zu gesellen. Anders würde ich wohl kaum Kontakte knüpfen können. Ich ging also auf ein Vierergrüppchen zu, von dem ich wusste, dass einer von ihnen Alfred spielte.
„Darf ich?“, fragte ich, um nicht ungewollt aufdringlich zu wirken.
„Aber sicher“, antwortete die Frau neben mir und reichte mir auch gleich eine stark beringte Hand. „Mareike Sasson.“
Nach und nach stellten sich alle vor, und wir tauschten uns über unsere Unterkünfte, Herkünfte, Erwartungen und Erfahrungen aus. Irgendwann stieß auch Daniel dazu, und ich bemerkte erstaunt, dass ich sehr erleichtert war, jemand Bekanntes im Ensemble zu haben. Bisher hatte ich mich eigentlich nie einsam gefühlt, aber es war trotzdem schön, nicht völlig fremd zu sein.
Etwa zwanzig Minuten später, als alle versammelt waren und es ziemlich laut geworden war, tauchten der Intendant Max Arendt, Regisseur Emmanuel Cohen und die Choreografin Renee Schneider auf. Max sagte ein paar Willkommensworte: dass er sich freute, die Proben endlich beginnen zu können, dass er sicher war, ein glanzvolles Ensemble vor sich zu sehen und so weiter. Anschließend schlug Emmanuel vor, direkt zur Probebühne zu gehen. Wir folgten ihm, schweigend oder aufgeregt redend, springend und unsicher vorangehend, in einen unerwartet großen Zuschauerraum.
„Legt eure Sachen einfach auf die freien Plätze!“, rief Renee uns zu, und es dauerte weitere fünf Minuten, ehe wir uns alle eingerichtet, einen Schluck getrunken und noch einmal die Haare zusammengebunden hatten. Dann aber standen wir auf der Bühne, ein kunterbunter Haufen, der für die nächsten paar Monate zu einem festen Ensemble zusammenwachsen wollte. Emmanuel hieß uns noch einmal willkommen und stellte uns Renee vor, ehe er zu den organisatorischen Dingen überging:
„Heute werden wir uns erst einmal kennen lernen, ich möchte ein paar Warm-ups machen, jeder stellt sich kurz vor und so weiter.
Ab morgen gilt dann unser Probenplan, der jedem noch einmal per Mail geschickt wird.“ Er wies auf einen dicken Blätterstapel auf dem Boden. „Ich möchte morgen mit einfacher Rolleninterpretation beginnen; eure Eindrücke und Gedanken über die Charaktere sammeln. Die Proben werden gewöhnlich so ablaufen, dass wir uns gemeinsam oder in kleinen Gruppen aufwärmen, ehe das Gesangsensemble dann mit Renee die Choreographien einüben wird und die Hauptdarsteller mit mir an Gesang, Darstellung und szenischer Umsetzung arbeiten. Nach einer Mittagspause tauschen wir, das heißt ich übernehme das Ensemble und Renee die Hauptdarsteller. Ab und zu werden wir auch gemeinsame Proben einlegen; seit auf jeden Fall immer bereit und nehmt euch bis zu den Uhrzeiten auf dem Plan nichts vor. Es kann natürlich immer mal vorkommen, dass wir kürzer arbeiten, aber besonders in der Endphase wird es auch mal später.“ Er griff nach dem Stapel mit den Plänen und ließ ihn rumgehen. „Diejenigen, die ein Cover haben und im Ensemble mitwirken, werden sich die Zeit noch einmal anders einteilen“, fuhr er fort. „Das erfordert große Disziplin, aber ich denke, wenn ihr die nicht hättet, wäret er nicht hier.“ Er schürzte die Lippen und schien kurz zu überlegen, ob er etwas vergessen hatte. Es schien nicht so.
„Gut. Dann sucht euch alle einen Platz auf der Bühne – ja, ich weiß, es wird eng, dann stellen sich ein paar auch noch hier unten hin – genau. Gut. Stellt euch aufrecht hin, Füße schulterbreit, und dann…“
Wir wärmten uns eine ganze Weile auf, arbeiteten an Atmung, Bewegung und Stimme, ehe Emmanuel uns bat, uns in den Zuschauerraum zu setzen.
„Gut. Ich möchte, dass jeder sich vorstellt. Wer will als erstes?“
Der Junge, der den Alfred spielte – er hieß Lukas – sprang sofort auf und betrat die Bühne. Emmanuel nickte zufrieden und schien ein Grinsen zu unterdrücken.
„Damit es nicht zu trocken wird: Renee wird dort unten am Klavier eine Melodie spielen, zu der du deine Begrüßung singen wirst.“
Ich bekam einen kleinen Schreck, aber er fragte ganz locker: „Irgendeine Melodie?“
„Irgendeine“, bestätigte Emmanuel. „Zeigt, was ihr mit eurer Stimme erreichen könnt, erzählt mit eurer Stimme, eurem Körper – nicht nur mit euren Worten. Lasst euch etwas einfallen, kurzum: improvisiert.“
Lukas, den ich schon im Foyer als etwas aufgedreht erlebt hatte, rechnete offenbar mit einer flotten, lustigen Melodie und machte sich locker. Als Renee ein todtrauriges Lied anstimmte, schaute er kurz verdutzt, und wir mussten lachen. Aber er machte schnell etwas darauf: überdramatisch und somit lustig auf seine Weise wurschtelte er sich eine Ballade zusammen, mit opernhaften Gesten und leidenschaftlichen Blicken. Ich lachte Tränen, weil er seine eigentlich ganz bescheidene Geschichte so sehr ausschmückte, dass sie zu etwas besonderem wurde.
Ich meldete mich, als wir etwa die Hälfte aller Mitglieder hinter uns hatten. Weil meine anfängliche Nervosität der unbändigen Lust auf Singen und Spielen gewichen war, stand ich nach Laura, einer etwas korpulenten Frau mit unglaublich starkem Berliner Akzent, auf und betrat die Bühne. Renee stimmte eine beschwingte uptempo-Nummer an, deren Melodie gut greifbar war und zu der ich zum Glück einige Ideen hatte. Ich hatte großen Spaß daran, meine Geschichte zur Melodie passend etwas ironisch zu erzählen, ich verlangte meiner Stimme dabei alles ab und sang sowohl so hoch als auch so tief ich konnte.
Emmanuel hatte sich mit dieser Aufgabe bereits jetzt sehr viele Freunde gemacht; das manchmal etwas trockene Kennenlernen hatte uns heute nicht nur Spaß, sondern auch vertrauter gemacht. Und es nahm mehr Zeit ein, als wir alle vermutet hatten, und Emmanuel entließ uns am späten Nachmittag. Ich beschloss aus lauter Übermut, zu Fuß nach Hause zu gehen, und verlief mich gnadenlos. Aber es war mir egal.
Ich fühlte mich wunderbar.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 18.08.2014, 23:19:05

Ein schönes Kennenlernen :)
Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht. Faszinierend, dass du allen direkt einen kompletten Namen gibst, ich find Namenfindung immer verdammt schwer!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 25.08.2014, 17:47:12

Gaefa hat geschrieben:Ein schönes Kennenlernen :)
Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht. Faszinierend, dass du allen direkt einen kompletten Namen gibst, ich find Namenfindung immer verdammt schwer!

Ach, ich nehm einfach Namen von meinen Musical-Hits-CDs und setz sie neu zusammen :oops: ;)
So, jetzt hab ich ja dank meines nicht vorhandenen Immunsystems etwas mehr Zeit gehabt, also... Ein neuer Teil :)

Proben konnten nicht nur spaßig sein, sondern auch sehr anstrengend. Das bemerkte ich eine Woche später, als ich Sonntagmorgen beschwingt aus dem Bett hüpfen wollte und mich gerade noch an der Wand abstützen konnte, ehe mein gnadenlos überstrapazierter Rücken meinen Beinen befehlen konnte, gefälligst einzuknicken, damit er wieder seine Ruhe haben konnte. Ächzend setzte ich mich auf die Bettkante und streckte mich vorsichtig. Ich hatte das Gefühl, jeden Muskel spüren zu können. Offenbar war ich die gestrigen Übungen falsch angegangen: Renee erarbeitete die Ewigkeits-Choreographie in geradezu minimalistischen Schritten: jede Bewegung musste analysiert werden und sitzen, wir hatten tausende von Übungen gemacht, und gerade, als es mir gelungen war, steif und vampirmäßig zu gehen, wurden die Proben beendet.
Und heute, ausgerechnet heute, musste ich steif wie ein Brett sein! Ich stand erneut auf, vorsichtiger diesmal, und humpelte durch die Wohnung. Es war bereits halb elf, ich hatte länger geschlafen, als ich dachte (aber es war nötig gewesen!), und jetzt musste ich mich auch noch beeilen. In Windeseile warf ich zwei Brotscheiben in den Toaster, suchte etwas zum Anziehen heraus und schlang noch im Stehen mein Frühstück herunter, ehe ich mich fertig machte. Ich starrte immer wieder auf die Uhr, und mit jeder Minute, die der Minutenzeiger hinter sich ließ, wurde mein Bauchkribbeln größer, mein Herzklopfen schneller. Um halb zwölf konnte ich mich endlich auf den Weg machen. Meine Füße in den hohen Schuhen fühlten sich ungewohnt an, obwohl der Absatz gar nicht mal so hoch war. Aber da ich die letzten Tagen in bequemen Turnschuhen oder Ballettschlappen verbracht hatte, war es doch eine Umstellung.
Es dauerte eine Ewigkeit, in die Innenstadt zu kommen, zumindest kam es mir so vor. Ungeduldig rutschte ich auf meinem Platz hin und her. Aber schließlich erreichte ich mein Ziel: das Brandenburger Tor. Der Platz war, wie üblich, voller Touristen. Es war angenehm lauwarm, laut, bunt und unübersichtlich. Ich versuchte, in dem Gewimmel jemanden auszumachen, als mich von hintern zwei Arme umschlangen und sich ein Mund sacht auf meinen Nacken drückte.
„Du hast mich erschreckt“, sagte ich schlicht und drehte mich um, um Liam noch einmal richtig küssen zu können. Er sah ein wenig verändert aus; allerdings konnte ich keine äußerliche Veränderung ausmachen. Er wirkte einfach… erwachsener auf mich. War es tatsächlich so lange her, dass ich ihn gesehen hatte?
„Und, wohin wollen wir gehen?“, fragte er und nahm meine Hand. „Dort drüben ist Starbucks.“
„Oh nein, lieber nicht!“, erwiderte ich eine Spur zu heftig. Er hob fragend eine Braue.
„Na ja, Starbucks ist nun wirklich nichts besonderes“, versuchte ich zu erklären. „Wie wär’s, wenn wir einfach ein bisschen rumgehen?“ Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich mich hier vor zwei Jahren von Daniel getrennt hatte. Es kam mir irgendwie falsch vor, mit Liam im gleichen Café zu sitzen wie einst mit meinem Exfreund. Er zuckte mit den Schultern.
„Gut. Gehen wir.“

Wir fanden ein nettes, etwas abseits gelegenes Restaurant in der Nähe des Alexanderplatzes, zu dem wir uns durchgekämpft hatten. Dort saßen wir nun, gönnten uns Kuchen und Kaffee und tauschten uns über unsere Engagements aus.
„Ich will alles wissen“, sagte Liam.
„Was alles?“
„Na, über die Proben, deine Wohnung. Deine Kollegen.“
Ich rührte in meinem Kaffee und gab bedächtig etwas Zucker dazu. „Ach, die Wohnung ist ganz in Ordnung“, antwortete ich. „Ich bin ja meistens im Theater. Und die Proben sind… anstrengend. Aber spannend und interessant, witzig, lehrreich… willst du weitere Adjektive hören?“
Er grinste. „Nein. Ich weiß ja, wie wichtig dir dieses Engagement ist. – Wie ist das Ensemble?“
„Sehr nett.“
„Irgendjemand bekanntes?“
„Ach, niemand allzu besonderes. Überraschenderweise.“
Er nickte. „Jemand, den du kennst?“
Warum musste er so neugierig sein? Ich seufzte und beschloss, ehrlich zu sein. „Ja, Daniel Weiss“, antwortete ich locker. Er sah mich kurz irritiert aus, ehe es ihm dämmerte.
„Warst du nicht mit dem zusammen?“, fragte er etwas verblüfft.
„Ja, aber das ist ja schon ewig her. Ich meine, dass wir so richtig verknallt waren, meine ich. Du musst dir also keine Sorgen machen.“
„Hm.“ Er runzelte die Stirn.
„Gibt es denn bei dir etwas neues?“, hakte ich schnell nach, ehe er beschließen konnte, Daniel gegenüber misstrauisch zu werden – oder mir! Bei meiner Frage hellte sich seine Miene deutlich auf. „Allerdings!“, sagte er lebhaft. „Du weißt ja von diesen Verhandlungen, die mich so aufgehalten haben?“
„Allerdings“, gab ich gespielt beleidigt zurück.
„Na ja, die waren sehr wichtig, denn…“ Er brach ab und sah sich schuldbewusst um. „Ich darf eigentlich noch gar nichts sagen“, flüsterte er, und sofort war meine Neugierde geweckt.
„Komm schon! Wer A sagt, muss auch B sagen!“, bettelte ich. „Ich sag’s nicht weiter, versprochen!“
Er sah sich noch einmal um, zögerte, beugte sich schließlich vor. Winkte mich heran. Wir mussten schon ein seltsames Bild abgeben, wie wir Nase an Nase über unser Essen gebeugt saßen.
„Louis steigt bald aus“, begann er leise.
„Louis spielt das Phantom?“, fragte ich vorsichtshalber. Er nickte bedeutungsschwer.
„Und jetzt“, fuhr er fort, und selbst aus der maximalen Nähe hatte ich Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, „sind die letzten Verträge abgeschlossen: ich werde das Phantom der Oper!“
Ich zuckte zurück und grinste. „Nicht dein Ernst!“, sagte ich laut.
„Klar.“ Er war mehr als selbstzufrieden.
„Wann wird es öffentlich gemacht?“
„Keine Ahnung. Louis will es irgendwann ankündigen, wenn die Produzenten das Okay geben.“
„Das ist Wahnsinn, Liam!“
„Du solltest dich anstrengen!“, erwiderte er lachend. Ich runzelte die Stirn.
„Anstrengen, wofür?“
„Na, um die nächste Christine zu werden!“
Jetzt war es an mir, zu lachen. „Oh nein, mein Freund! So schnell kriegst du mich von den Vampiren nicht weg!“
Er schürzte die Lippen, scheinbar uneins mit sich, wie er darauf reagieren sollte. Dann zuckte er die Schultern. „Du musst wissen, wohin du willst“, sagte er, aber es war halb so ernst gemeint, wie es klang. Wir aßen eine Weile schweigend, irgendwann griff er nach meiner Hand und strich über meine Finger.
„Guck nicht so böse, Erik!“, sagte ich, und versetzte ihn mit diesem Kommentar schon wieder in Alarmbereitschaft. Als ob jemand mit Erik etwas anfangen könnte – solange ich ihn nicht Phantom nannte, würde niemand Verdacht schöpfen.
„Ich bemerke, dass ich etwas eifersüchtig bin“, gab er dann zu und erklärte seine nachdenklich-grimmige Miene.
„Eifersüchtig? Du?“
Er sah mich an und zog die Brauen zusammen. „Allerdings. Dass dieser Daniel im Ensemble ist… Irgendwie passt mir das nicht.“
Ich entzog ihm meine Hand. „Also, erstens sind wir erwachsene Menschen, es gibt also keinen Grund, wegen so etwas Streit zu beginnen. Zweitens seid ihr so etwas wie Kollegen, zumindest seid ihr vom gleichen Fach. Und drittens… fühlt es sich blöd an, wenn du mir misstraust.“
„Ich misstraue dir doch nicht!“, sagte er beschwichtigend und fischte wieder nach meiner Hand. „Ich liebe dich, das ist alles. Da darf ich ja wohl eifersüchtig sein, dass du mit deinem Exfreund im gleichen Ensemble spielst statt mit mir?“
„Irgendwann!“, versprach ich. „Irgendwann werden wir gemeinsam auf der Bühne stehen.“
„Und sei es als Monsieur Firmin und Madame Giriy!“, stimmte er aus tiefstem Herzen zu.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 25.08.2014, 19:14:42

Ich muss gestehen, dass mir diese Entwicklung nicht passt, sry. Aber das Phantom? Ich meine, wie alt ist Liam? über 25? Wirkt er wirklich schon so erwachsen? Hat er eine genug klassische Stimme und Ausbildung für diese Rolle? Mit Raoul konnte ich leben, weil er auch etwas jugendlicher sein sollte, aber Phantom? Tut mir leid... Ich weiß, Christian Müller hat auch mit 25 das Phantom gespielt. Allerdings sehe ich ihn als außergewöhnlich guten Sänger an, der eine gute klassische Ausbildung hat. Er hat schon mit 21 den Javert gespielt. Er sah nicht nach 25 aus, als er die Rolle des Phantoms bekommen hat. Erst sollte er kein Cover bekommen, weil er zu jung war. Soweit ich es in Erinnerung habe, hat er das Cover nur durch Zufall erhalten. Mir wird es nun ein bisschen zu viel Gutes für die Neulinge, leider. Die Firstcast Raoul hätte ich ihm noch zugetraut, aber nicht das Phantom. Dafür hat er a) zu wenig Erfahrung und ist b) zu jung! Das ist meine Meinung dazu.
Dennoch schön, dass die beiden sich endlich wiedersehen :)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 26.08.2014, 19:52:04

@Gaefa: Warten wir es doch erst einmal ab, vielleicht zerschlägt es sich ja noch, da es ja offenbar noch geheim sein soll. Das wäre zwar herbe für den armen Liam, aber sicher auch kein schlechter Plot Twist.

Ansonsten hoffe ich, dass es kein Eifersuchtsdrama gibt, ich finde es schön, dass du das mit Annouk und Daniel so unkomplizert gelöst hast. Kurze Anmerkung: Die meisten Stage Shows, die ich kenne, haben auch während der Proben schon den "wir arbeiten Dienstag bis Sonntag und haben Montag frei" Rhythmus. Aber das macht ja nichts, das ist künstlerische Freiheit :-).

Also, ich bin auf die Fortsetzung schon sehr gespannt!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 07.09.2014, 18:48:03

So, bevor ich morgen ins Praktikum gehe und endgültig keine Zeit mehr habe, noch schnell ein neuer Teil.
Danke für eure Kritik, auch dass sie nicht nur positiv ist. Ich werde sehen, was mit Liam noch so passiert.

„Anouk, du siehst wirklich… wie soll ich es nur ausdrücken…? Ja, du siehst schrecklich aus!“
Ich warf Daniel einen bösen Blick zu, wofür ich mich gar nicht groß anstrengen musste. „In dieser Situation nehme ich das als Kompliment. – Sieh dich selbst an.“ Ich wies auf den Spiegel und er zuckte mit den Schultern.
„Geht nicht. Vampire haben kein Spiegelbild.“ Trotzdem trat er näher und schnitt einige Grimassen vor dem Spiegel. „Obercool“, murmelte er und strich sich durch die blaugrüne Lockenperücke. Ich trat neben ihn. Wir sahen zusammen wirklich skurril aus: ich in meinem blau schimmernden Kleid mit ausladenden Ärmeln, blauweißer Perücke und verrutschtem Krönchen sowie sehr kantig geschminkten Gesichtszügen, er in edlem Überrock, Strumpfhosen und mit besagter Perücke auf dem Kopf.
„Fehlen nur noch die Zähne“, sagte Katie, die mich geschminkt hatte, hinter uns, und hielt mir ein Plastikdöschen hin. Ich verzog den Mund. Ich konnte mich noch sehr genau daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte, den Zahnabdruck zu machen. Die Zahnärzte hatten nicht schlecht gestaunt als sie erfuhren, wofür sie da arbeiteten – und wie unsere Dritten aussehen sollten. Ich griff nach dem Gebissteil und setzte es mir ein. Für jeden Darsteller gab es zwei Sonderanfertigungen. Ich grinste mein Spiegelbild an.
„Sag mal was!“, rief Daniel begeistert.
„Ewichkeit ichk Langewei-e auch Gauer“, sang ich. „Oh je. Dach klingt nicht guk, oger?“
Daniel und Alexia, die zu uns gestoßen war (weißes Gesicht, Blut im Mundwinkel, strenge Frisur) schütteten sich fast aus vor Lachen. Ich schob den Daumen unter die Prothese und mit einem schmatzenden Klack löste sie sich wieder. „Macht es erst mal besser!“, protestierte ich.
Und das versuchten sie. Beim gemeinsamen Proben – heute das erste Mal in voller Kostümmontur (bisher hatten wir höchstens mal einen Umhang oder andere Schuhe getragen) – ging es heute besonders lustig zu. Am Ende der Probe hatte ich das Gefühl, im gesamten Kieferbereich Muskelkater zu haben, aber wenigstens konnte sich jetzt niemand mehr über undeutliche Aussprache der Schauspieler beklagen. Ich zog mich vorsichtig um, immer darauf bedacht, bloß keinen Schaden an dem wirklich wunderschönen, aufwendig gearbeiteten Kleid anzurichten. Das Abschminken dauerte nervenzerreißend lange; eine halbe Packung Abschminktücher ging drauf, ehe ich wieder halbwegs menschlich aussah. Anschließend ging es wieder in die Maske, zumindest für mich und alle anderen, die ein Cover hatten. Auch dort ging es an erste Anproben: das erste Mal zog ich Sarahs weißes Nachthemd über, schlüpfte in Schuhe und Mantel und legte sogar das Tuch um.
„Sehr schön“, sagte Katie, die unablässig mit einem Maßband in den Fingern und Stecknadeln zwischen den Zähnen herumlief, „der Saum müsste etwas gekürzt werden, sonst sähe es schrecklich aus…“ Sie begann, den Stoff umzuschlagen und mit flinken Bewegungen die gewünschte Länge abzustecken. Ich starrte die ganze Zeit nur in den Spiegel mir gegenüber, starrte, starrte… Ein wenig schwindlig vor Müdigkeit, Stolz und Glück und dem ganzen Umziehen ließ ich mir in das rote Ballkleid helfen. Es lag eng an, ohne dabei einengend zu sein; ich machte ein paar Atem- und Stimmübungen sowie mehrere Verbiegungen, die ich so auf der Bühne (hoffentlich!) nie tun würde, ehe Katie mir zu guter Letzt die beiden Perücken aufsetzte. Wir mussten ein paar ausprobieren, bis wir die passenden gefunden hatten, und ich sah zu, wie sie die Haare mit einem kleinen Namensschild versah. Mein Herz machte einen Hüpfer. Heute hatte ich meine Kostüme das erste Mal getragen. Und es war, als sei ich noch mal ein Stück mehr in die Rollen hinein gewachsen: die Darstellung des skurrilen, verwitterten und trotzdem stolzen Vampirs hatte mir großen Spaß gemacht und mir gezeigt, dass ich meinen Platz im Ensemble gefunden hatte. Und die Anprobe der Sarah-Kostüme waren ein weiterer Glückspunkt. Bei dem ich trotzdem erstaunt feststellte, dass ich mich, zumindest momentan, besser in der Rolle des Ewigkeitsvampirs fühlte – vielleicht, weil das meine eigentliche, meine feste Rolle war. Wie es sein würde, wenn ich tatsächlich einmal coverte – das wusste ich nicht zu sagen.

Natürlich liefen nicht alle Proben glatt. Nachdem erst mal jedes Kostüm saß und alle Zähne geschliffen waren, stellten wir erstaunt fest, dass es gerade mal etwas mehr als einen Monat bis zur Premiere am 31. Oktober war. Emmanuel begann plötzlich, hektisch zu werden. Renee lag in ständigem Streit mit den Bühnenarbeitern des Theater des Westens, weil ihr irgendetwas nicht passte – und seit einigen Tagen probten wir nun schon dort. Heute sollte der erste komplette Durchlauf stattfinden; „viel zu spät, viel zu unorganisiert!“, wie Emmanuel empfand. Es dauerte mehr als eine halbe Stunde nachdem wir fertig umgezogen und geschminkt waren, ehe wir begannen, weil die Noten eines Geigers verschwunden waren. Der Dirigent lief beinahe Amok, und dann noch einmal, als besagte Noten in der Bar neben einigen leeren Biergläsern gefunden wurden. Aber schließlich dunkelte das Licht ab, und mit einem Schlag, bei dem ich erschrocken zusammenfuhr, begann die Overture.
Ich war einer der Vampire, die im Finale des ersten Aktes durch den Saal liefen, und zwar immer dienstags und freitags (jeder wollte schließlich mal erschrecken). Allerdings verringerte der Umstand, dass nur eine Handvoll Zuschauer da waren, den Spaßfaktor gewaltig. Bei Totale Finsternis stand ich in einem Bilderrahmen links unten. Alles lief glatt, bis Ewigkeit. Eigentlich sollten wir im Dunkeln in die Särge kriechen, aber mein Kleid blieb irgendwo hängen, alles geriet ins Durcheinander und als der erste Deckel sich öffnete, hockte ich immer noch hinter meinem Sarg. Irgendwie improvisierte ich mich während der Choreographie aus meinem Schlamassel, und obwohl der Rest der Durchlaufprobe für mich glatt verlief, ärgerte ich mich über den Fehler – und machte mir Sorgen, das gleiche könnte bei der Premiere oder einer anderen show passieren.
„Ich kann verstehen, dass ihr alle nervös werdet“, sagte Emmanuel, nachdem er seine Kritik zu dem Durchlauf geäußert hatte, sowohl gute als auch schlechte (niemandem war mein Missgeschick entgangen, aber wir konnten darüber lachen). „Ich gebe zu, ich bin selber nicht mehr ruhig. Wenn ich zu hektisch werde: mäßigt mich! Ich will nicht, dass das Ensemble unter meinem Zeitdruck leidet.“ Er sah in die Runde, dann lächelte er. „Wir wissen nun, woran wir noch arbeiten müssen. Morgen werden die Proben leider vormittags ausfallen, da die Fotografin kommt, wie ihr wisst. Wir werden ab jetzt intensiver proben, wir befinden uns unmittelbar vor der Premiere.“
Wir verließen die Probe mit einem neuen Gefühl im Bauch. Einerseits wussten wir jetzt, woran wir waren.
Andererseits machte uns das noch aufgeregter.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 09.09.2014, 12:48:01

Schöner Teil! Toll wie du die Proben beschreibst! Ich hoffe, dass es trotzdem bald weitergeht, ich mag deine Geschichte total gern!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 14.09.2014, 20:32:02

Mir gefällt es auch sehr gut in diesem Teil. Was ist eigentlich aus Isabelle geworden?

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 19.09.2014, 22:10:16

armandine hat geschrieben:Mir gefällt es auch sehr gut in diesem Teil. Was ist eigentlich aus Isabelle geworden?

Danke für die Erinnerung. Antwort folgt:

Ich wachte auf mit einem eigentümlichen Gefühl im Bauch. Mein ganzer Körper schien angespannt zu sein, noch ehe ich richtig wach war, und in meinem schläfrigen Unterbewusstsein meldete sich eine hektische Stimme, die rief: heute! Heute! Heute! Ich gähnte und drehte mich zur Seite und stieß mit der Nase gegen… ja, was? Ich öffnete die Augen und starrte in Liams Gesicht.
„Ich dachte, ich muss dich für tot erklären lassen“, begrüßte er mich. „Ich hätte nicht gedacht, dass das Schlafmittel so stark wirkt!“
Und da war ich schlagartig wach. Ich setzte mich auf und blinzelte.
Kurzer Überblick über die Realität: Liam war seit gestern hier. Ich hatte zum ersten Mal Schlafmittel nehmen müssen, um überhaupt ruhig liegen zu können, denn heute war der 31. Oktober.
Halloween. – Premiere! Neben mir raschelte das Bettzeug, als Liam sich ebenfalls aufsetzte und mich prüfend ansah.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er.
„Ich glaube, ich muss mich übergeben“, erwiderte ich. In den letzten zwei Minuten hatte jemand einen Aufzug in meinen Magen gebaut – und vergessen, die Bremsen einzustellen.
„Ich schätze, das wäre nicht gut für deine Stimme“, kommentierte er trocken. „Es ist jetzt elf Uhr. Wie wär’s, wenn wir uns fertig machen und nett frühstücken gehen?“
„Frühstücken?“, wiederholte ich und starrte ihn ungläubig an. Er glaubte doch nicht ernsthaft, dass ich heute irgendetwas runterbekommen würde?
Glaubte er tatsächlich. Und er gab nicht eher Ruhe, bis ich vollständig angezogen und geduscht war, vor ihm in einem Café saß und auf mein Frühstücksei starrte.
Und selbst da versuchte er noch, mich zum essen zu zwingen.
„Komm schon, Anouk! Nachher kippst du auf der Bühne um!“
„Ich esse im Theater“, murmelte ich.
„Dazu wirst du keine Zeit haben.“ Er schob den Teller näher zu mir und sah mich mit einem Bettelblick an, der Steine zum Weinen bringen konnte.
„Bittebitte?“
Ich starrte finster zurück. „Meinetwegen“, knurrte ich dann und begann, demonstrativ langsam das Ei zu pellen.
„Ich will deinen Job ja nicht herabwürdigen, aber… dir ist schon bewusst, dass du ’nur’ einen Ensemble-Vampir spielst?“
„Kann eben nicht jeder das Phantom sein“, spielte ich schnippisch auf seinen anstehenden Rollenwechsel an. „Aber im Ernst: ich dachte, du weißt wie sehr ich bei Tanz der Vampire mitspielen wollte.“
„Ich weiß!“, stimmte er zu und griff nach meiner eiskalten Hand. Ich verschränkte meine Finger mit seinen und aß stumm, was er mir bestellt hatte. Insgeheim verletzte seine Bemerkung mich.

Premieren. Ich wusste nicht, ob ich sie hassen oder lieben sollte. Im Moment… hasste ich sie. Ich saß hinter der Bühne auf dem Boden an die Wand gelehnt und erholte mich von meinem jüngsten Panikanfall: ich hatte einfach meine Zähne nicht einsetzen können. Wie ich sie auch drehte und wie fest ich auch drückte, sie passten einfach nicht mehr auf meine echten Zähne.
„So schnell kann sich mein Kiefer doch nicht verändern!“, hatte ich gerufen. „Von gestern auf heute!“
Alle waren ratlos, bis Valerie, ein Ensemblemitglied, völlig aufgelöst zu uns kam – mit dem selben Problem. Inzwischen konnten wir fast wieder darüber lachen, dass wir unsere Zähne irgendwie vertauscht hatten. Aber nun war es endgültig vorbei mit meiner Ruhe.
„Kann man dir irgendwie helfen?“, fragte Daniel, der vor mir auftauchte.
„Ja“, erwiderte ich, „geh doch bitte ins Foyer und such nach Liam. Ich brauch ihn jetzt, ganz dringend.“
„Tja, ich fürchte, du musst dich für den Moment mit deinem Exfreund zufrieden geben“, sagte er und reichte mir die Hand, „denn ich darf diesen Teil des Theaters nicht mehr verlassen. So wie du.“ Er zog mich hoch und musterte mich.
„Bleib einfach ganz ruhig, Anouk“, sagte er dann. „In den letzten Proben ist doch kaum etwas schief gegangen.“
Aber das konnte mich nicht mehr beruhigen. Ich blieb, wo ich war, und langsam versammelten sich alle Ensemblemitglieder. Emmanuel kam, als die Show ganz knapp bevorstand. „Zeit zum Spucken!“, rief er, und wir stellten uns in einer Reihe auf und „spuckten“ uns dreimal über die Schulter, gefolgt von einem kurzen Blick in die Augen. Es dauerte eine Weile, bis sich alle Glück gewünscht hatten, doch dann wurde es totenstill.
„Ihr geht jetzt da raus“, sagte Emmanuel, „und rockt die Bühne, okay? Ich will niemanden mehr sehen, der Angst hat.“ Er sah uns der Reihe nach an. „Ich bedanke mich für eine aufregende, bereichernde, lustige und manchmal nervenaufreibende Probenzeit, für euer Engagement und eure Tatkraft. Ihr seit ein tolles Ensemble, und diese Wiederaufnahme wird eine ganz tolle! Toi, toi, toi!“ Er reckte die Daumen in die Höhe und wir applaudierten, und im selben Augenblick begann die Overture.

Die Premiere zog an mir vorbei wie ein Film. Ich lief durch die Reihen und erschreckte zwei Zuschauer. Ich kroch in Ewigkeit in meinen Sarg, ohne dass etwas passierte, nur irgendwo neben mir verriet ein hohles Klappern und ein leises Flüstern, dass irgendwer seine Zähne verloren hatte. Aber ich war zu aufgeregt, um darüber einen Lachanfall zu bekommen, wie es sonst der Fall gewesen wäre. Einmal auf der Bühne, war ich von einer aufmerksamen Ruhe erfüllt, ich war präsent und in meiner Rolle. Kein einziger Gedanke wurde daran verschwendet, dass ich ’nur’ ein Ensemble-Vampir war, wie Liam gesagt hatte. Denn das stimmte nicht. Ich war nicht irgendjemand in der Masse, ich war ich, eine ausgebildete Musicalsängerin, auf einer großen Bühne, in einem beliebten Stück, ich war an meinem Ziel angekommen: Tanz der Vampire.

Die Premierenfeier, der ganze Trubel und die vielen Fotografen machten mich ganz schwindlig. Ich fiel dem ersten in die Arme, der sie mir entgegenhielt, als ich im Foyer ankam – meinem Vater.
„Ich hab die ganze Zeit nur auf dich geschaut!“, sagte er, als er mich an sich drückte. „Du warst toll, richtig böse!“
Meine Mutter folgte, sie hatte rote Augen. „Hast du wieder geweint?“, fragte ich etwas anklagend. Sie hob die Schultern.
„Schatz, wenn du mal Kinder haben solltest“, entgegnete sie und warf einen kurzen Blick zu Liam, der sich hastig abwandte und ein Lachen zu unterdrücken schien, „dann wirst du mich verstehen.“
„Und wie hat es dir gefallen, Oma?“, rief ich meiner Oma zu, die mich das erste Mal live auf der Bühne erlebt hatte.
„Ganz toll, Kind, ganz toll!“, versicherte sie mir. „Ich hab dich zwar immer mal aus den Augen verloren, aber trotzdem ganz toll!
Ich grinste und wandte mich dem nächsten zu – eigentlich Liam, aber der unverwechselbare Bertelin, den ich anscheinend niemals würde abschütteln können, zwängte sich einfach zwischen uns.
„Der Broadway ist nicht weit!“, prophezeite er. „Ich sehe dich schon als… als…“ Er kratzte sich kurz am Kopf. „Na, ist ja egal als was. Hauptsache Broadway.“ Er setzte eine selbstzufriedene Miene auf, wie immer, wenn er mich lobte. Inzwischen war ich mir sicher, dass er nur kam, um Selbstbestätigung zu erfahren, aber ich gönnte ihm diesen Triumph. Immerhin hatte er – ich konnte es nicht besser ausdrücken – meinen Weg geebnet.
„Jetzt bin ich aber endlich dran“, sagte Liam und küsste mich. „Du warst klasse. Der beste Vampir überhaupt. Ehrlich, man könnte nur dich zwischen die Särge stellen, es würde keinen Unterschied machen.“
Damit brachte er mich zum Lachen, und sein Kommentar vom Morgen störte mich gar nicht mehr.
Der Abend hielt noch weitere angenehme Überraschungen bereit – Isabelle zum Beispiel. Ich stellte fest, dass sie gesünder aussah, nicht mehr so blass wie bei unseren letzten Treffen. Dünn war sie immer noch, aber es wirkte nicht mehr kränklich.
„Mir geht es wirklich besser“, sagte sie, als ich sie darauf ansprach. „Ich habe ein festes Engagement, das ich um nichts in der Welt aufgeben würde!“ Sie starrte kurz auf ihre Füße.
„Ich habe die Schwangerschaft abgebrochen“, sagte sie leise.
„Ich weiß“, entgegnete ich und legte den Arm um ihre Schultern. „Und wenn es für dich richtig ist, dann kann niemand etwas dagegen sagen.“
Nach Isabelle traf ich noch Marius und Muriel, was mich besonders freute: ich hatte sie schon länger nicht getroffen.
„Ich weiß noch genau, wie ich mit dir Totale Finsternis gesungen habe!“, sagte er. „Ich war total überrascht, dass so ein Persönchen so eine Stimme hat!“
„Vielleicht wirst du ja der nächste Krolock!“, lachte ich.
„Na, wollt ihr mich etwa loswerden?“, fragte Felix, der unsere letzten Worte aufgeschnappt hatte.
„Konkurrenz belebt das Geschäft. Sagt man das nicht so?“, erwiderte Marius zwinkernd, und wir verfielen in eine lockere Unterhaltung.
Dieser Abend – oder besser, diese Nacht – wurde spät. Tatsächlich war schon der erste graue Schimmer des anbrechenden Tages zu sehen, als ich mich völlig erschöpft mit Liam auf den Heimweg machte. Aber morgen war ein Feiertag, an dem wir nicht spielen würden, also musste ich mir über meinen nachzuholenden Schlaf schon mal keine Gedanken machen.
Liam und ich wanderten durch die Stadt bis zum Brandenburger Tor. Der Platz war beinahe ganz verlassen und wirkte in der späten Nacht ganz friedlich. Wir standen da, Arm in Arm, betrachteten das Bauwerk und schwelgten in Erinnerungen an unsere Schulzeit.
Ich dachte das erste Mal seit langem wieder an Jamie. Ich fragte mich, was er wohl machen würde, würde er noch leben, aber ich fragte mich nicht mit Bitterkeit.
Im diesem Moment, in dem ich Liams Arm um meine Mitte spürte, war ich so glücklich, dass ich mir nichts vorstellen konnte, das jemals Liams und meine Beziehung oder mein Glück in Gefahr geraten könnte.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 20.09.2014, 09:55:52

Ein wunderschöner Teil! Ich hab mich riesig gefreut, dass es endlich weitergeht und dann sogar direkt mit einer toll beschriebenen Premiere - klasse! Schön, dass sie so viele Bekannte bei der Premiere besuchen, das tut ihr sicherlich gut! Und ihre Eltern scheinen ja auch wieder miteinander auszukommen, gefällt mir.
Der letzte Satz klingt zwar nach totaler Harmonie, aber irgendwie ist er auch dafür gemacht, dass man am fernsten Horizont Gewitterwolken aufziehen sieht. So leicht kann eine Beziehung in der Musicalwelt vermutlich nicht sein und ich befürchte, dass Anouk und Liam das noch zu spüren bekommen?!?
Ich freue mich schon sehr auf die Fortsetzung und würde sie mir schnell herbeiwünschen ;) Weiter so!!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 20.09.2014, 13:16:07

Schöner Teil! Aber vom TdW zum Brandenburger Tor laufen, das ist ein ziemlich strammer Nachtspaziergang ;-)

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 21.09.2014, 20:50:05

Gaefa hat geschrieben:Der letzte Satz klingt zwar nach totaler Harmonie, aber irgendwie ist er auch dafür gemacht, dass man am fernsten Horizont Gewitterwolken aufziehen sieht. So leicht kann eine Beziehung in der Musicalwelt vermutlich nicht sein und ich befürchte, dass Anouk und Liam das noch zu spüren bekommen?!?
;)
armandine hat geschrieben:Schöner Teil! Aber vom TdW zum Brandenburger Tor laufen, das ist ein ziemlich strammer Nachtspaziergang ;-)
Ich weiß ;)

Das schöne an einem Cover war, dass man irgendwann eine zweite Premiere haben würde. Und zwar ganz bestimmt.
Auf meine zweite Premiere musste ich immerhin fast drei Wochen warten, bis Sofia eine Off-Show hatte. Einen Tag vorher wurde mir Bescheid gegeben, und erstaunlicherweise war ich ganz ruhig. Ich konnte es gar nicht richtig glauben. Ich sagte einfach: „Okay, ich freue mich“ und lächelte, aber richtig realisieren konnte ich es erst, als ich am nächsten Tag das Theater betrat. Da schlug das Lampenfieber mit voller Wucht zu.
Ich kam etwas früher als gewöhnlich, um mich mit Felix einzusingen. Wir gingen einmal das Liebesduett durch und probten den Biss sowie den Ballsaal-Tanz.
In der Maske konnte ich kaum mehr ruhig sitzen und beschloss, um mich abzulenken, Liam anzurufen und ihm von meinem anstehenden Rollentausch zu berichten. Er ging erst an sein Handy, als ich das zweite Mal anrief.
„Vicomte am Apparat, was kann ich für Sie tun, Miss Sarah?“
„Woher weißt du, dass ich heute Sarah spiele?“, fragte ich, irritiert und enttäuscht, dass er meine Überraschung kaputt gemacht hatte.
„Lass mich überlegen… Du rufst zwei Mal an in der Vorbereitungszeit, in der Handys eigentlich ausgeschaltet sein sollten. Du weißt, dass ich in der Maske sitze und mich auf meinen Auftritt vorbereite. Ach ja, und du sagtest etwas von: ich rufe dich sofort an, wenn ich covere!
„Ist ja gut!“ Ich grinste. „Also, wünsch mir Glück!“
„Das tue ich. Aber ich habe auch etwas zu verlauten!“
Ich hob eine Braue. „Das da wäre?“
Er machte eine kurze Pause, ehe er antwortete: „Weißt du noch, was für ein Geheimnis ich dir letztens erzählt habe?“
„Das mit der Maske?“
„Genau das. – Also, bald wird es öffentlich gemacht. Ich werde das Phantom.“
„Oh, Liam, das ist toll!“, rief ich. „Ich werde versuchen, vorbei zu kommen!“
„Vielleicht schaffst du’s ja zum Castwechsel!“, sagte er hoffnungsvoll. „Ich bin wirklich aufgeregt!“
„Ich komme ganz bestimmt!“, versprach ich.
„Aber erst wird die Show gespielt!“, mischte sich Felix ein, der im Türrahmen lehnte, schon im Kostüm. Meine Nervosität befiel mich wieder, diesmal ganz energisch: ich wollte auf die Bühne – jetzt!
„Okay, Liam, ich mache jetzt Schluss.“
„Viel Glück!“, wünschte er. „Ich liebe dich.“
„Ich dich auch“, erwiderte ich. „Bis dann.“ Ich stand auf und musterte mein Gesicht im Spiegel. Ich gefiel mir als Sarah.

Es war schade, dass niemand meiner Verwandten im Publikum saß, aber ich konnte sie schließlich nicht für jede Vorstellung herkommandieren. Ich genoss es trotzdem. Ich lebte tatsächlich meinen Traum – lebte in der Welt, in der ich am liebsten lebte: zwischen Wirklichkeit und Illusion, im Farbenspiel des träumerischen Lichts, ich lief auf Bühnenboden und geschwungenen Notenlinien. Mein Haus war eine Kulisse, und trotzdem spürte ich die Winterkälte. Die Zuneigung zu Alfred war nur gespielt, und trotzdem wahr. Ich war eine unwirkliche Person zwischen zwei Welten, und nie war ich glücklicher. Und mir blieb tatsächlich die Spucke weg, als Felix alias Krolock auf meinem Badewannenrand stand und seinen Mantel ausbreitete. Das war nämlich wirklich… atemberaubend!
Meinen letzten Song auf der Bühne – zumindest für den ersten Akt – genoss ich in vollen Zügen. Draußen ist Freiheit war nämlich auch mein absolutes Lieblingslied. Ich spürte, was ich sang – die Roten Stiefel, die Lust zu leben, zu singen und zu tanzen. Und völlig erschöpft und glücklich rannte ich durch den Zuschauerraum und hinter die Bühne. Von dort aus lauschte ich dem Musical weiter und genoss Felix’ langen Schlusston.
„Das war gut!“, urteilte er, ehe wir in die Maske oder die Garderobe gingen. Die Pause verging viel zu langsam, aber schließlich war es so weit: ich war mir bewusst, dass Totale Finsternis eines der beliebtesten, wenn nicht sogar das beliebteste Lied aus Tanz der Vampire war. Dass Bonnie Tyler es gesungen, Jim Steinman es komponiert hatte.
Und jetzt… würde ich Teil davon sein.
Es war ein wunderschönes Gefühl, das Duett zu singen. Vermutlich würde es für immer eines der Lieder sein, die mit besonderen Emotionen verbunden waren: mein erstes, überraschendes Duett mit Marius, meine Aufnahme ins Vampir-Ensemble, und nun dieser Moment. Es war nur ein wenig seltsam, in den Grafen-Umhang gehüllt zu werden. Sobald das Licht ausging, kämpfte ich mich daraus hervor und verließ möglichst schnell mit Felix die Bühne.
Der Rest der Show verlief problemlos. Ich hatte meine Aufregung schon fast wieder abgelegt, bis ich auf der Treppe stand und Felix zusah und –hörte, wie er vor seinem Gefolge von Sarah sang. Während ich bewunderte, wie skurril die Szenerie von hier oben aussah, fiel mir plötzlich eine alberne, alte Angst ein: damals, als ich bei Rebecca gespielt hatte, hatte ich mich furchtbar davor gefürchtet, von der Treppe zu fallen. Heute konnte ich darüber nur schmunzeln, aber die plötzliche Vision brachte mich völlig aus der Konzentration. Als mein Stichwort erklang, schob ich mich vor und schaute hinunter zum Grafen, ehe ich langsam die Treppe hinunter stieg. Dabei war ich unglaublich bemüht, nicht zu fallen. Und da weniger bekanntlich mehr ist, verpasste ich eine Stufe, rutschte an der Kante ab und stolperte höchst unelegant auf die nächste. Dabei klammerte ich mich ans Geländer und gab ein halb unterdrücktes, erschrockenes Japsen von mir. „Ahs“, „Ohs“ und vereinzeltes Kichern im Publikum. Geh weiter, Anouk. Es ist nichts passiert. Meine Knie waren butterweich vor Schreck, als ich unten ankam. Felix verzog keine Miene, als ich ihm vorsichtig die Hand reichte, aber in seinen Augen glaubte ich einen Rest des Schreckens zu sehen, den ich eben selbst gespürt hatte. Für einen Augenblick hatte ich geglaubt, das war’s, jetzt würde ich da runter segeln. Meine Verunsicherung, als der Graf mich zurückwarf, um mich zu beißen, war also kaum gespielt. Der Biss brachte mich allerdings recht schnell auf andere Gedanken. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, wie Felix sein Blutbeutelchen entsorgte. Ich wusste, dass er es nach einem bestimmten Ton in den Mund schob, zerbiss und dann das Blut auf meinen Hals spuckte. Ich wusste auch, dass er das Beutelchen zerkaute, bis es ganz klein war. Irgendwie hatte ich immer angenommen, er würde es verschlucken oder im Mund behalten. Aber ganz bestimmt hätte ich nie geglaubt, er würde es in meinem Dekollete entsorgen! Denn da landete es, unsichtbar für die Zuschauer und gut spürbar für mich. Ich erwog, ihm einen bösen Blick zuzuwerfen, während er mich an den Vampiren vorbeitrug, aber das Gefühl zu fallen war kurz so stark, dass ich einfach die Augen geschlossen hielt, bis er mich wieder absetzte. Während der Proben hatte sich das getragen-Werden wirklich besser angefühlt – ohne das kiloschwere Kleid, dass mich herunterzuziehen schien.
Zum Glück verlief der Rest des Stücks ohne Probleme. Als ich nach der Tanzsaal-Szene wieder hinter der Bühne stand, wurde ich halb lachend, halb erschrocken empfangen.
„Ich dachte, du fliegst da runter!“, bestürmte mich Lukas. Und Daniel fielen vor Lachen fast die Zähne aus dem Mund. Ich aber hatte ein Hühnchen mit Felix zu rupfen. Ich pulte die Reste des Blutbeutels aus meinem Dekollete und hielt ihm das Kügelchen anklagend entgegen.
„Was soll ich damit sonst machen?“, fragte er abwehrend. „Bei Sofia mache ich das auch immer!“
„Keine Ahnung. Spuck’s doch auf die Bühne – das sollen andere auch machen, hab ich gehört. Aber nicht zwischen meinen Busen!“
„Okay, okay.“ Er nahm das Kügelchen und warf es mit einer großen Geste in den Mülleimer. „Sofia hat sich nicht so beschwert.“
„Ich wette, du lügst!“, brummelte ich, ehe wir auf die Bühne liefen, um unseren Applaus entgegen zu nehmen.
Meine erste Show als Sarah schilderte ich meiner Mutter, meinem Vater, Isabelle und Sarah haarklein. Vor allem die Stelle, an der ich beinahe die Treppe hinunter purzelte, musste ich ständig wiederholen.
Nur Liam erreichte ich nicht. Er ging einfach nicht an sein Handy, und schließlich gab ich es auf. Sicherlich war er nach der Show erschöpft.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 21.09.2014, 22:09:37

Ein schön geschriebener Teil! Schön, dass sie schon ihre Sarah-Premiere hatte. Dass sie es dieses Mal die Treppe nicht ganz hinunterschaffen würde, ließ sich schon im Ansatz deiner Beschreibungen erahnen, aber es ist gut, dass sie sich noch gerettet hat!
Und wieder dieser Schlusssatz... Das klingt nicht so richtig gut. Ich bin sehr neugierig, was bei Liam passiert ist... Lass mich nicht so lange warten ;)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 22.09.2014, 15:24:16

Ich stimme Gaefa zu. Wegen Liam bin ich auch etwas misstrauisch...

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 22.09.2014, 16:35:54

Schön, dass ihr noch so begeistert mitlest - da meldet sich auch meine Inspiration zurück :)

„Oh-oh, Vorsicht, Leute! Anouk hat vergessen, dass sie gar kein böser Vampir ist!“
Ich warf Daniel einen wütenden Blick zu und ging wortlos an ihm vorbei. Aber natürlich folgte er mir. Einerseits war ich froh, dass er bemerkte, dass etwas nicht stimmte, andererseits konnte ich auf seine Witze heute verzichten.
„Okay, keine blöden Scherze mehr“, versprach er, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Was ist los?“
Ich legte meine Tasche auf den Boden und lehnte mich gegen die Wand. Erst zögerte ich noch, mit der Sprache rauszurücken, weil es um ein Beziehungs-Problem ging, aber dann dachte ich, dass er sich wirklich als guter Freund bewährt hatte, der wirklich nichts mehr von mir wollte.
„Es ist wegen Liam“, antwortete ich und bemerkte, wie verärgert ich mich anhörte. „Weißt du, wann wir uns das letzte Mal getroffen haben?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Bei der Premiere. – Und was glaubst du, wann wir das letzte Mal richtig telefoniert haben?“
„Mal abgesehen davon, das ich nicht weiß, was du unter richtig verstehst: vor drei Wochen?“
Ich schnaubte. „Unter richtig verstehe ich, dass man mindestens eine halbe Stunde reden kann, über alles, was gerade so ansteht und los ist. Das war vor viereinhalb Wochen, als ich meine erste Show als Sarah hatte. Und selbst da haben wir nur das nötigste besprochen.“
Daniel lehnte sich neben mich. „Na ja, ich dachte, dir wäre klar gewesen dass eine Beziehung in dieser Branche nicht immer einfach ist.“
„Ich weiß“, erwiderte ich frustriert. „Ich war ja darauf eingestellt. Aber… seit feststeht, dass Liam das Phantom spielt, scheint er gar nicht mehr an mich zu denken! Immer, wenn ich ihn anrufe, würgt er mich ab: Proben, Pressetermin, er ist müde…“
Daniel hob eine Braue. „Solltest du deine Prioritäten noch mal überdenken?“
„Ich weiß, dass er proben muss!“, sagte ich heftig. „Aber er könnte sich ein bisschen Zeit nehmen. Oder einfach mal von sich aus anrufen, das tut er nämlich auch nicht.“
Daniel schwieg und schien nachzudenken. Ich hing meinen eigenen düsteren Gedanken nach. Ich vermisste Liam schrecklich. Ich hatte das Gefühl, ihn seit einer Ewigkeit nicht gesehen zu haben, und langsam bekam ich Angst, dass er mich wirklich vergessen würde. Dass ihm der Erfolg zu Kopf steigen und er keine Zeit mehr für mich finden würde. Bei der Vorstellung von autogrammsüchtigen, weiblichen Fans, die auch noch ein Foto mit ihm wollten, wurde ich richtig eifersüchtig.
„Nicht mal an seinen spielfreien Tagen kommt er vorbei. Oder ruft an!“, jammerte ich weiter.
„Er ist Darsteller, Anouk“, sagte Daniel geduldig. „Er spielt inzwischen Raoul, das ist eine der drei Hauptrollen. Er bereitet sich auf das Phantom vor, er ist k.o.!“
„Zu k.o. für seine Freundin?“, fasste ich bissig zusammen. „Mal ehrlich, Daniel, glaubst du immer noch, dass eine Beziehung nicht gepflegt werden muss, auch wenn man sich nicht mehr oft sehen kann?“ Das war gemein und ich wusste es; aber in dieser Stimmung war nichts mit mir anzufangen. Ich atmete tief durch. „Bevor ich noch so einen dummen Spruch abgebe“, sagte ich langsam, „lass mich kurz alleine, ja? Ich… brauche etwas Ruhe.“ Ich nahm meine Tasche und ließ Daniel allein zurück, um in meiner Garderobe zu verschwinden. Dort verdrückte ich ein paar Tränen und versuchte, mich mit Musik aufzumuntern, bis es in die Maske ging. Bei der langwierigen Prozedur des Schminkens konnte ich etwas entspannen, und als ich fertig umgezogen war, entschuldigte ich mich bei Daniel, dass ich mich so pampig benommen hatte.
„Schon gut“, erwiderte er gelassen. „Hauptsache, du konntest dich auskotzen.“
Das konnte ich tatsächlich. Aber mein Problem blieb.

Als bekannt gegeben wurde, wann Liam das erste Mal das Phantom spielen würde, beantragte ich kurzerhand einen freien Tag und reiste nach Hamburg. Das war am dreiundzwanzigsten Januar – das erste Mal seit dem 31. Oktober, dass wir uns sahen.
Ich war, trotz all meinem Ärger auf Liam, aufgeregt für zwei, und als ich das erste Mal seine Stimme hörte, war aller Zorn vergessen. Ich saß in der sechsten Reihe ziemlich mittig und hatte eine wunderbare Sicht auf die Bühne. Die Frau, die Christine spielte war eine hochgewachsene, schmale Person mit einer unglaublich hohen Stimme. Ich war ein bisschen neidisch, dass sie mit Liam spielen durfte, und steckte mir ein neues Lebensziel: mit Liam auf einer Bühne stehen, und sei es als Ensemblemitglieder. Die Maske stand ihm übrigens auch ganz gut.
Ich hatte mich darauf eingestellt, den Abend umringt von anderen Darstellern zu verbringen, um seine Premiere zu feiern. Umso mehr überraschte es mich, als er mich im Foyer abfing, in einen dicken Wintermantel gehüllt.
„Wir gehen aus“, erklärte er und drückte mich an sich, ehe ich etwas sagen konnte. „Nur wir beide.“
„Ohne die anderen?“, stellte ich sicher. „Ich meine – willst du nicht mit dem Ensemble deine Premiere feiern?“
„Das Ensemble sehe ich doch jeden Tag“, entgegnete er. „Aber dich sehe ich nur noch heute und morgen!“
„Na ja, ehrlich gesagt nur heute“, gestand ich kleinlaut. Er blieb stehen und blinzelte. „Was?“
„Ich fahre um halb eins mit dem Nachtzug zurück nach Berlin“, erwiderte ich, ohne ihn anzusehen. „Ich dachte, wir würde etwas größer feiern, und wollte morgen ausgeruht auf der Bühne stehen… Tut mir leid.“ Ich schämte mich, dass ich mich so oft darüber beschwert hatte, dass er keine Zeit für mich fand. Und jetzt machte ich ihm dasselbe Problem. Wir schwiegen kurz, dann nahm er meine Hand.
„Ist doch egal“, sagte er und zog mich weiter durch die Straßen. „Dann gehen wir eben zum Bahnhof und essen dort was. Das ist zwar nicht so romantisch wie ein schickes Restaurant, aber besser als alleine sein, oder?“
Ich lächele ihn erleichtert an. „Stimmt!“, sagte ich.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben


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