Mich trägt mein Traum

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Gaefa
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 06.07.2014, 17:53:05

Oh so viele tolle neue Teile! Alle toll geschrieben :) Kann gar nicht zu allen was schreiben, es ist so viel passiert, aber das wichtigste, das mir so einfällt.
Interessant, dass sie diese kurze Zeit nur spielt, das hättest du anfangs thematisieren können. Toll, wie du Premiere und Derniere beschrieben hast :)
Zur Schule: Gut, dass sie wieder richtig aufgenommen wird. Für einen Moment war ich mir gar nicht so sicher, welcher der beiden Jungs jetzt ihr Herz erobert, auch wenn ich auf Liam getippt hab ;) Ich bin gespannt, was aus den beiden wird.
Ab jetzt werde ich auch wieder regelmäßig kommentieren ;)
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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 09.07.2014, 18:44:40

So, ein neuer Teil, gesendet aus dem verregneten München ;)
An Gaefa: Schön, dass du wieder mitliest :) Dass die Rebecca-Zeit so kurz werden würde, habe ich tatsächlich vergessen zu erwähnen. Da Anouk Schülerin ist, wollte ich sie nicht zu lange aus der Schule lassen ;)
Und hier geht es weiter:

Es war laut in der Cafeteria, aber Sarahs Aufschrei ließ trotzdem alle zu uns herum fahren.
„Er hat dich geküsst?“, kreischte sie. Ich rutschte verlegen unter den Tisch.
„Kennst du Diskretion?“, flüsterte ich. Sie setzte sich wieder.
„Sorry. Aber das ist… wie soll ich sagen…“ Sie grinste. „Nun, das war zu erwarten.“
„Ach ja?“, sagte ich misstrauisch. „Und wieso?“
„Na ja, abgesehen davon, dass du ihm ganz heimlich angeschmachtet hast…“
Ich lief rot an, aber sie winkte ab.
„Gibt es nicht für alle den Einen? Allerdings ist Leonardo DiCaprio nicht ganz so nah wie Liam… Wie auch immer: außerdem kann es sein, dass ein Mäuschen mir geflüstert hat, dass es so kommen würde.“
„Und wer?“
„Hm.“ Sie wandt sich und überlegte, ob sie es mir sagen sollte, aber dann antwortete sie doch wahrheitsgemäß. „Na ja, Jamie soll da so was mitbekommen haben, dass Liam zu Marvin meinte, dass er sich bei dir noch unsicher ist. Und da habe ich die Initiative ergriffen und ihn gefragt.“
„Liam?“, vergewisserte ich mich.
„Ja.“ Sie nickte. „Ich hab ihm gesagt, dass du auf ihn stehst. Offenbar lässt er nichts anbrennen.“ Sie kicherte.
„Na, hoffentlich ist er anders drauf als Daniel“, hoffte ich.
„Ganz bestimmt“, antwortete sie sanft. „Ich glaube nicht, dass er nur des Erfolges wegen mit jemandem zusammen ist.“
Trotzdem, Daniel hatte mich gelehrt, in der Beziehung vorsichtiger zu sein.

Das nächste große Ereignis ließ nicht auf sich warten, aber diesmal war es kein gutes.
Der Tag begann mit einer äußerst peinlichen Situation: Liam hatte mich im Flur vor den Umkleiden aufgehalten, und da ich nun Vergleichsmöglichkeiten hatte, konnte ich beurteilen, dass er wirklich außerordentlich gut küsste. Wir standen also im verlassenen Flur und knutschten ein bisschen – unsere Klasse war schon in den Umkleiden. Plötzlich näherten sich Schritte.
„Ihre Leidenschaft in allen Ehren“, sagte Frau Kurth zynisch, „aber wenn Sie nicht in fünf Sekunden die Umkleide betreten – und zwar getrennt! – bekommen Sie eine Extraaufgabe!“
Ich weiß bis heute nicht, ob es ihr Ernst war, aber wir machten, dass wir schleunigst davon kamen.
Jazzdance war sehr schwer, weil Liam eine gute Figur beim Tanzen machte und ständig zu mir herüber sah. Ich war schrecklich unkonzentriert und kribbelig, aber zum Glück wurde die Stunde zehn Minuten früher beendet: Marvin hatte eine kleine Ansprache vorbereitet.
„Wie ihr wisst“, sagte er vor der Klasse, „werde ich die Schule wechseln. Ich bin auch schon nebenan angenommen, wir sehen uns also bestimmt noch mal. Also… es war sehr cool mit euch. Das wollte ich nur sagen. Ich mache das Jahr hier natürlich noch zu Ende, aber ich wollte, dass ihr’s wisst.“
Wir applaudierten, und mein Blick schweifte zu Mark. Er saß etwas abseits und starrte vor sich hin, mit zusammengebissenen Zähnen. Ich stand auf und ging in die Umkleidekabinen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er sah ziemlich wütend aus.
Ich ließ mir in der Umkleidekabine Zeit, mehr als sonst. Warum, weiß ich heute schon nicht mehr. Ich dachte nach über das Gesehene und Erlebte, dachte an Liam und daran, dass es meine Eltern noch gar nicht wussten… Als ich endlich als eine der letzten aus der Kabine trödelte und den Gang hinunter schlenderte, bemerkte ich Sarah erst, als sie mich zurückhielt.
„Hörst du das?“, fragte sie. Ich blieb stehen, und gemeinsam lauschten wir in die Stille. Plötzlich ertönte ein Krachen und ein Aufprall, dumpf und weit entfernt. Kurz darauf zersplitterte wohl etwas. Ich sah sie erschrocken an.
„Was ist das?“
Sie schüttelte den Kopf als Zeichen, dass sie keine Ahnung hatte. Gemeinsam gingen wir wieder zurück, stoppten vor jeder Türe und lauschten, ehe wir die Lärmquelle gefunden hatten. Schülerbibliothek stand auf dem Schildchen neben der Türe. Drinnen schien erneut etwas auf den Boden zu klatschen; ich hatte unwillkürlich das Bild eines Buches vorm inneren Auge.
„Wer ist da drin?“, fragte ich, ohne auf eine Antwort zu hoffen. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter und schob die Türe einen Spalt breit auf. Aber als ich ein unterdrücktes Schluchzen hörte, wich ich zurück.
„Das hat sich angehört wie…“, setzte Sarah an, doch dann hielt sie inne. „Willst du reingehen? Oder ich? Oder sollen wir jemanden holen?“
Etwas knirschte.
„Nein. Ich will sehen, wer das ist. Vielleicht können wir ihm einigen Ärger ersparen, wenn wir reingehen.“
Sie zögerte, dann nickte sie. „Gut. Geh vor!“
Abermals drückte ich die Klinke herunter und betrat die kleine Bibliothek. Der Anblick war erst zu skurril, als dass ich irgendetwas anderes hätte tun können als dazustehen und starren.
Inmitten einem Scherben- und Bücherhaufen, alle achtlos auf den Boden geworfen, hockte Mark, leise weinend und mit geschlossenen Augen. Auf der Bühne hätte es ein tolles Bild abgegeben, wie er da saß, umringt von kaputten Dingen. Ich kniete mich vor ihn und schob einige Sachen zur Seite.
„Mark“, sagte ich, als ich meine Stimme wiederfand, „was – was machst du denn hier?“ Sollte ich verärgert sein oder ängstlich? Ich wollte nicht über ihn urteilen, aber er brachte sich in Schwierigkeiten! Er schüttelte den Kopf, immer wieder. Ich griff nach seinem Arm.
„Himmel, Mark! Ist es… ist es wegen Marvin?“
Er sah auf, völlig verweint. Dann begann er wieder zu schluchzen, herzzerreißend.
„Also, wegen Marvin“, stellte ich nüchtern fest. Er schüttelte erneut heftig mit dem Kopf, dann hielt er inne und nickte vage.
„Nicht nur wegen ihm“, antwortete er dann rau. „Wegen ihm… und mir.“ Er schloss die Augen. „Ich schäme mich.“
Ich warf einen Blick über die Schulter. Sarah stand noch in der Türe, unsicher, was sie tun sollte. Jetzt zuckte sie die Achseln und verzog mitleidig das Gesicht. Ich wandte mich wieder Mark zu und sah, dass er bitter lächelte.
„Unerwartet, was?“, fragte er zynisch, als er sah, dass ich verstand.
„Ziemlich.“
„Wenigstens sehe ich nicht aus wie eine Schwuchtel“, meinte er böse.
„Sag so etwas nicht!“, rief ich und legte ihm den Arm um die Schultern. „Hey! Ich fand Schwule schon immer cool! Echt!“, versicherte ich ihm, als er mich zweifelnd ansah.
In diesem Moment platzte die halbe Lehrerschaft herein und starrte fassungslos auf das Chaos vor ihnen. Ich stand auf.
„Wir mussten etwas klären“, kam ich jedem Vorwurf zuvor. Mrs. Paige sah mich an, wütend und ungläubig.
„Das“, erwiderte sie beherrscht, „müssen wir auch!“
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
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Gaefa
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 09.07.2014, 19:01:29

Oh hilfe, da haben sich die drei ja in schöne Schwierigkeiten gebracht... Dass zwischen Mark und Marvin mehr ist als gute Freundschaft hatte ich schon fast vermutet. Ich bin gespannt, wie es in der ganzen Sache, auch mit Anouk und Liam, weitergeht. Poste bitte schnell den nächsten Teil :)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 09.07.2014, 20:42:34

Ich finde es prima, dass Anouk im zu helfen versucht! Genau wie Gaefa bin ich auch schon gespannt, wie es weitergeht.

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 10.07.2014, 21:59:02

Schön, dass die neue Wendung gut ankommt und wie gut, dass ich schon vorgeschrieben habe :) Heute warteten wir an einem Bahnhof namens Laim, und ich habe Liam gelesen und war total begeistert, ehe ich meinen Fehler bemerkt habe :lol:
Und dann dachte ich, dass ich dringend die nächsten Teile posten muss. Hier also ein weiterer.

Ich schrieb langsam und ordentlich auf, was Mark mir diktierte, und sah dann auf.
„Noch etwas?“
„Ja.“ Er wog ein paar große Scherben in den Händen und besah sie prüfend. „Hm. Könnte das mal eine Ballerina gewesen sein?“
Ich sah genauer hin. „Möglich“, meinte ich und schrieb auf: Figur aus Gips, Ballerina? Mark seufzte. „Tut mir leid, dass du das hier machen musst.“
„Halb so wild“, erwiderte ich. Mark, Sarah und ich waren dazu verdonnert worden, die Bibliothek aufzuräumen und alles Zerbrochene zu notieren – Mark würde es wohl ersetzen müssen.
„Ich verstehe ja, dass Sie helfen wollten“, hatte Mrs. Paige gesagt, „aber es war verkehrt, keine Lehrkraft zu rufen!“ Sie hatte streng von einem zum anderen geguckt, dann wurde ihre Miene weicher. „Was passiert ist, ist passiert. Mark, Sie werden natürlich alles in Ordnung bringen und den Schaden übernehmen müssen. Anouk, Sarah – ich kann sie nicht zwingen, da sie nichts ernstes verbrochen haben, aber trotzdem wäre es eine… nötige und freundliche Geste, Ihrem Kameraden zu helfen.“
Da waren wir nun, in der Bibliothek, und räumten auf.
„Eigentlich ist das doch ganz nett“, murmelte Sarah, während sie die Bücher ins Regal einsortierte. „Ein Nachmittag zu dritt.“
„Ja, hervorragend“, erwiderte ich. Mark entschuldigte sich erneut.
„Mach dir keine Gedanken. Das geht zu dritt ganz schnell. - Weiß eigentlich noch jemand, dass ihr zusammen seid?"
„Nein.“ Er biss sich auf die Lippe. „Ich hab’s gemerkt, kurz nachdem wir hier angefangen haben“, erzählte er knapp. „Ich habe ewig nichts gesagt, weil ich dachte... Ach, ich weiß auch nicht, was ich dachte. Ich fühlte mich einfach schlecht. Und dass er jetzt auch noch wechselt… Nein. Ich glaube, ich will nicht, dass es jeder weiß.“ Er sah uns flehend an. „Sagt ihr es weiter?“
„Nicht, wenn du nicht willst“, versprach Sarah. „Auch wenn ich nicht glaube, dass das ein Problem wäre. Wir haben eine tolle Klasse, und wenn du offen ein Statement abgibst…“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber die Entscheidung liegt ganz bei dir.“
Er nickte, sichtlicht erleichtert. „Danke!“, sagte er aus vollem Herzen.

Am nächsten Tag nach der Schule besuchte ich meinen Vater. Er war noch nicht da, aber ich besaß inzwischen einen Zweitschlüssel und bereitete uns mit meinen dürftigen Kochkenntnissen Spaghetti Carbonara zu. Die Soße war zu dick und der Parmesan klumpte pappig an den Nudel, aber er freute sich trotzdem.
„Also“, sagte er, als wir aßen, „das ist… gut.“
„Lüg nicht so dreist!“, erwiderte ich trocken. Er grinste.
„Doch! Es schmeckt, so lange man es nicht ansieht.“
Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu, obwohl er Recht hatte. Dann fiel mir ein, dass ich ihm von Liam berichten sollte. Automatisch begann ich zu grinsen, aber ich sagte nichts. Erst, als wir die Teller abgespült und weggeräumt hatten, kam die passende Gelegenheit. Ich räusperte mich.
„Ich muss dir etwas sagen“, begann ich. Er sah auf, und kleine Lachfältchen kräuselten sich um seine Augen.
„Du hast einen neuen Freund“, erwiderte er. Ich sah ihn enttäuscht an.
„Das erste Mal, dass ich es meinem Vater offiziell sagen kann, und du weißt es schon! Woher?“
„Ich wusste es nicht“, widersprach er. „Aber ich hab’s irgendwie vermutet. So, wie du angefangen hast. – Wer ist es? Der etwas dunklere, drahtige?“
„Nein! Warum denken alle, ich sei mit Jamie zusammen?“
„Schon gut!“ Er beugte sich gespannt vor. „Also?“
„Du kennst ihn bestimmt, vom Tag der offenen Tür. Es ist Liam.“
„Der blonde, große?“
„Genau der.“
Er nickte gönnerhaft. „Nicht übel, ganz hübscher Junge. Hast du ein gutes Gefühl mit ihm?“
Ich verdrehte die Augen. „Papa, er ist mein Freund. Natürlich habe ich ein gutes Gefühl!“
„Ich freue mich jedenfalls für dich“, lenkte er ein. „Auch wenn ich Daniel auch sehr nett fand…“
„Ja, aber irgendwie… hat es nicht mehr gepasst.“
„Das kommt vor.“ Er rührte in seinem Kaffee, nachdenklich. „Wann stellst du ihn mir vor?“
„Willst du das denn?“, fragte ich überrascht.
„Na, aber ja doch!“, antwortete er lebhaft.
„Hm.“ Ich dachte rasch nach. „Im Moment haben wir sehr viel zu tun. Ich werde sehen, dass ich es irgendwie einrichten kann“, versprach ich.
Als ich wieder zu Hause war, setzte ich mich an den Schreibtisch und versuchte, mir einen neuen Text einzuprägen – Don’t cry for me Argentinia – für unseren Schauspielunterricht: wir probten Mimik und Ausdruck. Aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich dachte über Liam und mich nach. Ich hatte nie einen Freund haben wollen, der in meiner Klasse war, weil ich fürchtete, dass es allzu schnell peinlich würde. Aber zu meiner Erleichterung ging alles gut – Liam und ich gaben uns Mühe, unsere Beziehung nicht in den Vordergrund zu rücken, solange wir Schule hatten. Auch Isabelle machte keinen Stress, wenn man von den bösen Blicken absah, die sie mir zuwarf. Und Aubrey kehrte am nächsten Tag auch wieder gesundet zurück – Liams und meine Probestunden waren ohnehin nicht mehr sehr produktiv, seit wir zusammen waren…
„Danke, dass du für mich eingesprungen bist!“, wandte sie sich an mich, kaum dass sie mich gesehen hatte.
„Quatsch“, erwiderte ich, „keine große Sache. Eigentlich muss ich dir danken.“
Sie legte den Kopf schief. „Warum?“
„Ach.“ Ich grinste und sah zu Liam hinüber. „Wir sind jetzt zusammen.“
„Herzlichen Glückwunsch!“, sagte sie ehrlich erfreut. „Da hatte mein Leiden ja doch einen Sinn…“
Ich war froh, dass sie so positiv reagierte, denn insgeheim hatte ich befürchtet, dass sie mir deswegen böse sein könnte.

In der folgenden Woche folgte eine Prüfung auf die andere. Es war inzwischen Anfang März, und die Ansprüche wuchsen und wuchsen. Am Montag erwartete Mrs. Paige von mir ein einwandfreies Angel of Music – wir hatten ohne Ende an meiner Stimme gefeilt, und es fiel mir immer leichter, noch höher zu singen. Außerdem wollte Parker am gleichen Tag anfangen, an unseren Songs und der damit verbundenen Mimik zu arbeiten. Das ganze würde ein intensives Wochenprojekt werden. Dienstag stand ein theoretischer Test an – Notenlehre. Ich zitterte ein wenig davor, auch wenn Liam ein toller Nachhilfelehrer war. Ich brachte die beiden Tage aber recht erfolgreich hinter mich: Mrs. Paige hatte nichts mehr auszusetzen und ging mit mir zu Think of me über, im Schauspielunterricht war ich noch nicht an die Reihe gekommen und beim Test hatte ich auch ein recht gutes Gefühl. Am Mittwoch folgte dann die Präsentation unserer Gruppenarbeit in Ensemblearbeit. Ich fand mich mit Michael, Mark und Anna zusammen, um die Kostüme abzuholen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, ein weißes Nachthemd, den blauen Mantel und das rote Tuch zu tragen, nicht zu vergessen die roten Stiefel, zu denen wir ja performen würden. Die Krolocks gerieten allerdings mangels passender Kostüme ein wenig ins Lächerliche; es sah mehr nach Karneval als nach Theater aus.
„Ich habe gehört, ich bin überflüssig geworden?“, ertönte es hinter mir, kurz bevor die erste Gruppe anfing. Ich drehte mich um. Jamie, der sich die Rolle des Tod für Die Schatten werden länger mit jemandem teilte, sah mich prüfend an.
„Warum?“, fragte ich.
„Ich dachte, wir lernen immer zusammen?“, erwiderte er.
„Bist du etwa eifersüchtig?“
„Ein bisschen. – Obwohl es mein Verdienst ist, dass ihr zusammen seid… In gewisser Weise.“
„Ja, und das werde ich dir nie vergessen“, leierte ich noch, ehe Mrs. Paige um Ruhe gab. Sie, Frau Kurth und Parker beobachteten uns genau.
Ich war nervös, als wir an die Reihe kamen. Aber wir hatten viel geübt und Hilfe von den Lehrern bekommen, und es klappte tatsächlich alles gut. Meine Auftritte waren von Schrankenlos frei… bis Ich kann mich sowieso nicht wehr’n denn… Und den Part beim Gebet. Ich lief wie abgesprochen bei meinem Einsatz auf die Bühne, und es war toll, meine Traumrolle zu spielen. Fast ein magischer Moment, als ich, ein wenig schwindlig vom Tanzen, auf den Knien hockte und das Tuch fallen ließ.
„Was mich befreit, das muss stärker sein als ich es bin“, sang ich. Und in diesem Moment hatte ich mal wieder dieses erwärmende, glückliche Gefühl, alles richtig gemacht zu haben: meine Leidenschaft zu meinem Beruf zu machen.
Bitte, dachte ich, als unsere Mitschüler applaudierten, lass mich auch das dritte Jahr gut bestehen! Zu wem auch immer ich es sagte, ich hoffte, er oder sie würde es auch hören.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 11.07.2014, 21:25:57

Schöner Teil!
Mir gefällt dein Schreibstil sehr und ich freu mich, dass Anouks Vater die Beziehung so gut aufnimmt, ob es ihrer Mutter genauso geht? Außerdem ist es toll, dass sie auch das zweite Jahr - trotz oder gerade wegen des Engagements - so gut übersteht.
Übrigens hab ich bei deiner Schilderung von dem Bahnhof auch direkt Liam gelesen *g*.
Bitte bald weiter :)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 11.07.2014, 22:51:33

Danke für die gute Kritik :) Stimmt, der Mutter hat Anouk ja noch gar nichts gesagt... Kommt noch. Jetzt erst mal was ganz anderes...


Manchmal ist das persönliche Glück so vollkommen, so unangetastet, dass man misstrauisch werden sollte. Es gibt ein paar Mal im Jahr dieses besondere Hoch, in dem man tagelang wie auf Wolken schwebt, eine Zeit voller Sonnenschein – ehe der Sturm folgt. Ich ahnte freilich noch nichts von diesem Sturm, der bald unweigerlich über mir toben würde…
Im Moment war ich einfach nur glücklich, fast euphorisch: meine Leistungen wurden wieder stabiler, und Liam war der perfekte Freund. Ich konnte es oft kaum abwarten, ihn nach Schulschluss wieder zu sehen. Als ich ihn meinem Vater vorgestellt hatte, war ich fast geplatzt vor stolz: Liam war sehr höflich und freundlich, und Papa offensichtlich froh, dass ich auch froh war.
Am Freitagabend stand Liam unangemeldet vor der Haustür, ein Sträußchen Mohnblumen – meine Lieblingsblumen – in der Hand und recht nett angezogen.
„Hi“, sagte ich, als ich ihn in der Tür stehen sah, völlig überrumpelt von diesem Aufzug. Und wirklich sehr gerührt.
„Ich dachte, ich führe dich heute aus“, erklärte er seine Anwesenheit. „Du sagtest, du hättest mal nicht so viel zu tun…“ Er reichte mir den Strauß. „Ich habe einen Tisch reserviert. Und diese Blumen habe ich im Internet bestellt, weil kein verdammter Händler sie hatte!“
Ich nahm die Blumen und umarmte Liam. „Das ist… das ist so…“ Ich wollte nicht süß sagen, weil mir das immer zu kitschig war. „Ich liebe dich“, sagte ich also einfach schlicht.
„Och, ihr Süßen!“, sagte Sebastian hinter mir. „Aber es zieht ein bisschen, könntet ihr die Haustüre zumachen?“
Ich löste mich von Liam und zog ihn sacht in den Flur.
„Okay“, sagte ich fahrig, „gib mir zehn Minuten.“
Er nahm eine versteinerte Position ein. „Ich werde genau hier warten.“
Ich grinste und lief in mein Zimmer. Mit fahrigen Fingern zog ich mich um – zum Glück war meine Lieblingsbluse frisch gewaschen. Im Bad schminkte ich mich rasch und steckte mir die Haare hoch, und als ich mich ein letztes Mal im Spiegel betrachtete, kam ich mir plötzlich sehr… schön vor. Ich will nicht eitel oder gar narzisstisch klingen, und vermutlich war dieses überhöhte Selbstbewusstsein dem Umstand zugeschrieben, geliebt zu sein – und zu lieben.
„Abgesehen davon, dass du auch vorher schon toll aussahst“, sagte Liam, als ich in meinen Mantel schlüpfte, „siehst du jetzt echt umwerfend aus!“
Ich strahlte ihn an. „Danke!“
Ich nahm seine Hand und wir gingen hinaus. Ich warf einen raschen Blick über die Schulter – Melissa und Sebastian starrten uns nach und sahen aus, wie man aussieht, wenn man ein sehr niedliches Hundebaby beobachtet.
Wir blieben bis fast zehn Uhr in dem Restaurant, dass weder schick noch schäbig war. Liam bezahlte die Rechnung, und weil ich ungefähr wusste, wie viel seine Eltern verdienten, hatte ich ein nicht ganz so schlechtes Gewissen. Anschließend schlenderten wir durch die leere Stadt. Er legte den Arm um mich, und ich genoss sie straßenlaternenerhellte Dunkelheit, die Schläfrigkeit der geschlossenen Läden und die leisen Stimmen, die ab und zu aus einem Wohnhaus drangen. Ich summte Wehrlos vor mich hin, ehe wir an der Stelle vorbeikamen, an der Jamie und ich dem Akkordeonspieler zugesehen hatten. Ich blieb stehen und hob den leeren Pappbecher auf, der noch einsam auf dem Gehweg stand.
„Was ist?“, fragte Liam, und ich erzählte ihm von dem Tag und dem Lied. Ich schmückte es kaum aus, damit er keinen Grund zur Eifersucht hatte.
„Vielleicht solltest du das Lied mal singen“, schlug er vor. „Es hört sich bestimmt toll an.“
„Ich werde Mrs. Paige darum bitten, es mit mir zu üben, wenn ich mir noch mal einen Song wünschen darf“, erwiderte ich begeistert. Er drückte mich an sich, dann sah er zu mir.
„Wie ist es?“, fragte er, „mir wird etwas kalt. Wollen wir noch etwas zu mir fahren?“
Ich lächelte. „Warum nicht?“

Nach einem wunderschönen Wochenende ging ich die Woche mal wieder optimistisch an. Sie begann auch direkt mit einem Ereignis, das ich als sehr positiv einstufte: in der Schauspielstunde unterbrach Parker den Unterricht, bevor es klingelte.
„Ich bitte Sie, sich noch einmal zu setzen“, sagte er und packte seine Sachen zusammen, „Mark möchte Ihnen noch etwas mitteilen.“ Er nickte Mark zu und verließ dann den Raum. Sarah und ich warfen uns wissende Blicke zu, und Liam zog eine Braue hoch. Ich schüttelte leicht den Kopf.
„Wart’s ab“, sagte ich und nahm seine Hand.
„Ja, also“, begann Mark unsicher und schob offenbar sehr nervös die Hände in die Hosentaschen. „Ich möchte euch etwas sagen:“ Er atmete tief ein und sah aufrecht in die gespannt dasitzende Klasse. „Ich bin schwul.“
Schweigen auf seine ehrlichen, offenen Worte.
„Ich… hoffe wirklich, dass sich nichts ändert, denn wie ihr seht bin ich immer noch ich. Und, falls es euch beruhigt… Ihr seit alle irgendwie nicht mein Typ - bis auf Marvin.“ Er lächelte schwach, und vereinzelt wurde gelacht. „Tja, das… wär’s dann schon.“
Wir begannen zu klatschen, und er war sichtlich erleichtert. Murmelnd standen wir auf. Ich sah, wie Michael Mark auf die Schulter klopfte und Jamie irgendeinen Scherz machte.
„Ein Konkurrent weniger“, meinte Liam neben mir. Ich sah ihn entrüstet an, aber er lachte.
„Ist doch nur Spaß!“, sagte er. „Aber was hattest du damit zu tun?“
Sarah und ich erzählten ihm kurz unser gemeinsames, kleines Abenteuer, und er zog mich an sich.
„Meine Freundin ist also nicht nur hübsch und nett, sondern auch sehr sozial“, stellte er zufrieden fest. „Ich muss mich selbst loben: gute Wahl!“

Schon eine Woche später geschah wieder etwas unerwartetes: Sarah besuchte eine Audition für eine Ensemblerolle in Marie Antoinette. Das Musical würde ab Sommer für ein paar Monate in Stuttgart spielen. Sie war schrecklich aufgeregt, als ich sie zum Bahnhof begleitete.
„Du schaffst das!“, sagte ich ihr. „Du singst einfach vor und wenn sie dich nicht nehmen, sagst du einfach, ich hätte dich empfohlen. Bei Marius und mir hat das ja auch geklappt!“
Sie kicherte nervös, aber als der Zug kam, wurde sie wieder ernst. Ich wünschte ihr noch einmal ganz viel Glück, ehe der Zug abfuhr.
Ich machte mich wieder auf den Weg nach Hause, aber auf halbem Wege bekam ich eine sms von Jamie: Treffen am Akkordeonmann? Ich runzelte die Stirn. Jamie fehlte schon wieder seit gestern; offenbar hatte er seine Erkältung doch nicht ordentlich auskuriert. Solltest du nicht besser im Bett bleiben?, antwortete ich, aber er schrieb nicht zurück – pure Erpressung! Er wusste, dass ich mir Sorgen machte, dass er vergeblich in der immer noch frischen Frühlingsluft warten würde. Und um das Warten abzukürzen, würde ich kommen.
Jamie stand tatsächlich einige Meter vom Akkordeonspieler entfernt, als ich ihn erreichte. Zu meinem Erstaunen trug er nicht mal einen Schal oder irgendetwas, das auf eine Erkältung verwies.
„Und, ist Sarah weg?“, fragte er, als wir ziellos über den Markt schlenderten.
„Ja.“ Ich merkte, dass ich aufgeregt wurde. „Mann, hoffentlich bekommt sie die Rolle! Ich würde es ihr so gönnen!“
„Ja, ich auch“, bestätigte Jamie. „Hey, wollen wir uns kurz setzen?“ Er ließ sich auf einer Bank nieder und klopfte auf das Holz neben sich. Ich setzte mich ebenfalls, und wir beobachteten eine Weile ein kleines Mädchen, dass mit seinem Vater Fußball spielte und mit seinen kurzen Beinchen über den Platz lief. Ich sah auf die Uhr, aber die Zeit verstrich nur sehr langsam. Ich wurde noch nervöser.
„Ich-“ begann Jamie, aber ich hatte schon angefangen zu reden.
„Sie hat einen guten Song“, murmelte ich. „Sie ist top vorbereitet.“ Ich grinste ihn entschuldigend an. „Ich bin ganz aufgeregt!“, sagte ich und rutschte auf meinem Platz hin und her. „Wenn sie diese Rolle nur bekommt! Oh, wenn sie sie bekommt!“
„Anouk?“
Ich sah auf. „Was?“, fragte ich.
„Entspann dich einfach, okay? Ich möchte-“
„Entspannen, du hast leicht reden!“
„Ich möchte dir etwas sagen. Schon… seit Ewigkeiten.“
„Und zwar?“ Ich war eigentlich nicht in Stimmung, mit jemandem zu reden. Jamie griff nach meiner Hand. Ich sah ihn irritiert an. An seinem Hals konnte ich sehen, wie er schluckte, dann richtete er sich ein Stück auf.
„Anouk“, sagte er leise, „ich habe keine Erkältung. Ich habe Leukämie. Ich habe Leukämie und… ich liebe dich.“
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 11.07.2014, 23:06:48

HUi, welch unerwartete Entwicklung.
Ich hatte doch kein allzu schlechtes Gefühl, als ich nicht wusste, welchen der beiden sie nun abbekommt. Aber das - das haut echt rein. Ich hoffe, es gibt noch irgendwie Hoffnung für Jamie! Und arme Anouk, das ist keine einfache Situation für sie. Ganz davon abgesehen, würd ich mich freuen, wenn Sarah die Rolle bekommt. Da es sich wieder um ein paar Monate handeln soll, hätte ich einfach Marie Antoinette als Sommerproduktion einer Freilichtbühne angesetzt, das sind ca 2 Shows pro Woche, wie in Teckli. Das wäre auch noch mit Schule machbar und ist von sich aus zeitlich beschränkt.
Ein kleiner sprachlicher Hinweis: Du schreibst oft "dass" an Stellen, an die nur ein "das" gehört. Einfach nochmal drüberlesen und darauf aufpassen ;)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon little miss sunshine » 12.07.2014, 12:19:32

OH GOTT! Ich bin total fertig (positiv): Einerseits hat Anouk nun endlich den scheinbar perfekten Freund,der sie schön ausführt,unterstützend hinter ihr steht ohne sie einzuengen, sogar bei ihrem Vater gut ankommt,etc...und zum anderen ist da Jamie,der immer sehr sympathisch beschrieben wurde und der sich auch in sie verliebt hat - und der nun auch noch schwer erkrankt ist.
Wie wir den Charakter kennen gelernt haben,wird sie zu ihm halten,aber es wäre nicht fair,nur aus Mitleid Gefühle zu spielen (btw glaube ich,dass sie ihn auch gern hat,aber wäre dann nicht alles völlig durcheinander?!)...

Im übrigen finde ich es gut,dass sie ihre Leistungen wieder aufholt,aber dafür auch hart arbeiten muss - das macht es realistischer.
Und es freut mich,dass Sarah zumindest mal eine Einladung - und hoffentlich auch die Rolle - bekommt,und nicht immer nur Anouk. So sympathisch mir der Charakter ist,aber auch die anderen haben ja auch ne Chance verdient.

Die Szene mit dem Outing war gut beschrieben - und wie zu erwarten haben alle sehr positiv reagiert :clap:. In der Branche ist das ja nun auch nicht was allzu fremdes,ohne völlig mit Vorurteilen rum zu schmeißen^^.

Ach,schreib einfach ganz schnell weiter,es ist immer ganz toll,was Neues von dir zu lesen! :)
Is this the real life, is this just fantasy...

The air is humming, and something great is coming!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 15.07.2014, 16:57:05

Oh, danke ihr beiden :) Ich war etwas hin und her gerissen, ob ich die Krankheitssache mache, da es ja immer ein heikles Thema ist und man nie weiß, wie der Leser dazu steht... Aber so ist nun mal das Leben. Ich bin froh, dass diese Entwicklung "gut" ankommt.


Unmöglich. Unmöglich. Das ist ein schlechter Traum, Anouk. Mach die Augen zu. Wieder auf!
Alles wie zuvor.
Noch mal! Länger!
Keine Änderung.
Das Kind spielte immer noch, der Fußball rollte zu uns hinüber. Ich starrte darauf, ohne etwas unternehmen zu können. Schließlich kickte Jamie ihn weg.
„Ich hatte es schon mal, als Kind. Wär’ fast dran krepiert. Na ja, ich war schon immer etwas schwach. Konstitution eher ungünstig und so weiter. In meiner Familie bin ich so was wie ein Wunder. Also, jetzt nicht mehr. Als ich erkältet war – also, ich war nicht erkältet. Bin zum Arzt, ganz normal. Dann hat er diese dummen roten Punkte gesehen, am Hals. Ich meine, am Hals, verdammt, da guck ich nicht jeden Tag so genau drauf! Sofort Blutabnahme, Untersuchungen… Ich hab das schon so lang nicht mehr gemacht, es war so ungewöhnlich.
Akute Leukämie. Es sieht ziemlich schlecht aus. – Geht es dir gut?“
Gut? Ging es mir gut? – Geht es dir gut? Ich blinzelte ihn an.
„Geht es dir gut, Jamie?“, erwiderte ich. „Oh Gott, Jamie!“ Ich wollte so gern weinen, aber die Tränen steckten irgendwo hinter meinem Auge fest.
„Nicht besonders“, gab er zu. „Es ist… seltsam. Aber ich will nicht rumliegen. Es… nützt nicht viel. Ich will einfach noch ein bisschen leben.“ Er starrte gegen die Hauswand uns gegenüber. „Verdammt, das Leben ist so schön“, meinte er. „Ich hab schon immer gern gelebt. Meine Lieblingsbeschäftigung…“
Ich lehnte den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen.
„Aber manchmal, wenn wir zusammen sind, so wie jetzt, dann denke ich, dass Leukämie gar nicht so weh tun kann wie…“ Er brach ab und ich sah auf. „Vergiss das. Mit der Liebe und so.“
„Wie lange schon?“
„Ich meine, das ist ja eine fiese Zwickmühle: jemanden nicht zu lieben, obwohl er Krebs hat. Grauenvoll.“
„Jamie, wie lange schon?“ Ich musste wissen, wie lange er mich liebte. War das sadistisch von mir?
Er zögerte ein wenig. „Ungefähr… nach dem ersten Halbjahr hat es angefangen.“
„Aber du… du hast doch Liam ermutigt…?“
„Das hört sich jetzt vielleicht etwas kitschig an, aber… Ich will dir nicht wehtun. Ich meine, mit dir zusammen sein und dann einfach… gehen. – Würdest du mich denn überhaupt lieben?“
„Ich liebe dich – wie einen Bruder“, erwiderte ich. „Tut mir leid.“
„Nein, das reicht mir schon! Das reicht schon…“
Die Sonne schien, herrlich warm. Der Akkordeonmann spielte einen Walzer.
„Wie schlimm ist es?“, fragte ich leise. Er gab keine Antwort. „So schlimm?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. „Schlimmer.“ Er griff nach meiner Hand und stand auf. „Komm. Vielleicht spielt er noch mal unser Lied.“
Wir gingen hinüber, durch die herrlich laue Frühlingssonne. Ich war betäubt. Meine Füße – wie konnten sie gehen? Wieso standen sie nicht still, wieso stand die Welt nicht still?
„Ihr wieder!“, rief der Mann mit rauer Stimme. Er sah aus wie ein Seemann…
Warum Jamie? Warum nicht irgendjemand anderes? Warum überhaupt?
Ja, bestimmt ein Seemann.
„Das gleiche wie letztes Mal?“, fragte Jamie.
„Aber sicher!“ Er stimmte das Lied an, und jetzt, da ich den Text nun kannte, trieb mir diese Melodie Tränen in die Augen. Jamie warf einen Zwanziger in den Becher.
„Brauch ich bald eh nicht mehr“, meinte er.
„Danke, Junge. – Deine Freundin weint.“
„Sie ist nicht meine Freundin“, erwiderte er und legte den Arm um mich. „Aber ich hoffe, sie singt einmal diesen Song für mich.“

Ich starrte gegen die Zimmerdecke. Immer wieder filterte sich aus der unsteten Maserung ein Muster heraus – mal war es ein Gesicht, oft ein Auge, ab und zu ein Tier… Ich starrte und starrte und dachte an Jamie, ohne irgendetwas zu fühlen. Diese Leere hätte mir Angst machen müssen, aber nichts passierte.
Er wird sterben, dachte ich. Bald. Ich versuchte, ihn mir tot vorzustellen, bleich und unbewegt. Aber mein Körper schien dichtzumachen: kein einziges Gefühl. Ich schloss die Augen und dachte an den Unterricht. Ich musste Think of me dringend üben. Mrs. Paige hatte gesagt, ich sei schon ganz gut… „Aber das reicht nicht, Anouk“, hörte ich ihre Stimme und sah auf. Nicht mehr mein Zimmer, sondern ein leerer Ballettraum. Spiegel statt Wände. Und Mrs. Paige, in einem weißen Krankenhauskittel, der ihre Figur sehr unvorteilhaft betonte. Ich lachte laut auf.
„Was haben Sie denn da an?“, prustete ich.
„Das ist kein Spaß, Anouk!“, herrschte sie und beugte sich über mich. „Das ist sehr ernst!“ Sie wuchs und wuchs, bis ihr Kopf gegen die Decke stieß, beugte sich bucklig zu mir und starrte mich an. „Sehr schlimm!“, schrie sie.
„Wie schlimm?“, fragte ich, immer noch erheitert. Sie schwieg, ein eisiges Schweigen, und plötzlich spiegelte sich Jamie in allen Spiegeln wider, tausend Jamies oder mehr. Sie sahen mich an, bewegten sich, redeten miteinander; alle taten etwas anderes. Die große Mrs. Paige war fort und ich bekam Angst.
„Jamie?“, rief ich. Aber es war Liam, der mir entgegenkam, aus dem Nichts.
„Anouk“, sagte er und nahm meine Hand, „lass uns gehen.“
„Aber Jamie!“, widersprach ich. „Er muss hier irgendwo sein! Irgendwo hinter den Spiegeln!“
Liam schüttelte den Kopf. „Das sind keine Spiegel. Es sind Erinnerungen…“
Ich schreckte auf, mit pochenden Kopfschmerzen. Draußen dämmerte es. Sarah, dachte ich und setzte mich auf. Wie mag es ihr gehen? Ist sie weiter? Seltsam, dass sie mein erster Gedanke war, nicht Jamie. Ich stand auf und fühlte mich elend. Es war halb sieben, und ich beschloss, dass es sinnlos wäre, noch für dreißig Minuten unter die Decke zu schlüpfen. Also machte ich mich fertig. Als ich in meinen Kleiderschrank sah, fiel mir auf, dass ich gar kein schwarzes Kleid hatte. Ich muss dringend eines kaufen, dachte ich und zog mich mechanisch an. Eines, das ihm gefallen könnte…
Meine Mitbewohner merkten, dass etwas nicht stimmte. Aber ich wollte nicht darüber reden. Es auszusprechen bedeutete, dass es unwiderruflich wahr war. Ich aß etwas und trank etwas, ich machte mich im Bad fertig. Und als ich das Haus verließ, wartete Liam auf mich, um mich abzuholen.
„Du siehst nicht gut aus“, stellte er fest, nachdem er mir einen Kuss gegeben hatte. „Geht’s dir gut?“
Ich schüttelte den Kopf, und er befühlte meine Stirn. „Hast du Fieber?“
„Nein…“
Er sah mich noch einmal prüfend an. „Was ist los?“, wollte er wissen.
„Jamie“, antwortete ich. „Jamie ist sehr krank.“ Und da kamen sie endlich, die lang ersehnten Tränen. Das Begreifen, was es bedeutete: tot. Er würde sterben, tot sein, zerfallen und gefressen werden. Liam wiegte mich in den Armen, während ich weinte, und es dauerte nicht lange. Nur so viele Tränen wie nötig flossen und versiegten wieder, als ahnten sie, dass ich ihre Dienste in Zukunft noch viel öfter brauchen würde. Ich machte mich sacht von Liam los.
„Okay“, sagte ich, „alles wieder gut.“ Ich versuchte ein Lächeln, das kläglich misslang.
„Sicher? Ich könnte dich entschuldigen…“
„Nein, bloß nicht! Ich… brauche jetzt die Ablenkung.“
Liam nahm meine Hand und sah mich mitfühlend an. „Dann lass uns gehen“, sagte er, und ich war froh, dass er da war.
Von Jamies Liebesgeständnis hatte ich ihm nichts erzählt.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 15.07.2014, 17:09:21

Ein etwas verwirrender Teil - gut geschrieben wie immer, aber gerade der Traum ist sehr verwirrend. Das kommt sehr gut rüber, auch wenn mich der Fortgang der Handlung mehr interessiert.
Es ist gut, dass Liam für Anouk da ist. Wenn man das so zusammen schreibt, klingen beide Namen auch total schön - gute Auswahl!
Ich bin sehr gespannt darauf, wie es weitergeht. Bitte schnell den nächsten Teil!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon little miss sunshine » 15.07.2014, 20:59:04

Traurig. Schön. Verwirrend (was den Traum betrifft...wobei ich ihn glaub ich verstehe,da ich auch oft sowas Verdrehtes träume :? ).
Ach,was soll ich dazu noch sagen?! Du schreibst sooo toll :handgestures-thumbupright:
Is this the real life, is this just fantasy...

The air is humming, and something great is coming!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 15.07.2014, 21:03:55

Gefällt mir auch sehr gut. Allerdings würde ich es nicht ganz so hoffnungslos weiterschreiben, gerade Leukämie kann man doch durchaus in den Griff bekommen (habe zwei Freunde, die damit schon mehr als 15 Jahre leben).

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 16.07.2014, 19:11:47

Ich freue mich immer so, wenn es euch gefällt :) Danke für das ständige Lob - auch, wenn es manchmal traurig oder verwirrend ist. @armandine: Ich will dazu erst mal nichts sagen, um nicht irgendetwas vorwegzunehmen. Trotzdem danke ;) Hier kommt mal ein etwas längerer Teil - aber das stört bestimmt nicht?

Ich starrte auf meine Noten, und plötzlich wurden sie wieder zu jenen kleinen Käfern, die mir das Lernen einmal so schwer gemacht hatten. Sie wuselten herum und ergaben keinen Sinn und trieben mich fast in den Wahnsinn.
„Anouk, sind Sie noch anwesend?“, fragte Mrs. Paige. Unterschwellig konnte ich immer noch die Strenge in ihrem Ton hören. Ich sah auf und blinzelte.
„Entschuldigung“, sagte ich. „Ich war… gerade woanders mit den Gedanken.“
Sie sah mich an, ohne irgendeine Regung zu zeigen, dann nickte sie knapp. „Wollen wir loslegen?“, fragte sie.
„Okay.“ Ich stand auf und trat neben sie an das Klavier. Sie schlug die ersten Töne an und ich konzentrierte mich auf meinen Text.
Mrs. Paige hatte unsere Lloyd-Webber-Phase sehr plötzlich abgebrochen – wir hatten gerade mal Angel of Music, Think of me und Memory durchgearbeitet. Jetzt ließ sie mich plötzlich I have confidence aus The sound of music singen. Aber eigentlich war mir das ganz recht, denn ich wusste, warum sie das tat.
Es war nun drei Wochen her, seitdem Jamie mir mitgeteilt hatte, wie krank er war. Zwei Tage später schon hatte er es den Lehrern mitgeteilt, und diese hatten es offiziell an uns weitergegeben. Jamie wollte Klarheit für alle, er wollte keinen Schock auslösen oder Gerüchte entstehen lassen – denn er fehlte in letzter Zeit so häufig, dass ich jedes Mal, wenn er sich blicken ließ, eine Veränderung an ihm bemerken konnte. Schwächer, dünner, leiser, nicht mehr so ausdauernd, erschöpft – alles, was Jamie ausmachte, ging langsam verloren bis auf seine Lebensfreude. Und keine Aussicht auf Hoffnung…
Unsere Klasse befand sich seitdem in einer Art Lethargie – es war schwierig, unbefangen über oder gar mit Jamie zu reden. Wir mieden die Themen Krankheit und Tod, versuchten krampfhaft, uns zu amüsieren – und verfielen in langweilige, nichtssagende Unterhaltungen. Jamie war in der ganzen Klasse sehr beliebt.
Und auch die Lehrer hatten sich verändert. Sie waren sehr geduldig, ich konnte den Druckabfall förmlich spüren.
„Anouk, das wäre Ihr Einsatz gewesen!“, sagte Mrs. Paige. Ich sah sie erschrocken an.
„Oh nein, tut mir so leid!“ Ich biss verkniffen sie Zähne zusammen. Zu meinem Erstaunen klappte sie den Klavierdeckel herunter.
„Machen wir Schluss für heute“, sagte sie. Ich warf einen Blick auf die Uhr – wir hatten noch zwanzig Minuten.
„Aber-“
„Sie sind unkonzentriert, Anouk“, erwiderte sie bestimmt. „Gehen Sie nach Hause und genießen Sie das Wochenende. Sammeln Sie sich.“ Sie stand auf. „Ich kann verstehen, dass Sie betroffen sind, aber das Leben geht weiter. Ich weiß, das klingt hart, aber solange nichts ernstes passiert… müssen wir versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.“
Ich starrte sie an und überlegte, ob ich wütend sein sollte, weil sie so etwas sagte. Aber dann dachte ich, dass sie ja Recht hatte. Ich ließ die Schultern hängen. „In Ordnung. Danke, Mrs. Paige.“

Es war schrecklich, zu leben, während andere leideten. Plötzlich zu merken, was man hat, kann auch sehr schlimm sein – besonders, wenn man einmal die Krebsstation im Krankenhaus besucht hat. Jamie hatte versucht, gesund auszusehen, aber die Medikamente setzten ihm sehr zu und er war ständig müde und manchmal verwirrt. Er versuchte, sich vollkommen auf die Unterrichtsinhalte zu konzentrieren, die ich ihm mitbrachte, aber er schaffte es ja nicht mal, einen geraden Ton zu singen.
„Mach dich nicht kaputt, nur weil Jamie so krank ist“, riet Sarah mir tröstend. Als sie von der Audition wiederkam hatte ich ihr alles erzählt, und sie war ebenso fassungslos wie wir alle.
Ich beherzigte ihren Rat sogar: meine Psyche baute eine Mauer, die ich erst einriss, wenn die Schule zu Ende war. Dann gestattete ich mir, an Jamie zu denken, ihn zu besuchen oder mit ihm zu telefonieren. Zwei Mal ging seine Mutter für ihn ran, ein Mal weinte sie sogar.
„Ich bin ja so froh, dass er seine Freunde hat“, schluchzte sie, „so froh!“
„Es tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe“, erwiderte ich peinlich berührt und erschrocken.
„Schon gut, Anouk. Er spricht sehr oft von Ihnen, mein tapferer Sohn…“ Sie schluchzte weiter und ich stammelte irgendwelche Abschiedsworte, ehe ich auflegte, völlig durcheinander und schon wieder mit den Tränen kämpfend.
Am folgenden Tag betrat ich die Schule und wurde von einer Welle Melancholie überrollt – überglücklich, hier sein zu dürfen, und gleichzeitig bedrückt und niedergeschlagen. Daher fiel mir erst etwas verspätet auf, dass Sarah in einer seltsamen Laune war – sie schien pure Freude geradezu zu unterdrücken.
„Was ist los?“, flüsterte ich ihr in Theorie zu, als sie urplötzlich zu grinsen begann. Sie sah schuldbewusst drein.
„Ich habe die Ensemblerolle“, wisperte sie.
„Aber das ist doch toll!“, erwiderte ich etwas zu laut – Schüler und Lehrer sahen mich erstaunt an. Ich senkte hastig den Kopf.
„Warum sagst du nichts?“, fragte ich leiser.
„Ich… Wegen Jamie“, antwortete sie. „Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich etwas schaffe, dass er vermutlich nie – “ Sie brach abrupt ab, starrte konzentriert an die Tafel und machte sich dann sorgfältig Notizen. Ich ließ meinen Blick durch den Raum streifen und begegnete Liams Blick. Er lächelte mir zu und zwinkerte, und mechanisch lächelte ich zurück.
Und dann fasste ich einen Entschluss: ich musste aufhören, mir selbst leid zu tun. Ich hatte es gut. Ja, Jamie würde vermutlich sterben. Er war krank, und die Hoffnung auf Heilung wurde immer geringer, wie die Ärzte uns erst vor kurzem mitgeteilt hatten.
Aber jetzt war Jetzt und ich durfte nicht riskieren, aus lauter Angst um ihn meine Leistungen absacken zu lassen.

Abschlussprüfungen. Wir mussten ihnen entgegen sehen. Zwar waren es noch einige Wochen hin, aber wir hatten schon unsere Termine für Vorsingen und –sprechen bekommen: einen szenisch umgesetzten Song in Gesang Einzel, ein Monolog von circa fünf Minuten in Schauspiel und jeweils eine Performance in Dreiergruppen in Jazz und Stepptanz. In Ballett würden wir ebenfalls einzeln geprüft werden. Als Vorbereitung trafen wir uns mit der ganzen Klasse nach dem Unterricht im Probenraum für Schauspiel, um uns gegenseitig zu unterstützen. Sarah und ich saßen auf der Bühne, einen großen Stapel Bücher und Notenhefte zwischen uns.
„Hast du schon einen Song?“, fragte sie abwesend, während sie in einem Buch blätterte.
Green finch and linnet bird“, erwiderte ich. „Sweeney Todd.“
Sie nickte. „Kommst du zurecht?“
Ich seufzte. „Eher nicht. Ziemliche Probleme an vielen Stellen.“
„Vielleicht können wir zusammen üben“, schlug sie vor. Als die Schulglocke gongte, sah sie auf. „Ich muss los“, sagte sie und stopfte die Bücher in ihre Schultasche. „Habe Jamie versprochen, vorbeizusehen.“
„Okay. Rufst du an?“
„Wie immer“, antwortete sie und verließ den Raum. Ich begann, in einer Ecke zusammen mit Aubrey den Song zu üben. Es lief nach einer Weile ganz gut für mich, und am späten Nachmittag schloss ich mich direkt nach der Schule in meinem Zimmer ein und übte die prüfungsrelevante Stepptanz-Choreographie so lange, bis mir der Kopf brummte. Um halb neun rief mich Sarah an. Ich saß mit Melissa auf der Couch und schaute How I met your mother, obwohl ich die Serie nicht ausstehen konnte. Als mein Handy summte, ging ich mit zitternden Fingern ran.
„Ja?“, fragte ich drängend.
„Ich bin’s.“ Sie klang angespannt. „Wann hast du Zeit, shoppen zu gehen? Wir brauchen bald schwarze Kleider.“

Ich wollte eigentlich nur noch nach Hause, als Mrs. Paige mich entließ. Mit den Worten: „Lassen Sie sich nicht unterkriegen, Anouk.“ Aber auf dem Flur wartete Liam auf mich. Wortlos nahm er meine Hand und führte mich durch das Foyer in die Aula.
„Was machen wir hier?“, fragte ich, als wir den Saal betraten. Zu meiner Überraschung wartete meine ganze Klasse hier. Sie saßen auf der Bühne und unterhielten sich leise. Als Michael uns sah, sprang er auf.
„Leute, wir können anfangen!“, rief er gedämpft. Ich ging zögernd auf die Bühne zu und setzte mich auf den Rand, neben Liam, der die Türen zuvor sorgfältig verschlossen hatte.
„Also“, begann Michael, der vor der Bühne auf einem Stuhl stand, „einige von uns hatten die Idee, eine Feier für Jamie zu organisieren.“
„Du meinst, als Spendenaktion?“, warf Anita ein.
„Nein.“ Michael schüttelte den Kopf. „Ich – oder wir – hatten eher an einen Gesangsabend gedacht. Jeder präsentiert ein paar Songs, wir sitzen zusammen, essen was nettes und so weiter.“
„Was soll das bringen?“, fragte Isabelle mürrisch.
„Es wird ihm Freude bereiten“, antwortete Michael geduldig. „Er hat mich sogar irgendwie darum gebeten.“
„Was hat er gesagt?“, wollte Marvin wissen.
„Dass er sich langweilt. Und dass er uns vermisst. Er… will uns besuchen, aber…“
Die Stimmung war plötzlich bedrückt. Das Wort Abschied hing für alle sichtbar in der Luft. Liam legte den Arm um mich. Ich sah zu ihm auf; er hatte die Lippen zusammengepresst.
„Wo sollen wir es machen?“, brach Aubrey irgendwann das Schweigen. Wir sahen uns ratlos an.
„Jedenfalls nicht im Krankenhaus“, sagte Sarah.
„Bei ihm zu Hause?“
„Nein, das wird nicht klappen…“
„Was ist mit einem gemieteten Saal?““
„Zu teuer!“
„Warum machen wir es nicht hier?“
Alle drehten sich um. Anna wurde ein wenig rot. „Na ja, hier ist eine Bühne, wir kommen bestimmt irgendwie rein und jemand kann Jamie mitnehmen.“
Wir schwiegen eine Weile.
„Aber wie“, löste sich erneut eine Stimme aus der Masse, „bekommen wir ihn hierhin?“
„Das“, erwiderte Michael grimmig, „lasst meine Sorge sein.“
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 16.07.2014, 22:46:44

Lange Teile sind immer gut ;)
Allerdings wird die Krankheit sehr weit in den Vordergrund gestellt und nimmt scheinbar das Leben aller voll ein. Ich weiß nicht, ob auf einer solchen Schule auf so etwas so viel Rücksicht genommen wird? Klar, sie sind ein Verband und verstehen sich extrem gut, aber Mrs. Paige hat schon recht, dass die anderen weiter machen müssen. Ich bin gespannt, was noch so kommt.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 17.07.2014, 21:32:26

Bald kommt wieder viel Schule & Unterricht ;) Aber jetzt geht's noch mal um Jamie:

Ich drehte mich unsicher vorm Spiegel. Im Geschäft hatte mir das Kleid gut gefallen, aber jetzt war ich mir plötzlich unschlüssig, ob es nicht etwas zu… gewagt war.
Das Kleid lag sehr eng an, ehe der Rock an der Hüfte sacht auseinander schwang. Es war von einem angenehmen Gelb, aber immer wieder blitzte der dunkellila Stoff hervor, der den Unterrock bildete. Schließlich band ich meine Haare zu einem einfachen Zopf zusammen, ohne mich noch einmal umzusehen. Das Kleid war nicht gerade billig gewesen.
Ich war nervös, ohne zu wissen, warum. Als ich an der Schule ankam, wusste ich es wieder: sie war um diese Zeit eigentlich geschlossen. Vor dem Hintertor warteten schon die meisten Schüler.
„Also“, sagte Michael, der die Anführerrolle automatisch übernommen hatte, „ich habe nur den Schlüssel für die Schule bekommen, nicht für das Tor.“
Wir sahen schweigend an dem eisernen Gitter hinauf. Wie hoch mochte es sein? Eineinhalb Meter vielleicht? Ich sah in die Runde. Alle waren angezogen, als ginge es auf eine Party oder Feier. Teilweise sah ich sogar einen Anzugträger.
„Wie bist du eigentlich an die Schlüssel gekommen?“, fragte Mark. Michael grinste verschmitzt. „Der Sohn des Hausmeisters ist mit meiner Nachbarin zusammen. Ich musste hart an einer freundschaftlichen Beziehung arbeiten, um uns das hier zu ermöglichen!“ Er hielt den Schlüssel hoch, als sei es der Heilige Gral.
„Okay, genug geredet“, warf Marvin ein. „Wie kommen wir da rüber?“
„Klettern“, antwortete Michael. Er musterte uns kurz grimmig, dann steckte er den Schlüssel vorsichtig in seine Hosentasche und trat auf das Gitter zu. Ungefragt machten Marvin und Liam eine Räuberleiter, und Michael kletterte über das laut klappernde Tor. Ich sah mich nervös um, als er im Gebäude verschwand, aber die Straße war verlassen. Es wurde bereits dunkel, und alle waren sichtlich erleichtert, als Michael wieder mit einem Stuhl auftauchte. Er hob ihn umständlich über das Tor, wo wir ihn annahmen und als provisorische Treppe benutzten. Nach etwa fünfzehn Minuten standen alle auf der anderen Seite, bepackt mit Tüten voller Flaschen und anderen Lebensmitteln. Ich richtete mein Kleid, das ein wenig verrutscht war, als Liam mich in den Hof gehoben hatte. Schweigend gingen wir in die Schule. Das Gefühl, das sich meiner bemächtigte, erinnerte mich an meine Grundschulzeit, als wir verbotenerweise in den Nachbarsgarten eingedrungen waren: aufgeregt und ängstlich, ein angenehmer Adrenalinschub. Unsere Schritte tappten laut über die Fliesen, und das aufflammende Licht in der Aula hatte etwas verräterisches an sich. Wir schoben Tische zusammen, etwa in der Mitte des Raumes, bis eine lange Tafel entstand. Jeder trug an diesem Abend etwas zum Gelingen dabei: Aubrey hatte zwei weiße Tischtücher mitgebracht, Marvin und Mark diverse Spirituosen, Aubrey und Anna hatten gemeinsam Kuchen gebacken und Brötchen belegt. Sarah und ich sorgten für das Geschirr, der Rest hatte kleine Häppchen oder Süßes mitgebracht. Sogar eine Lichterkette wurde aufgetrieben und über die Bühne gehängt. Es war halb acht, als wir uns zufrieden umsahen.
„Und jetzt?“, fragte Sarah. Wir sahen uns an.
„Wann kommt Jamie?“
„Wartet hier“, sagte Michael bestimmt und verließ die Aula. Nach einer Weile fielen wir in eine leise Unterhaltung.
„Ist diese Schule eigentlich kameraüberwacht?“, fragte Anna.
„Ich glaube nicht“, erwiderte Mark.
„Und wenn schon“, meinte Emilia und fuhr sich durch ihre in alle Richtungen abstehenden Locken. „Wenn wir erwischt werden, bieten wir wenigstens eine einmalige Show.“
„Stimmt.“ Marvin legte den Arm um Mark. „Heute geht es nur um Jamie.“
Wir nickten zustimmend.
„Scheiße man, könnt ihr euch vorstellen, dass er stirbt?“, fragte Aubrey.
„Vielleicht gibt es Rettung in letzter Minute“, warf Sarah ohne große Zuversicht ein. Liam drückte meine Hand.
„Hört auf, so dumme Sachen zu sagen“, sagte Isabelle mürrisch. „Er wird sterben. Ende.“
„Aber heute feiern wir das Leben!“, rief Michael. Wir drehten uns um und starrten zur Türe. Mit quietschenden Rädern fuhr er den Rollstuhl samt Jamie zu uns herein und verschloss die Türe. „Na, was sagt ihr?“, fragte er zufrieden. „War ganz schön schwer, ihn über den Zaun zu bekommen.“ Er schob Jamie zu uns. „Es ist zwar nicht mehr viel an ihm dran, aber er hat verdammt schwere Knochen!“
Jamie grinste. „Ich tippe drauf, dass der Torschlüssel im Hausmeisterhäuschen ist. Aber es war definitiv ein Abenteuer, sich über den Zaun heben zu lassen.“ Er sah uns an.
„Also, Leute, ich habe gehört, hier steigt eine Party? Dann lasst mal hören, was ihr vorbereitet habt. Und gebt mir ein bisschen Chips, bitte!“
Es wurde ein wundervoller Abend. Wir gaben alle unsere Performances zum besten. Auffällig war, dass niemand eine traurige Ballade wählte – die meisten hatten flotte Nummern gewählt, zuweilen sogar witzig. Ich selbst sang I have confidence und Tonight aus Westsidestory mit Liam, und nachdem alle gesungen hatten, begannen wir, lockere Improvisationsspiele zu spielen oder Monologe zu verzerren, bis sie lustig wurden.
„Ich hätte mir ein anderes Lied gewünscht“, sagte Jamie zu mir, als wir über das Buffett herfielen, „aber du warst trotzdem gut.“
„Vielleicht ein anderes Mal“, erwiderte ich ausweichend. Er sah mich wissend an, und seine Augen sprachen Bände: es würde kein anderes Mal geben. Liam setzte sich zu uns, drückte mir ein Glas Sekt in die Hand und wollte mich küssen. Ich drehte mich weg, unbedacht, weil Jamie dabei saß und ich wusste, wie er fühlte. Ich wollte ihm keine Schmerzen bereiten. Liam sah mich kurz stirnrunzelnd an, dann fiel sein Blick auf Jamie, der uns beide taxierte, und ich spürte, wie sein Arm um meine Mitte sich anspannte. Ich fühlte mich unbehaglich, wusste nicht, was ich tun sollte. Hastig nahm ich einen Schluck Sekt.
„Guter Abend, Liam“, sagte Jamie. „Hast du eigentlich deinen Kommunionsanzug an?“
Liam sah an sich hinab; seine Hose und die Jackettärmel waren etwas zu kurz. Ich lachte, aber ich hörte selber, wie unsicher und gezwungen es klang.
„Hör auf, ihn abblitzen zu lassen, wenn ich dabei bin“, mahnte Jamie mich, als Liam uns allein ließ. „Am besten, du sagst ihm, wie ich fühle.“
Ich sah ihn erschrocken an. „Warum denn das?“
Er sah grimmig auf Liams Rücken. „Ich finde ihn nett“, sagte er, „aber ich will, dass er um dich kämpft. Du hast jemanden verdient, der dich wirklich liebt, und nicht einfach ungefragt geht.“
„Ach Jamie“, murmelte ich uns wandte den Blick ab. Ich wollte nicht, dass er mich weinen sah.

Wir erfuhren nie, wie unsere nächtliche Party publik wurde. Hatte jemand gepetzt, oder waren wir beobachtet worden? Was auch immer geschehen war – der nächste Montag begann mit einer Überraschung, und zwar keiner guten.
Ich kam völlig in Gedanken verloren in der Schule an – und wurde vom Schulleiter persönlich abgefangen.
„Frau Steger“, sagte er, „begeben Sie sich ins Sekretariat. Sofort.“
Ich wusste sofort, was los war, und ich war ganz ruhig. Ich nickte und stieg die Treppen hinauf, gefasst und meiner Schuld völlig bewusst.
Ich traf meine Klasse an, zerknirscht und rebellisch zugleich. Ich setzte mich zu ihnen an einen langen Tisch, der normalerweise für die wartenden Schüler vor den Büros gedacht war. Ich begegnete Sarahs Blick, und sie nickte mir zu. Als Liam als letzter zu uns stieß und die Schulglocke ertönte, beugte Michael sich vor.
„Sind wir uns einig, dass wir die Wahrheit sagten?“
Wir nickten unisono.
„Und dass wir uns verteidigen werden?“
„Ja“, antwortete Liam für uns alle und sah mich an. Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss, ehe Mrs. Paige, Parker und der Schulleiter erschienen.
„Ich hoffe, Sie sind sich bewusst, was Sie getan haben“, sagte der Schulleiter mit nur schwer beherrschter Stimme. Wir sahen ihn an und nickten.
„Sie sind in die Schule eingebrochen.“
„Ja“, sagte Aubrey fest. Mrs. Paiges Auge zuckten zu ihr – Aubrey war bisher immer eine Musterschülerin gewesen.
„Aber warum?“, warf Parker ein, ruhig wie immer. Ich war froh, dass er da war, denn von allen Lehrern war er am verständnisvollsten und tolerantesten.
„Wir haben es für Jamie getan“, sagte Michael mit fester Stimme. „Er ist unser Freund, und er wird vermutlich bald sterben. Er hat sich gewünscht, uns noch einmal zu sehen. Wir… Ich habe mir den Schlüssel zur Schule besorgt. Wir sind über das Tor geklettert, sind in die Schule gegangen und haben einen Gesangsabend veranstaltet: wir haben für Jamie gesungen und gespielt, wir haben gegessen und ein bisschen getrunken. Und um zehn Uhr haben wir alles wieder eingepackt, gefegt und die Schule verlassen. Ich habe Jamie ins Krankenhaus zurück gefahren, und die anderen sind nach Hause gefahren. Das ist alles.“
„Das stimmt“, bestätigte Emilia. „Wir haben nichts anstößiges gemacht. Wir haben nur gemacht, was uns ausmacht: gesungen und gespielt.“
Die Lehrer waren kurz sprachlos ob dieses detaillierten Geständnisses. Mrs. Paige fasste sich als erstes wieder.
„Ihnen ist hoffentlich klar, dass es sich bei Ihrer nächtlichen Aktion um eine kriminelle Handlung handelt?“, fragte sie streng. Wir sahen uns an.
„Na ja“, wandte Anna vorsichtig ein, „wir hatten einen Schlüssel.“
„Wie bitte?“, fragte Mrs. Paige, obwohl sie sehr wohl verstanden hatte.
„Wir sind nicht in die Schule eingebrochen“, wiederholte Michael für Anna. „Wir sind bloß über das Geländer geklettert, aber nie in das Gebäude eingebrochen.“
„Außerdem sind wir Schüler dieser Schule“, fügte Emilia hinzu.
„Und wir haben an unseren Fähigkeiten gearbeitet“, sagte Sarah.
„Uns sozial engagiert“, mischte Liam sich ein.
„Und alles wieder aufgeräumt“, vollendete ich unsere Verteidigung. Die Lehrer tauschten Blicke.
„Es bleibt dabei“, sagte der Schulleiter. „Sie sind ungefragt in das Gebäude eingedrungen, Sie haben den Schlüssel auf unrechtmäßigen Wegen erhalten.“ Er sah in die Runde. „Ein solcher Verstoß wird normalerweise mit sofortigem Schulverweis geahndet!“
Wir starrten uns an, bestürzt und grimmig. Ich sah zu Liam und begegnete seinem Blick – besorgt und nachdenklich.
„Wir sollten nicht so hart über die Schüler urteilen“, warf Parker ein, und alle Augen richteten sich hoffnungsvoll auf ihn.
„Ich kann ihre Handlung nachvollziehen, und ihre Argumentationskette hatte durchaus Sinn.“ Er warf uns einen mahnenden Blick zu, aber mit einem Zwinkern.
„Seien Sie nachsichtig. Belassen Sie es bei einer Mahnung.“ Er sah den Schulleiter eindringlich an. Der verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schürzte die Lippen. Die Spannung wuchs ins Unermessliche.
„Also gut“, lenkte er schließlich ein. „Ich berücksichtige die anstehenden Prüfungen und die, hm, besonderen Umstände. Nehmen Sie Ihre Verwarnung trotzdem nicht auf die leichte Schulter; es ist die letzte vor einer weitaus härteren Strafe. Haben Sie mich verstanden?“
Wir nickten.
„Gut. Dann begeben Sie sich in den Unterricht, und zwar schnell. Ich behalte Sie im Auge!“
Wir schoben schweigend die Stühle zurück und verließen den Vorraum, mit grimmigem Stolz erfüllt.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 17.07.2014, 22:08:49

Schöner Teil! Ich finde es gut, dass die Lehrer auch ein bisschen Verständnis zeigen und vielleicht sogar ein bisschen stolz sind. Trotzdem könnte ich zur Abwechslung mal wieder etwas Heiteres gebrauchen ;-)

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 18.07.2014, 00:49:21

Das geht mir ähnlich wie Armandine. Ich hoffe, dass bald mal wieder ein heiterer Teil kommt. Trotzdem nettes Konzert, aber ich hätte fast gedacht, dass Anouk das eine Lied für Jamie singt.
Ich freu mich schon auf den nächsten Teil :)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 18.07.2014, 17:17:37

armandine hat geschrieben: Trotzdem könnte ich zur Abwechslung mal wieder etwas Heiteres gebrauchen ;-)
Wie schon Bram Stoker schrieb: "...wir müssen erst die bitteren Wasser passieren, um zu den süßen zu gelangen..." ;) Aber noch zwei Teile, dann ist das Schuljahr eh zu Ende. Und dann geht's emotional wieder bergauf. Großes Indianerehrenwort!

Die Stimme, die am anderen Ende der Leitung ans Telefon ging, klang müde. „Ja?“
„Frau Reimann? Hier ist Anouk Steger.“
„Oh, hallo Anouk.“ Sie klang leblos. „Du willst sicher mit Jamie sprechen?“
„Ja, wenn das möglich ist…“
Kurze Stille. „Es ist nicht möglich. Tut mir leid.“ Ihre Stimme begann zu zittern.
„Ist… alles okay mit ihm?“ Okay war unser Alibi für nicht kränker als bisher.
„Nein“, flüsterte sie. „Er hat eine Lungenentzündung bekommen.“
Ich nickte. „Danke, Frau Reimann.“
„Er kann im Moment keine Besuche empfangen.“
„Schon in Ordnung. Ich verstehe das.“
„Danke, dass du an ihn denkst.“ Sie weinte schon wieder.
„Bis demnächst.“ Ich legte auf und starrte auf das Telefon in meinen Händen. Liam nahm es sacht entgegen und legte es weg. „Was ist los mit ihm?“
„Eine Lungenentzündung.“
Er nahm mich in den Arm. Ich lehnte den Kopf an seine Brust, aber ich konnte nicht weinen.
„Es ist unsere Schuld“, sagte ich leise. „Der Abend letztens… war zu viel für ihn.“
Liam schwieg, und ich kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass dieses Schweigen Zustimmung war.
„Ich will dich schon seit der Feier etwas fragen“, sagte Liam plötzlich. „Ich weiß nur nicht, ob es passt… Aber ich muss es wissen.“
„Frag nur“, sagte ich resigniert, denn ich ahnte, was er wissen wollte.
„Liebt er dich?“
„Ja.“
Ich spürte, wie er nickte; sein Kinn tippte sacht auf meinen Scheitel. „Und?“
„Nichts und. Er ist mein Freund. Ich liebe dich.“
Er drückte mich noch fester. „Wollen wir für die Prüfung üben?“
Ich setzte mich auf. „Okay.“

Zwei Wochen später konnte ich Jamie wieder besuchen. Seine Mutter hatte mich gewarnt, er sei sehr schwach und immer noch sehr krank, und ich musste Kittel und Mundschutz anziehen, ehe ich zu ihm durfte.
Jamie schien zu versinken in dem übergroßen, hingestellten Bett. Sein Körper zeichnete sich deutlich unter der Decke ab, verschmolz beinahe mit den Laken. Er hatte die Augen geschlossen, und ich hatte für einen schrecklichen Moment Angst, er sei tot. Doch als ich näher kam, drehte er den Kopf, langsam, als bereite selbst diese Bewegung ihm Schmerzen. Seine Augen waren das einzig lebendige an ihm; tief in ihren Höhlen blitzten sie hervor, einen letzten Funken Hoffnung in sich. Ich setzte mich auf den Stuhl neben dem Bett und legte die CD auf den Tisch.
„Ich dachte, ich bringe keine Blumen mit“, plapperte ich. „Du hast wohl schon mehr als genug.“
„Stimmt.“ Er grinste schwach. „Damit könnt ihr mein Grab bepflanzen.“
Ich schwieg, geschockt durch seine Ehrlichkeit.
„Was?“ Er nahm meine Hand. Seine Finger waren lang und dünn und eiskalt. „Tun wir nicht länger so, als würde ich das hier überleben.“
Ich begann haltlos zu weinen. „Auf der CD ist unser Auftritt“, brachte ich irgendwann heraus. „Wir haben es aufgenommen.“
„Ich kann dich immer noch sehen“, flüsterte er. „Da oben, auf der Bühne.“ Er schloss die Augen. „Ich sehe die Lichterkette und das Buffett… Und du, in diesem sexy Kleid…“ Ein leises Lächeln huschte über seine Lippen. „Wie du alles gesungen hast, was gute Laune macht. Und ich habe mich für diesen einen Abend so gut gefühlt…“
Ich umklammerte seine Hand und lehnte die Stirn dagegen. Ich wollte nicht weinen. Ich wollte nicht, dass er ging, aber ich wusste, meine Tränen würden es ihm nicht leichter machen. Er kämpfte. In diesen Sekunden kämpfte er, mit rasselndem Atem, kalten Fingern und Herzschlägen, die seinen Körper erschütterten. „Lass mich ruh’n auf dem Feld der Ehre…“, sang er leise. „Ich habe schon aufgeschrieben, dass es dieses Lied sein soll. Wenn ich… Wenn mein Körper weggetragen wird.“
„Hör auf damit, Jamie“, sagte ich.
„Sing für mich.“
Ich sah auf. „Wie bitte?“
„Sing für mich“, wiederholte er und sah mich an. „Ich liebe dich, erinnerst du dich? Aber ich warne dich: fühl dich nicht verpflichtet, mich zurückzulieben, nur weil ich den Löffel abgebe.“
„Ich liebe dich als Freund!“, versicherte ich ihm.
„Dann sing’s mir vor.“
„Aber was denn?“
„Du weißt es. Smoke gets in your eyes.
Natürlich. Sein absolutes Lieblingslied. „Willst du nicht lieber die CD…“
„Nein, Anouk. Ich will es von dir hören. Einmal. Ich weiß, du kannst das.“
Ich begann zu singen. Tränen und Rotz verzerrten meine Stimme, und bei der Hälfte brach ich ab. „Ich kann es nicht“, flüsterte ich und lehnte mich gegen seine knochige Schulter. Plötzlich erinnerte ich mich daran, wie ruhig er immer an meiner Seite gewesen war. Bei Problemen war er immer bei mir geblieben… Wie seltsam und grausam, dass ich seine Anwesendheit erst bemerkte, wenn er ging. Wir lagen da, in gemeinsamem Schweigen, sein lauter Atem war das einzige Geräusch. Plötzlich schüttelte ihn ein Hustenanfall, Blut rann aus seiner Nase. Ich griff nach den Tüchern auf dem Nachttisch.
„Lass das“, sagte er. „Du kannst doch gar kein Blut sehen.“
Schweigend wischte ich es ab. Er beobachtete mich mit beredtem Blick. „Drei Jahre“, sagte er schließlich leise und lehnte sich zurück, seufzte.
„Und ich hätte es fast geschafft…“

Jamie starb in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages. Die flüchtende Nacht sog seine Seele einfach auf und trug sie fort, schweigend. Ich erwachte aus einem wirren Schlaf, halb auf den harten Plastikstühlen des Wartezimmers. Sarah rüttelte an meiner Schulter, ganz sacht. Ihre Augen waren rot und verquollen.
„Es ist vorbei“, flüsterte sie. Ich setzte mich auf. Vorbei… Die ganze Stufe war da – sie waren gekommen, als sich die Nachricht verbreitete, dass das Ende nahte. Vereinzelt standen sie im Raum, starrten auf den Boden, an die Decke, ins Nichts. Sogar Isabelle war da, mit starrem Gesichtsausdruck saß sie stocksteif auf ihrem Platz, abseits von allen. Was fühlte sie? – Was fühlte ich? Sarah begann wieder zu weinen, herzzerreißend. Michael setzte sic neben sie. Ich stand auf, durchquerte den leeren Raum. Ging durch die Gänge, langsam. Auf halbem Wege schoben ein paar Schwestern ein leeres Bett mit zerknüllten Laken darauf durch den Gang, Jamies Eltern in Schlepptau. Sie bemerkten sich nicht. Ich betrat sein Zimmer, aber es war leer. Das Bett war fort, die Putzfrau bereits da. Als sie mich bemerkte, hielt sie inne.
„Kann ich helfen?“
„Nein“, sagte ich, „danke.“ Ich ging wieder. Es dämmerte mir, dass das Bett, das mir begegnete, gar nicht leer war. – Noch ein letztes, ein allerletztes Mal… war ich Jamie begegnet. Jamie, nun noch dünner, als sei sein Körper geschrumpft, als seine Seele ihn verlassen hatte. Natürlich war sein Körper geschrumpft – niemand hatte eine so große, liebevolle, alles einnehmende Seele wie er. Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken und vergrub den Kopf in den Händen. Trotz allem war da Erleichterung – und Schmerz. Grenzenloser, sinnloser und verdammter Schmerz.

Anm.: :crying-blue:
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon little miss sunshine » 18.07.2014, 17:50:52

Oh Gott...wie unsagbar traurig! :cry: Ich musste grade echt schlucken,als ich das gelesen habe.
Aber du machst es wie Frau Rowling - du lässt die besten zuerst sterben...und irgendwie ist es genau das,was die Geschichte so realistisch macht.
Es ist sicherlich tröstlich gewesen für Jamie,dass Anouk an seiner Seite war,und sie sein Lieblingslied angestimmt hat. Wahrscheinlich konnte er sich dank diesem schönen,persönlichen Moment erst richtig verabschieden.
Irgendwie hat mich dieser Teil an "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" erinnert,wovon ich (bisher) nur den Film kenne,den ich aber ganz großartig finde.
Besonders die Stelle,wo du beschreibst wie klein der Körper ohne diese große Seele ist,hat mich sehr berührt. Toll geschrieben!
Bitte schnell was Neues - nur hoffentlich wieder etwas fröhlicheres...
Is this the real life, is this just fantasy...

The air is humming, and something great is coming!


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