Bald kommt wieder viel Schule & Unterricht

Aber jetzt geht's noch mal um Jamie:
Ich drehte mich unsicher vorm Spiegel. Im Geschäft hatte mir das Kleid gut gefallen, aber jetzt war ich mir plötzlich unschlüssig, ob es nicht etwas zu… gewagt war.
Das Kleid lag sehr eng an, ehe der Rock an der Hüfte sacht auseinander schwang. Es war von einem angenehmen Gelb, aber immer wieder blitzte der dunkellila Stoff hervor, der den Unterrock bildete. Schließlich band ich meine Haare zu einem einfachen Zopf zusammen, ohne mich noch einmal umzusehen. Das Kleid war nicht gerade billig gewesen.
Ich war nervös, ohne zu wissen, warum. Als ich an der Schule ankam, wusste ich es wieder: sie war um diese Zeit eigentlich geschlossen. Vor dem Hintertor warteten schon die meisten Schüler.
„Also“, sagte Michael, der die Anführerrolle automatisch übernommen hatte, „ich habe nur den Schlüssel für die Schule bekommen, nicht für das Tor.“
Wir sahen schweigend an dem eisernen Gitter hinauf. Wie hoch mochte es sein? Eineinhalb Meter vielleicht? Ich sah in die Runde. Alle waren angezogen, als ginge es auf eine Party oder Feier. Teilweise sah ich sogar einen Anzugträger.
„Wie bist du eigentlich an die Schlüssel gekommen?“, fragte Mark. Michael grinste verschmitzt. „Der Sohn des Hausmeisters ist mit meiner Nachbarin zusammen. Ich musste hart an einer freundschaftlichen Beziehung arbeiten, um uns das hier zu ermöglichen!“ Er hielt den Schlüssel hoch, als sei es der Heilige Gral.
„Okay, genug geredet“, warf Marvin ein. „Wie kommen wir da rüber?“
„Klettern“, antwortete Michael. Er musterte uns kurz grimmig, dann steckte er den Schlüssel vorsichtig in seine Hosentasche und trat auf das Gitter zu. Ungefragt machten Marvin und Liam eine Räuberleiter, und Michael kletterte über das laut klappernde Tor. Ich sah mich nervös um, als er im Gebäude verschwand, aber die Straße war verlassen. Es wurde bereits dunkel, und alle waren sichtlich erleichtert, als Michael wieder mit einem Stuhl auftauchte. Er hob ihn umständlich über das Tor, wo wir ihn annahmen und als provisorische Treppe benutzten. Nach etwa fünfzehn Minuten standen alle auf der anderen Seite, bepackt mit Tüten voller Flaschen und anderen Lebensmitteln. Ich richtete mein Kleid, das ein wenig verrutscht war, als Liam mich in den Hof gehoben hatte. Schweigend gingen wir in die Schule. Das Gefühl, das sich meiner bemächtigte, erinnerte mich an meine Grundschulzeit, als wir verbotenerweise in den Nachbarsgarten eingedrungen waren: aufgeregt und ängstlich, ein angenehmer Adrenalinschub. Unsere Schritte tappten laut über die Fliesen, und das aufflammende Licht in der Aula hatte etwas verräterisches an sich. Wir schoben Tische zusammen, etwa in der Mitte des Raumes, bis eine lange Tafel entstand. Jeder trug an diesem Abend etwas zum Gelingen dabei: Aubrey hatte zwei weiße Tischtücher mitgebracht, Marvin und Mark diverse Spirituosen, Aubrey und Anna hatten gemeinsam Kuchen gebacken und Brötchen belegt. Sarah und ich sorgten für das Geschirr, der Rest hatte kleine Häppchen oder Süßes mitgebracht. Sogar eine Lichterkette wurde aufgetrieben und über die Bühne gehängt. Es war halb acht, als wir uns zufrieden umsahen.
„Und jetzt?“, fragte Sarah. Wir sahen uns an.
„Wann kommt Jamie?“
„Wartet hier“, sagte Michael bestimmt und verließ die Aula. Nach einer Weile fielen wir in eine leise Unterhaltung.
„Ist diese Schule eigentlich kameraüberwacht?“, fragte Anna.
„Ich glaube nicht“, erwiderte Mark.
„Und wenn schon“, meinte Emilia und fuhr sich durch ihre in alle Richtungen abstehenden Locken. „Wenn wir erwischt werden, bieten wir wenigstens eine einmalige Show.“
„Stimmt.“ Marvin legte den Arm um Mark. „Heute geht es nur um Jamie.“
Wir nickten zustimmend.
„Scheiße man, könnt ihr euch vorstellen, dass er stirbt?“, fragte Aubrey.
„Vielleicht gibt es Rettung in letzter Minute“, warf Sarah ohne große Zuversicht ein. Liam drückte meine Hand.
„Hört auf, so dumme Sachen zu sagen“, sagte Isabelle mürrisch. „Er wird sterben. Ende.“
„Aber heute feiern wir das Leben!“, rief Michael. Wir drehten uns um und starrten zur Türe. Mit quietschenden Rädern fuhr er den Rollstuhl samt Jamie zu uns herein und verschloss die Türe. „Na, was sagt ihr?“, fragte er zufrieden. „War ganz schön schwer, ihn über den Zaun zu bekommen.“ Er schob Jamie zu uns. „Es ist zwar nicht mehr viel an ihm dran, aber er hat verdammt schwere Knochen!“
Jamie grinste. „Ich tippe drauf, dass der Torschlüssel im Hausmeisterhäuschen ist. Aber es war definitiv ein Abenteuer, sich über den Zaun heben zu lassen.“ Er sah uns an.
„Also, Leute, ich habe gehört, hier steigt eine Party? Dann lasst mal hören, was ihr vorbereitet habt. Und gebt mir ein bisschen Chips, bitte!“
Es wurde ein wundervoller Abend. Wir gaben alle unsere Performances zum besten. Auffällig war, dass niemand eine traurige Ballade wählte – die meisten hatten flotte Nummern gewählt, zuweilen sogar witzig. Ich selbst sang
I have confidence und
Tonight aus
Westsidestory mit Liam, und nachdem alle gesungen hatten, begannen wir, lockere Improvisationsspiele zu spielen oder Monologe zu verzerren, bis sie lustig wurden.
„Ich hätte mir ein anderes Lied gewünscht“, sagte Jamie zu mir, als wir über das Buffett herfielen, „aber du warst trotzdem gut.“
„Vielleicht ein anderes Mal“, erwiderte ich ausweichend. Er sah mich wissend an, und seine Augen sprachen Bände: es würde kein anderes Mal geben. Liam setzte sich zu uns, drückte mir ein Glas Sekt in die Hand und wollte mich küssen. Ich drehte mich weg, unbedacht, weil Jamie dabei saß und ich wusste, wie er fühlte. Ich wollte ihm keine Schmerzen bereiten. Liam sah mich kurz stirnrunzelnd an, dann fiel sein Blick auf Jamie, der uns beide taxierte, und ich spürte, wie sein Arm um meine Mitte sich anspannte. Ich fühlte mich unbehaglich, wusste nicht, was ich tun sollte. Hastig nahm ich einen Schluck Sekt.
„Guter Abend, Liam“, sagte Jamie. „Hast du eigentlich deinen Kommunionsanzug an?“
Liam sah an sich hinab; seine Hose und die Jackettärmel waren etwas zu kurz. Ich lachte, aber ich hörte selber, wie unsicher und gezwungen es klang.
„Hör auf, ihn abblitzen zu lassen, wenn ich dabei bin“, mahnte Jamie mich, als Liam uns allein ließ. „Am besten, du sagst ihm, wie ich fühle.“
Ich sah ihn erschrocken an. „Warum denn das?“
Er sah grimmig auf Liams Rücken. „Ich finde ihn nett“, sagte er, „aber ich will, dass er um dich kämpft. Du hast jemanden verdient, der dich wirklich liebt, und nicht einfach ungefragt geht.“
„Ach Jamie“, murmelte ich uns wandte den Blick ab. Ich wollte nicht, dass er mich weinen sah.
Wir erfuhren nie, wie unsere nächtliche Party publik wurde. Hatte jemand gepetzt, oder waren wir beobachtet worden? Was auch immer geschehen war – der nächste Montag begann mit einer Überraschung, und zwar keiner guten.
Ich kam völlig in Gedanken verloren in der Schule an – und wurde vom Schulleiter persönlich abgefangen.
„Frau Steger“, sagte er, „begeben Sie sich ins Sekretariat. Sofort.“
Ich wusste sofort, was los war, und ich war ganz ruhig. Ich nickte und stieg die Treppen hinauf, gefasst und meiner Schuld völlig bewusst.
Ich traf meine Klasse an, zerknirscht und rebellisch zugleich. Ich setzte mich zu ihnen an einen langen Tisch, der normalerweise für die wartenden Schüler vor den Büros gedacht war. Ich begegnete Sarahs Blick, und sie nickte mir zu. Als Liam als letzter zu uns stieß und die Schulglocke ertönte, beugte Michael sich vor.
„Sind wir uns einig, dass wir die Wahrheit sagten?“
Wir nickten unisono.
„Und dass wir uns verteidigen werden?“
„Ja“, antwortete Liam für uns alle und sah mich an. Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss, ehe Mrs. Paige, Parker und der Schulleiter erschienen.
„Ich hoffe, Sie sind sich bewusst, was Sie getan haben“, sagte der Schulleiter mit nur schwer beherrschter Stimme. Wir sahen ihn an und nickten.
„Sie sind in die Schule eingebrochen.“
„Ja“, sagte Aubrey fest. Mrs. Paiges Auge zuckten zu ihr – Aubrey war bisher immer eine Musterschülerin gewesen.
„Aber warum?“, warf Parker ein, ruhig wie immer. Ich war froh, dass er da war, denn von allen Lehrern war er am verständnisvollsten und tolerantesten.
„Wir haben es für Jamie getan“, sagte Michael mit fester Stimme. „Er ist unser Freund, und er wird vermutlich bald sterben. Er hat sich gewünscht, uns noch einmal zu sehen. Wir… Ich habe mir den Schlüssel zur Schule besorgt. Wir sind über das Tor geklettert, sind in die Schule gegangen und haben einen Gesangsabend veranstaltet: wir haben für Jamie gesungen und gespielt, wir haben gegessen und ein bisschen getrunken. Und um zehn Uhr haben wir alles wieder eingepackt, gefegt und die Schule verlassen. Ich habe Jamie ins Krankenhaus zurück gefahren, und die anderen sind nach Hause gefahren. Das ist alles.“
„Das stimmt“, bestätigte Emilia. „Wir haben nichts anstößiges gemacht. Wir haben nur gemacht, was uns ausmacht: gesungen und gespielt.“
Die Lehrer waren kurz sprachlos ob dieses detaillierten Geständnisses. Mrs. Paige fasste sich als erstes wieder.
„Ihnen ist hoffentlich klar, dass es sich bei Ihrer nächtlichen Aktion um eine kriminelle Handlung handelt?“, fragte sie streng. Wir sahen uns an.
„Na ja“, wandte Anna vorsichtig ein, „wir hatten einen Schlüssel.“
„Wie bitte?“, fragte Mrs. Paige, obwohl sie sehr wohl verstanden hatte.
„Wir sind nicht in die Schule eingebrochen“, wiederholte Michael für Anna. „Wir sind bloß über das Geländer geklettert, aber nie in das
Gebäude eingebrochen.“
„Außerdem sind wir Schüler dieser Schule“, fügte Emilia hinzu.
„Und wir haben an unseren Fähigkeiten gearbeitet“, sagte Sarah.
„Uns sozial engagiert“, mischte Liam sich ein.
„Und alles wieder aufgeräumt“, vollendete ich unsere Verteidigung. Die Lehrer tauschten Blicke.
„Es bleibt dabei“, sagte der Schulleiter. „Sie sind ungefragt in das Gebäude eingedrungen, Sie haben den Schlüssel auf unrechtmäßigen Wegen erhalten.“ Er sah in die Runde. „Ein solcher Verstoß wird normalerweise mit sofortigem Schulverweis geahndet!“
Wir starrten uns an, bestürzt und grimmig. Ich sah zu Liam und begegnete seinem Blick – besorgt und nachdenklich.
„Wir sollten nicht so hart über die Schüler urteilen“, warf Parker ein, und alle Augen richteten sich hoffnungsvoll auf ihn.
„Ich kann ihre Handlung nachvollziehen, und ihre Argumentationskette hatte durchaus Sinn.“ Er warf uns einen mahnenden Blick zu, aber mit einem Zwinkern.
„Seien Sie nachsichtig. Belassen Sie es bei einer Mahnung.“ Er sah den Schulleiter eindringlich an. Der verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schürzte die Lippen. Die Spannung wuchs ins Unermessliche.
„Also gut“, lenkte er schließlich ein. „Ich berücksichtige die anstehenden Prüfungen und die, hm, besonderen Umstände. Nehmen Sie Ihre Verwarnung trotzdem nicht auf die leichte Schulter; es ist die letzte vor einer weitaus härteren Strafe. Haben Sie mich verstanden?“
Wir nickten.
„Gut. Dann begeben Sie sich in den Unterricht, und zwar schnell. Ich behalte Sie im Auge!“
Wir schoben schweigend die Stühle zurück und verließen den Vorraum, mit grimmigem Stolz erfüllt.