Mich trägt mein Traum

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 24.04.2014, 19:33:54

Ich weiß. Aber ich mag Spannung :D :D
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
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Eponine Thénardier
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Eponine Thénardier » 24.04.2014, 19:35:27

Ich an und für sich auch - aber spann' uns nicht zu lange auf die Folter, okay? :D
"IF LIFE WERE MORE LIKE THEATRE, LIFE WOULDN'T SUCK SO MUCH!" (Opening der Tony Awards 2012)

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 24.04.2014, 19:50:03

Morgen ;)
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 25.04.2014, 13:11:31

So, hier die Erlösung :D Und weil ich morgen den ganzen Tag nicht da bin, auch direkt der übernächste Teil.

Einer der wichtigsten Tage in meinem Leben war der Tag, an dem ich grün wurde.
Es war genau eine Woche nach meinem 18. Geburtstag, und wir durften unsere Garderoben in dem Theater beziehen, in dem wir auftreten würden. Die Garderoben waren winzig, der Spiegel und der kleine Schminktisch sahen ein wenig fehl am Platz aus, wie Menschenmöbel in einem Puppenhaus. Trotzdem dekorierte ich jedes freie Fleckchen mit Bildern und vor allem grünen Sachen – denn die hatte ich, besonders zum Geburtstag, haufenweise bekommen: selbstgebastelte oder gekaufte Elphabafiguren, Schriftzüge in Grün, alte Wicked-Plakate, Fotos aus der Probenzeit in grünen Bilderrahmen… Alles vorstellbare und unvorstellbare. Die Kostümbildnerin, die zu Beginn der Probenzeit unsere Maße genommen hatte, kam mit einem Packen in Kleiderhüllen versteckten Kostümen durch die Türe. Ich war erstaunt, dass Elphaba so viele Kostüme hatte; ich hatte mit viel weniger gerechnet.
Wir probierten alle der Reihe nach an, ich machte ein paar Verrenkungen, bis sicher war, dass ich mich ohne Probleme bewegen konnte. Und als sie wieder verschwunden war, blieb gar keine Zeit, die Kostüme zu bewundern; die Maskenbildnerin schob ihr Wägelchen herein und sortierte die Schminke auf dem Tischchen.
Und so wurde ich grün.
Ich gefiel mir, als ich mich im Spiegel sah. Die Perücke gefiel mir, der Hut stand mir auch, in dem schwarzen, schlichten Kleid fühlte ich mich wohl. Ich verließ die Garderobe, ziemlich aufgeregt. Überall raschelte es geheimnisvoll, Tüten und Kisten wurden hereingeschleppt, Teile vom Bühnenbild, das von einem gering bezahlten Künstlerteam angefertigt wurde. Lauter seltsame Gestalten mit bauschigen Kleidern liefen mir über den Weg; und dann traf ich auf Daniel alias Fiyero und war ganz hin und weg. Er sah in dieser Uniform wirklich fabelhaft aus.
„Danke“, sagte er. Ich klappte den Mund wieder zu.
„Äh, was?“
„Du sagtest, ich sehe“, er verstellte seine Stimme, bis er sich anhörte wie ein kleines Mädchen, „fabelhaft aus.“
Oh mein Gott. Ich hatte das laut gesagt? Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg.
„Aber du auch.“ Seine Augen suchten meine, und wir starrten uns an. Ich wusste, was jetzt passieren würde. Hier im Durchgang, wo wir ein paar Sekunden ungestört waren… Ich trat einen Schritt zurück.
„Schau dir Mara an“, sagte ich so unbefangen wie möglich. „Die sieht fabelhaft aus.“ Ich lachte. „Fabelhaft. Das hat tatsächlich die Chance, das Unwort der Produktion zu werden.“ Ich sah an mir herab. „Oh, ich habe meine… etwas in der Garderobe vergessen!“ Ich drehte mich um und flüchtete in meine Garderobe. Meine Hände zitterten, als ich mich auf den Stuhl fallen ließ. Ich verbarg das Gesicht in den Händen. Warum konnte ich Situationen wie diesen nicht gewachsen sein? Warum musste meine Unsicherheit mir immer alles kaputt machen? Meine alberne Angst vor Enttäuschungen… Wegen ihm. Wegen früher. Ich hob den Kopf und starrte in den Spiegel. Minutenlang, bis ich mich wieder beruhigt und diese peinliche Situation von eben irgendwo in mir drin eingeschlossen hatte.

Die folgenden Wochen vergingen wie im Flug. Wir probten jeden Tag bis in die Nacht. Der Aufzug, der mich in Frei und schwerelos fliegen lassen sollte, war lächerlich einfach und niedrig, aber für mich war es das erhebendste Gefühl, von ihm getragen zu werden. Bei Gutes tun kam ich nicht aus der Erde, sondern rannte auf die Bühne, aber ich war stolz auf die Verzweiflung in meiner Stimme. Und irgendwann kam auch der Zeitpunkt, an dem ich bei Heißgeliebt nicht immer sofort losprusten musste, weil Mara völlig irre über die Bühne hüpfte und tanzte. Mara und ich verstanden uns sehr gut. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, am Tag des ersten Castings, war sie mir sehr überheblich und selbstsicher vorgekommen, wie sie da stand und eine formvollendete Opernarie sang. In Wirklichkeit war sie der aufgedrehteste, witzigste und gleichzeitig nachdenklichste Mensch, der mir je begegnet war. Ihr Charakter war dem der guten Glinda wirklich ähnlich, frisch und herzig. Ich erfuhr, dass sie bereits mit fünf Jahren ihre ersten Gesangsstunden nahm, und dass die Musik ihr Leben war. Sie hatte auch viele wertvolle Tipps für mich, und Bertelin war nicht nur einmal erstaunt über plötzlich neu gelernte Techniken. Ja, es war eine sehr glückliche Zeit für mich, in der alles zu funktionieren schien.
Bis auf eines.
„Anouk, Konzentration!“, rief Julia. „Diese Szene ist ein wichtiger Augenblick für Elphaba! Versuch, dich mehr in sie hineinzufühlen!“
„Okay, Entschuldigung.“
„Nein, nein, singt einfach weiter!“ Sie klatschte unwirsch in die Hände. „Kinder, ich weiß, dass ihr aufgeregt seid. Aber jetzt müsst ihr noch einmal alles geben. Die Premiere ist bereits ausverkauft, also strengt euch an!“
Es war nicht mehr dasselbe, mit Daniel zu singen. Jeden Tag graute mir davor, Solang ich dich hab’ zu proben. Weil ich seit jenem Tag, an dem wir uns beinahe geküsst hätten, nicht wusste, was er von mir dachte und wie ich mit der Situation umgehen sollte. Fakt war: ich sollte nur auf der Bühne in ihn verliebt sein. Wahrscheinlich war es ganz natürlich, dass ich diese Situation auf das echte Leben übertrug und glaubte, ihn auch zu lieben. Aber wenn alles vorbei war, würde ich vielleicht merken, dass ich einfach zu sehr in meiner Rolle war, und dann würde ich ihm wehtun. Oder, schlimmer: er würde mir wehtun.
Ich versuchte, mich wieder auf die Szene zu konzentrieren, aber ich spürte, dass es nicht klappte. Und in seinem Blick konnte ich wieder einmal diese fragende Verwirrung lesen.
***
Ich rannte eine Treppe hoch. Sie nahm kein Ende, und meine Beine waren erschöpft. Und als ich an ihnen heruntersah, bemerkte ich, dass sie kurz und zerkratzt waren, und dass meine Füße in Kinderschuhen steckten. Atemlos blieb ich stehen, klammerte mich am Treppengeländer fest. Ich wusste nicht, warum ich hier war. Plötzlich hörte ich Schreie. Eine tiefe Stimme, schwer und bedrohlich. Jemand wimmerte, etwas schlug gegen eine Wand und zerbrach. Mama!, dachte ich, und rannte weiter. Und am Ende der Treppe wartete eine verschlossene Tür. Dahinter, das wusste ich, wartete ein Monster. Aber Mama war da, zusammen mit dem Monster, und ich musste sie retten. Ich warf mich gegen die Tür, und die schlug auf, und ich starrte in einen langen Tunnel. Am Ende stand ein Mann.
„Papa!“, rief ich. „Papa, wo ist Mama? Ich habe Angst!“
Die Gestalt kam näher. „Papa!“, sagte ich. Er hielt mir seine Hand hin. Aber meine Finger glitten von ihr ab, wieder und wieder, und als ich ihn ansah, bekam ich Angst, denn sein Gesicht war kalt und höhnisch.
„Hab keine Angst, Anouk“, sagte Mama. Sie kauerte neben mir auf dem Boden. Warum war ihr Auge blau? Sie nahm mich in den Arm. „Alles gut. Keine Angst.“
Sie strich mir übers Haar, und im Hintergrund sang jemand Wenn es weiterregnet.

Ich stand vor dem Theater und atmete tief durch. Jetzt ist es soweit, dachte ich. Sei glücklich, Anouk. Aber da war nur Angst, dumpfe Angst. Warum musste ich ausgerechnet heute Nacht diesen Albtraum haben? Es war so typisch für ihn, mich dann heimzusuchen, wenn ich ihn am wenigsten bei mir wollte. Warum hatte ich bei der Audition dieses verdammte Lied gesungen? Es brachte Erinnerungen zurück, die ich am liebsten für immer zerstören wollte.
Ich betrat das Theater. Es waren noch fünf Stunden bis zur Aufführung, aber ich hatte es keine Sekunde länger Zuhause aushalten können. Ich hatte Mama nicht von dem Traum erzählt. Ich wollte sie nie wieder so weinen sehen wie damals.
Ich war allein bis auf die Techniker, und so schloss ich die Garderobentür, suchte Wenn es weiterregnet auf meinem Handy und ließ es abspielen, so laut es ging. Und sang dazu, so laut ich konnte. Es war befreiend, dieses Lied zu singen, mit Wut statt Trauer. Es half mir, dagegen anzukämpfen. Gegen die Erinnerungen.
Als es vorbei war, ließ ich mir erschöpft auf meinen Stuhl fallen und legte die Stirn auf die Tischplatte. Ich war so müde! Und immer noch viereinhalb Stunden bis zur Premiere. Es klopfte an der Türe.
„Ja?“ Ich hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss.
„Wer ist da?“
„Ich.“ Es war Daniel. Ich beschloss, dass ich meinen Kopf da lassen konnte, wo er war. Damit ich ihn nicht ansehen musste.
„Wir müssen reden.“
Es war wie in einem schlechten Film. Aber wir mussten tatsächlich reden.
„Geht es dir gut?“
„Bin nur müde. Und aufgeregt.“ Bis jetzt redeten wir ganz unverfänglich...
„Warum gehst du mir aus dem Weg?“ Jetzt wurde es kritisch. Ich schwieg. „Ich dachte, wir beide könnten mehr sein als Freunde“, sagte er. Es klang fast ein bisschen bittend. „Aber seit diesem Moment… bist du so anders.“ Er schwieg kurz. „Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Nein“, antwortete ich dem Fußboden. „Es ist nur so, dass ich… Weißt du, ich habe einfach Angst, dass wir, ich weiß auch nicht, uns gar nicht in echt lieben. Verstehst du?“ Ich richtete mich auf und rieb mir über die Stirn. Bestimmt hatte die Tischkante einen Abdruck hinterlassen. Das war ein wichtiger Augenblick, das konnte ich spüren. Und ich hatte eine Kante in der Stirn! Daniel sah mich an. „Und außerdem“, redete ich weiter, und jetzt kamen die Worte einem Sturzbach gleich über meine Lippen, „habe ich Angst, dass du mich enttäuschst oder verletzt. Meine Mutter hat meinen Vater auch geliebt, weißt du. Aber er hat sie nur enttäuscht, und er hat sie nur verletzt. Es hat ewig gedauert, bis wir weggelaufen sind." Ich sah uns ganz genau, wie wir davonrannten. "Es war Nacht, und es hat geregnet.“ Und ich hatte meinen Kuschelbären zurücklassen müssen, meinen geliebten Bären… Daniel nahm mich in den Arm. Aber ich konnte nicht weinen, weil das darüber-Reden wie ein kleiner Befreiungsschlag war. Auch, wenn noch längst nicht alles gesagt war. Ich spürte eine Weile seiner Hand nach, die immer wieder sacht meinen Rücken auf und ab strich, und dachte, dass ich es mir selber immer zu schwer machte. Wie einfach wäre es, wenn ich einfach den Kopf heben und ihn anlächeln würde...
„Also, was das mit dem mehr-als-Freunde-Sein angeht“, sagte ich beiläufig, „ich könnte mir vorstellen, dass das klappen könnte.“
„Ich werde auch ganz bestimmt nett sein“, erwiderte er und sah mich liebevoll an.
Und dann konnten wir uns endlich küssen.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 25.04.2014, 13:58:50

tooolles Ende!
Anouk hat sichtlich schwer an ihrer Vergangenheit zu tragen. Ich hoffe sehr, dass Daniel ihr hilft, darüber hinweg zu kommen.
Aber du willst doch jetzt nicht ernsthaft sagen, dass du uns erst so verwöhnst und wir jetzt bis Sonntag auf den nächsten Teil warten sollen?? ;) Ich freu mich schon drauf!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 25.04.2014, 14:04:00

Gaefa hat geschrieben:Aber du willst doch jetzt nicht ernsthaft sagen, dass du uns erst so verwöhnst und wir jetzt bis Sonntag auf den nächsten Teil warten sollen?? ;) Ich freu mich schon drauf!

Doch :D und ab nächster Woche ist wieder Schule + Prüfungsvorbereitung, das heißt, ihr werdet manchmal etwas länger auf heißen Kohlen sitzen müssen...
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon little miss sunshine » 25.04.2014, 20:30:56

Durchaus verständlich!
Aber es ist dennoch schade,denn du schreibst so schön,dass man immer weiter lesen möchte ;)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Eponine Thénardier » 25.04.2014, 20:36:07

Zwei sehr schöne Teile :)
Schön, wie du beschrieben hast, wie Anouk ihre Angst überwinden kann - und dass sie sich kriegen, ist natürlich auch schön!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 27.04.2014, 12:35:31

@ little miss sunshine & Eponine: danke auch für eure lieben Kritiken :)
Soo, jetzt geht's weiter, und zwar nicht minder spannend :D

„Noch fünf Minuten, macht euch bereit.“ Julia wuselte durch die Gemeinschaftsgarderobe, die durch einen schmalen, dunklen Durchgang mit dem Bühnenaufgang verbunden war. Das Murmeln, Lachen und Rufen der Gäste klang dumpf zu uns. Bisher standen alle mehr oder weniger stumm beieinander, aber jetzt begann ein nervöses Geraschel und Gerenne, als sich alle in der Reihenfolge ihrer Auftritte aufstellten. Dann wurde es schlagartig still. Ich warf einen letzten Blick über die Schulter. Daniel winkte mir zu, und es war das erste Mal, dass ich ihn nicht gelassen, sondern angespannt und konzentriert sah. Ich blickte vor mir auf den Boden, schloss die Augen. Auch im Zuschauerraum wurde es still. Ich wusste nun, dass das Licht ausgegangen war. Jetzt würde Oliver Pohl das Musical ansagen – ja, da tat er es. Was sagte er? In meinen Ohren rauschte es, ich konnte nichts verstehen. Applaus. Ein lauter Musikschlag, die Hexenmusik, wie ich sie nannte, begann. Mit leisem Rascheln setzten sich die Darsteller in Bewegung, ohne ein Wort zu sprechen. Wie gut… Sie starb! Die Hexe des Westens starb! – Ich war die Hexe des Westens. Dies ist ein Tag mit wahrer Freude… - Ja, das war er. Ich lauschte Maras Stimme, die so angenehm hoch war. Ganz gelassen und sicher klang sie, obwohl sie eben vor Aufregung fast eingegangen wäre.
Und irgendwann war es soweit. Mein Auftritt stand kurz bevor. Ich stand in dem dunklen Durchgang und schloss abermals die Augen, versuchte, alles zu begreifen.
Ich spielte die Hauptrolle in einem berühmten Musical. Ich hatte meine Stimme immer als etwas zu hoch dafür empfunden, aber ich war genommen. Es bedeutete, dass ich gut war. Dort draußen saßen meine Mutter, meine Freunde, ein paar Verwandte.
Und viele andere Menschen, die vielleicht nur eine einfache Schülerproduktion erwarteten. Ich würde ihnen zeigen, dass es mehr war als das. Und so griff ich nach meinem Koffer und betrat die Bühne.
Es war ein unglaublicher Spaß, Elphaba zu sein. Es machte Spaß, mit Mara zu spielen, die hochnäsiger und dämlicher schauen konnte als Paris Hilton.
„Nein, ich bin nicht seekrank. Ja ich war schon immer grün. Nein, ich habe als Kind nicht zu viel Spinat gegessen!“ Wie schön es war, motzig zu sein.
„Ich bin die andere Tochter, Elphaba. Nicht sehr klassisch… aber eine ganz schöne Tragödie.“ Und wie herrlich, richtig ironisch zu sein!
Die Zeit auf der Bühne verging wie im Flug. Es schienen nicht einmal zehn Minuten vergangen zu sein, als ich auch schon im berühmten schwarzen Kleid steckte, einen Hexenhut trug und beschloss, endlich frei zu sein. Die Schnelligkeit irritierte mich, und sie machte mir Angst. Ich wusste, dass Frei und schwerelos für viele ein wichtiges Lied war – vielleicht sogar das Lied des ganzen Musicals. Was, wenn ich versagte? Wenn ich schief sang? Wenn der Aufzug stecken blieb?
„Hättest du dich nicht einmal beherrschen können, statt gleich wieder so in die Luft zu gehen?!“ Glindas schrille Stimme ließ mich wieder in meiner Rolle versinken – und dann war keine Zeit mehr für Zweifel. Die Szene ging voran, und nicht zum ersten Mal spürte ich eine Verbindung zwischen dem, was ich sang, und mir. Ich zauberte den Besen herbei. Ich wünschte Glinda alles Glück der Welt. Und dann flüchtete ich vor meinen Verfolgern, stellte mich auf die winzige Platte, das mich tragen sollte, und schloss den Gurt um meiner Mitte, an dem der riesige Umhang befestigt war.
„Lasst sie los!“, rief ich. „Sie hat nichts damit zu tun. Mich sucht ihr – MICH!“ Die Bodenplatte glitt nach oben, und Applaus brandete auf. Es war ein so erhebendes, mächtiges Gefühl, und das Lied half mir, mich von dem letzten Rest Angst frei zu singen.
Und dann war der erste Teil auch schon vorüber, das Licht ging an, der Vorhang fiel – tosender Applaus. Die Darsteller entspannten sich allmählich, und ich sank wieder auf den Boden und stolperte benommen zwischen die anderen. Hinter der Bühne herrschte ein heilloses Durcheinander, alle schrien sich begeistert an und fielen sich in die Arme.
„Kinder, vergesst nicht, dass wir noch einen Akt zu spielen haben!“, rief Julia. „Denkt daran, was ich euch gesagt habe: bleibt konzentriert, schaut nicht auf eure Handys, bessert eure Schminke nach. Bleibt in Spannung!“
Jemand umarmte mich von hinten. Es war Daniel. „Du warst großartig“, sagte er leise. „Besser als in allen Proben.“
Die Freude währte nur kurz. Kurz darauf war es wieder still. Alle saßen herum oder gingen ihre Texte durch, wir sangen ein wenig, um unsere Stimmen warm zu halten. Kurz vor Ende der Pause, als wir wieder in Aufstellung gingen, und Mara, die wieder nervös war, seltsame Entspannungsübungen machte, betrat eine kleine Gruppe aus Männern und Frauen die Garderobe. Einer von ihnen hatte ein Klemmbrett in der Hand, eine andere mehrere Kataloge oder Hefte.
„Was wollen die hier?“, fragte ich irritiert und sah zu, wie Julia mit ihnen sprach und auf einige Darsteller wies. Weil es mir unangenehm war, dass sie so starrten, setzte ich mich vor den Spiegel und puderte mein Gesicht grün nach. Und dann ertönte ein schriller Gong und die Besucher verschwanden wieder, ohne sich vorgestellt zu haben.
Der zweite Akt verging ebenso schnell wie der erste, aber er war wesentlich emotionaler für mich. Endlich fühlte sich Solang ich dich hab’ perfekt an. Und bei Wie ich bin passierte es tatsächlich, dass mir vor Stolz und Freude die Tränen kamen.
Die Vorstellung war schneller vorüber, als ich gedacht hatte. Immer noch kam mir alles so unwirklich und fantastisch vor, aber das Bewusstsein, dass ich Elphaba war, dass ich in meinem ersten, wenn auch kleinen, Musical mitgespielt hatte, erfüllte mich mit warmem, grünem Stolz.
Mara und ich sollten nach Fiyero auf die Bühne gehen, um uns zu verbeugen. Sie hielt ihren langen Stab und sah wirklich wunderschön aus, als wir zwischen den anderen Darstellern hindurchgingen und uns vorne verbeugten. Es gab Standing Ovations, und ich suchte vergeblich nach meiner Mutter oder einem anderen bekannten Gesicht. Dafür konnte ich die Leute mit den Klemmbrettern sehen, von denen ich inzwischen glaubte, sie seien von der Presse. Oliver Pohl und Julia kamen auf die Bühne und übergaben uns Blumensträuße. Dann nahm Oliver ein Mikrofon und begann mit einer langen Rede, zu deren Beginn die Liste aller Beteiligten stand. Er sagte, wie toll es sei, so viele Zuschauer zu haben, wie viel Elan in so jungen Leuten stecke und so weiter. Ich schaltete irgendwann ab und genoss einfach das Gefühl, Teil dieses Ensembles zu sein, hing in Gedanken dem Stück nach und lächelte.
„… Leitung der Music&Art Academy, Schule für Musik und Kunst!“ Applaus kam auf. Olivers Worte rissen mich aus meiner glücklichen Seligkeit. Einer der Männer, der vorhin ein Klemmbrett hatte, kam zu uns auf die Bühne. Er war der Leiter der Music&Art Academy? Warum hatte ich nicht zugehört? Was wollte er?
Erst mal wollte er reden. Er lobte uns tausendmal, bis er endlich auf den Punkt kam:
„Aber wir sind natürlich nicht nur zu unserem Vergnügen hergekommen. Wir kamen her auf der Suche nach jungen Talenten, die wir fördern möchten. Viele von euch haben ein großes Potential; leider ist es uns aufgrund der bereits aufgenommenen Schüler nicht möglich, mehr als zwei Stipendien zu vergeben.“ Ich warf einen Blick nach links. Daniel stand neben mir und hing dem Schulleiter an den Lippen. „Wir laden euch trotzdem alle herzlich ein, zu unserer allerletzten Aufnahmeprüfung Ende Oktober zu kommen. Wer Interesse hat, kann sich nachher im Foyer ein Prospekt abholen und sich bei Bedarf auch beraten lassen.“ Er winkte eine Kollegin auf die Bühne, die einen gefalteten Zettel in der Hand hielt. Oliver zeigte ihn dem Publikum, als wären wir in einer Fernsehlotterie. Meine Beine begannen zu kribbeln. Meine Hände wurden feucht. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Daniel griff nach meiner Hand.
„Wir haben unsere Entscheidung direkt nach dem Schlusslied getroffen“, sagte er. „Es war keine leichte Aufgabe, uns zu einigen, aber, wie bereits gesagt, ist uns nichts anderes mehr möglich.“ Er machte Anstalten, den Zettel aufzufalten, dann hielt er inne.
„Vielleicht möchte ein Darsteller das Urteil verkünden?“ Er ließ den Blick über die Menge gleiten und blieb an mir hängen. Ich sank innerlich zusammen. Wenn er mich auswählte, würde ich wohl kaum auf dem Zettel stehen. Ich war erstaunt darüber, wie enttäuscht ich war. Aber vielleicht, dachte ich, während ich das Papierstück entgegennahm, wird Daniel genommen. Dann kann ich ihn besuchen… Ich räusperte mich. Meine Hände zitterten immer noch ein wenig. Ich war trotzdem gespannt, wer die Ausbildung antreten durfte. Ich hoffte, dass es Mara sein würde, Mara und Daniel. Langsam, um die Spannung zu erhöhen, faltete ich das Blatt auseinander und überflog die beiden Namen.

Anm.: Die Music&Art Academy ist natürlich erfunden, und ich weiß auch nicht, wie realistisch es ist, dass bei so einem Event Stipendien vergeben werden... Aber man darf ja träumen ;)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 27.04.2014, 13:33:41

Oh juhu, die Premiere! Ein wirklich toller Teil, sehr gelungen.
Das mit den Stipendien find ich ne gute Idee. Allerdings hätte ich eher gedacht, dass so etwas nach dem öffentlichen Teil erkündet wird, aber ich habe genauso wenig Ahnung davon, wie es wirklich abläuft ;)
Ich bin sehr gespannt, wer die Stipendien bekommen wird, lass uns nicht zu lange warten!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Eponine Thénardier » 27.04.2014, 17:56:33

Also, auf's spannend Aufhören verstehst du dich wirklich! ;)
Ein sehr schöner Teil - eine sehr schöne Premiere! Dass die Zeit auf der Bühne schneller vergeht als irgendwo anders, kenne ich und du beschreibst dieses Gefühl ganz wunderbar. :)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon little miss sunshine » 27.04.2014, 18:29:33

Es ist wirklich schön und spannend erzählt :) .
Ich bin schon so gespannt,ob Anouks Name dann dabei ist...!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 28.04.2014, 15:14:35

Schön, dass es euch weiterhin gefällt :)
Hier der nächste Teil - übrigens schon der elfte!

Es war ein kleiner Schock für mich. Meine Augen stolperten über die Buchstaben. Ich brachte keinen Ton heraus, konnte nur krampfhaft schlucken. Mir wurde schwindlig. Meine Hände begannen wieder zu zittern, und gleichzeitig stahl sich ein Grinsen auf mein Gesicht, als ich unsicher aufsah. Daniel starrte mich erwartungsvoll an; alle starrten erwartungsvoll.
„Da… da steht mein Name“, brachte ich heraus. Anouk Steger. Anouk Steger! Gab es einen schöneren Namen? War er nicht wie geschaffen, um auf Werbeplakaten und in Programmheften zu stehen? Anouk Steger…
Ich bekam kaum mit, wie das Publikum klatschte. Der Schulleiter sagte irgendetwas. Mara und Daniel umarmten mich beide stürmisch, sodass ich kaum den zweiten Namen verlesen konnte. Es war nicht Daniel, und auch nicht Mara. Es war der Junge, der den Zauberer gespielt hatte, und der knapp vor der Altersgrenze zur Zulassung stand. Michael Jung war sein Name. Aber ich konnte das alles noch gar nicht begreifen. Ich konnte nicht glauben, dass das hier echt sein soll, dass irgendeine höhere Macht doch noch auf meine kleinen Wünsche aufmerksam geworden war. Wer war ich, das ich so ein Glück verdient hatte? All das ging mir durch den Kopf, während mir die Tränen über die Wangen rannen und ich immer wieder umarmt und angekreischt wurde, ohne irgendetwas wirklich mitzubekommen.

Ich konnte mir nicht vorstellen, jetzt noch auf die Premierenfeier zu gehen, aber ich musste. Da draußen warteten meine wahrscheinlich total perplexen Freunde – und meine Mutter. Der Zeitpunkt war gekommen, da ich ihr sagen musste, dass das hier mein Leben war.
Das Abschminken und Umziehen dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Meine Finger zitterten, und immer wieder wurde ich unterbrochen – der Strom der Beglückwünschungen nahm kein Ende. Aber schließlich betraten wir das Foyer – Mara in einem rosafarbenen, ich in einem grünen Cocktailkleid, die wir auf einer nervenaufreibenden Shoppingtour gefunden hatten. Wir wurden abermals mit tosendem Applaus empfangen. Wie viele Hände ich an diesem Abend schütteln musste – ich weiß nicht mehr. Nur an ein Gespräch mit Bertelin erinnere ich mich noch genau.
Zu Beginn der Geschichte sagte ich, er sei es, der meinen Weg für mich ebnen, mein Leben in Ordnung bringen und meine kühnsten Wünsche erfüllen würde. Einen Großteil davon tat er an diesem Abend, oder besser, schon vor ein paar Wochen.
„Herzlichen Glückwunsch, Anouk“, sagte er sichtlich stolz.
„Danke“, sagte ich verlegen.
„Ich habe sofort gewusst, dass es eine gute Idee ist, meine Freunde von der Academy einzuladen.“
Mir stockte kurz der Atem. „Sie waren das?“, fragte ich ungläubig.
„Allerdings!“, antwortete er zufrieden. „Ich dachte mir, ich sage ihnen einfach, dass sie hier vielversprechende Talente finden werden.“
„Sie haben sie doch nicht bestochen, oder?“, fragte ich besorgt. Sein entrüsteter Blick war Antwort genug. Aber mehr Zeit zum Reden hatten wir nicht mehr. Jemand hatte einen riesigen Buffetttisch aufgebaut, und von Salat über Suppen bis zu warmen Aufläufen gab es alles; mit großem Hallo und vielen Reden wurde das Buffett eröffnet. Daniel war den ganzen Abend bei mir und hörte sich alle Begrüßungen und lieben Worte mit mir an. Ich wusste, dass er enttäuscht war, nicht genommen zu sein, und trotzdem wich er mir nicht von der Seite, strich mir immer wieder über die Haare oder gab mir einen flüchtigen Kuss. Ich hatte kaum Möglichkeiten, mit jemandem in Ruhe zu sprechen. Und das, obwohl meine Mutter aussah, als würde sie jede Sekunde tot umfallen, hin und hergerissen zwischen Begeisterung und Zweifel.
Erst auf dem Rückweg, als es schon weit nach Mitternacht kam, konnten wir in Ruhe reden. Mama hakte sich bei mir ein.
„Lass und zu Fuß gehen“, schlug sie vor, und weil ich furchtbares Kopfweh hatte von der verbrauchten Luft und dem einen Glas Sekt, das eindeutig eins zu viel gewesen war hatte ich nichts dagegen. Eine Weile gingen wir schweigend durch die Dunkelheit. Es war kühl, aber noch nicht zu kalt. Am Himmel zogen flüchtig ein paar graue Wolkenfetzen vorbei. Der Mond sah aus wie ein angebissenes Brötchen.
„Also, wirst du auf diese Schule gehen?“ Ich konnte nicht einschätzen, was sie dachte – sie war ganz ruhig.
„Ich denke schon“, antwortete ich langsam. Ich bereute, dass ich etwas getrunken hatte. Falls sie mir das Ganze ausreden wollte, würde der Alkohol vielleicht meine Argumentationskette unterbrechen. „Das ist eine riesen Chance. So ein Angebot bekommt man nicht zwei Mal.“
„Ich weiß.“ Sie seufzte. „Was ist mit deiner Ausbildung? Willst du die abbrechen?“
„Das muss ich wohl.“ Obwohl keine der beiden Schulen das gerne sehen würde – was blieb mir anderes übrig?
„Bist du dir ganz sicher, Anouk? Ich weiß, jetzt bist du noch glücklich, weil du Erfolg hast. Aber ich kann mir vorstellen, dass das hier nichts war im Gegensatz zu einer professionellen Ausbildung.“
„Ich weiß, wie die Ausbildung ist“, unterbrach ich sie. „Es ist nicht so, dass ich nicht schon öfter darüber nachgedacht hätte.“
Das schien sie tatsächlich zu überraschen. „Du… hast darüber nachgedacht?“, echote sie. Ich starrte auf den Asphalt, der unter meinen Füßen dahinzufliegen schien. „Ja“, gab ich zu. „Die Ausbildung zur Krankenpflegerin ist… ich weiß auch nicht. Ich war da nie so richtig glücklich“, druckste ich herum. „Ich wollte auch schon länger Gesangsstunden haben, aber ich hab mich nie getraut…“
„Wie lange?“, wollte sie wissen.
Ich zögerte. „Fast genau zwei Jahre.“
„Und wie lange denkst du über eine Ausbildung nach?“ Sie war wieder sehr ruhig.
„Seit… vielleicht eineinhalb Jahren. Erst habe ich einfach nur gerne gesungen, dann wollte ich… einfach mehr.“
Sie schwieg eine ganze Weile. Meine Augen wurden schwer.
„Ich weiß, ich kann dir nicht verbieten, die Ausbildung zu machen, weil du 18 bist“, sagte sie schließlich. „Und ich weiß, was ich heute gesehen habe. Und das war einfach… mehr als wundervoll!“ Sie lächelte mich an, das erste Mal an diesem Abend. „Ich möchte einfach nur, dass du dir absolut sicher bist, denn in dieser Ausbildung kann ich dich kaum unterstützen, fürchte ich.“
„Du unterstützt mich schon, wenn du es gutheißt, weißt du?“, entgegnete ich.
„Ich wünschte, ich hätte gewusst, was in dir vorgeht“, murmelte sie, fast wie zu sich selbst. Ich dachte an Papa und an die zwei Jobs, die Mama inzwischen hatte, und so, wie sie guckte, dachte sie das Gleiche.
„Also, du und dieser Junge“, sagte sie plötzlich und sah mich prüfend von der Seite an. „Seid ihr zusammen?“
„Ja, ich denke schon…“, antwortete ich verlegen.
„Und wie lange weiß ich davon nichts?“, schmunzelte sie.
„Wir sind quasi heute erst zusammengekommen“, klärte ich sie auf.
„Du musst ihn mir vorstellen“, sagte sie. „Als Fiyero hat er ja schon mal einen guten Eindruck gemacht.“
„Den macht er auch in echt“, versicherte ich ihr.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 28.04.2014, 19:50:43

Ein sehr schöner Teil!
Ich freu mich sehr für Anouk, dass sie genommen wurde und das klärende Gespräch mit ihrer Mutter war auch längst überfällig - toll! Und mit Daniel klappt auch alles - wunderbar. Schade nur, dass Mara und Daniel nicht genommen wurden, aber es konnte ja nicht zu perfekt sein ;) Ich freu mich auf den 12. Teil!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 30.04.2014, 20:10:11

Nur ein Kommentar? Naja, ich will nicht meckern ;) zum Ende des Tages und weil morgen frei ist ein etwas längerer Teil.

Die nächsten Aufführungen nahm ich von da an mit ganz anderen Augen wahr. Jetzt, wo das alles nicht mehr bloß ein Hobby, sondern hoffentlich bald mein Beruf sein würde, versuchte ich regelmäßig, mehr als 100% zu geben. In den insgesamt acht Shows, die für uns angesetzt waren – immer freitags und samstagabends – klappte das mal mehr, mal weniger. Natürlich passierten einige Unfälle, bei einer Show wurde der Lift einfach nicht hochgefahren, so dass ich auf das süchtig machende Erlebnis, die Schwerelosigkeit zu besiegen, verzichten musste. Außerdem passierte es, dass ich einige Zeilen auf Englisch sang, aus dem einfachen Grund, das ich kurz zuvor beim Einsingen einige Lieder in der Originalsprache gesungen hatte. Ich stolperte ein bisschen zwischen den Sprachen herum, bis ich wieder klar denken konnte. Aber insgesamt gab es nur wenige Texthänger oder Versprecher, niemand verletzte sich.
Aber die ereignisreichsten Shows waren, neben der Premiere, die fünfte Show und natürlich die Derniere.
Denn der Tag der offenen Tür im Theater fiel genau auf einen unserer Aufführungstermine – ein Fehler, der erst zu einiger Verwirrung führte. Aber die Show konnte nicht abgesagt werden, zu viele Karten waren schon vorbestellt. Schließlich beschloss man einfach, ein besonderes Ereignis daraus zu machen, mit billigeren Tickets und kostenlosen Stehplätzen. Noch mehr Zuschauer also.
Ich kam an diesem Tag sehr aufgeregt an, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab. Ich konnte ohnehin nichts vom Zuschauerraum sehen. Aber als ich auf meine Garderobe zusteuerte, stand da eine mir unbekannte, junge Frau. Sie stellte sich als Gesangslehrerin meiner neuen Schule vor und sagte, sie wolle einen Eindruck der Stipendiaten (Anm. Gibt es dieses Wort?!) gewinnen. O Graus! Was, wenn ich ihr nicht gefiel – würden sie mich wieder von der Schule nehmen? Ich verlor völlig die Fassung. Lampenfieber macht süchtig – wenn es als positiv empfunden wird. Heute hatte ich einfach nur große Angst. Daniel versuchte, meine Zweifel zu verscheuchen.
„Genommen ist genommen. Es wird ihr schon klar sein, dass du nicht alles kannst. Wahrscheinlich ist sie des Berufes wegen mehr auf Fehler gepolt als auf alles richtige.“ Nicht sehr beruhigend. Aber es gab keinen Ausweg, die Show musste natürlich stattfinden.
Und in dieser Show geschah etwas merkwürdiges.
Ich hatte immer gedacht, ich hätte die Rolle der Elphaba ganz und gar angenommen. Im Nachhinein wurde mir klar, dass kein Schauspieler der Welt eine Rolle einnehmen kann. Die Rolle muss den Schauspieler annehmen. In den vorherigen Shows trat ich auf die Bühne, ein grün angemaltes Mädchen, das sich Elphaba nannte. Während die echte Hexe als ständiger Schatten neben mir stand, sehr nah zwar, aber eben neben mir.
Doch an diesem Tag war es anders. Ich glaube, es lag an meiner Angst, zu versagen, dass es so passierte. Denn ich wusste: wenn ich nicht wollte, dass meine schreckliche Aufregung alles zunichte machte, musste ich dagegen anspielen und –singen. Und ich tat es.
An diesem Abend spielte ich nicht nur Elphaba – ich war Elphaba. Zunächst zögerlich, dann mit voller Kraft verschmolz ihr Charakter mit meinem. Ich dachte, was ich sang. Meine Haut war wirklich grün, mein Innerstes, mein Herz und mein Gedanken – grün! Da war kein Lift, der mich nach oben hob, weil ich wirklich flog. Ich war ganz benommen, als es in die Pause ging.
„Anouk, sehr gut gesungen“, lobte Julia mich kurz. Alle waren in euphorischer Stimmung, denn das Publikum war eines der besten, die wir bisher hatten. Aber Julia holte uns schnell wieder von unserem hohen Ross herunter.
„Ja, das Publikum war gut“, sagte sie, „aber ihr dürft euch nicht darauf ausruhen! Nutzt den vorherrschenden Enthusiasmus. Hier sind nicht nur Menschen, die samstags Langeweile haben, in diesem Publikum sitzen auch viele aus diesem Business. Strengst euch also an. Habt Spannung, bis ihr jeden Muskel spürt!“
Ich musste keine Spannung haben. Es schien, als hätte ich einen neuen Körper, der wie von selbst die richtigen Bewegungen machte. Es war nicht Daniel, mit dem ich ein Duett sang, es war Fiyero. Und das Mädchen, das tobte und trauerte und schwor, nie mehr Gutes zu tun, das war nicht Anouk.
„Wow, was war das denn?“, fragte Daniel, als ich völlig außer Puste im Off verschwand. „Bist du’s, Anouk?“
„Halt die Klappe.“ Ich boxte ihn freundschaftlich in die Seite.
Von der Gesangslehrerin bekam ich ebenfalls ein positives Feedback. Und hätte vor Stolz glatt platzen können.
Aber jede gute Zeit hat einmal ein Ende. Vier Wochen und sieben Shows vergingen wie im Flug. Es graute mich vor der Derniere. Ich hatte das alles so lieb gewonnen, das Proben, das Singen, die grüne Farbe, dass es mir unmöglich vorkam, es jetzt zu beenden, einfach so. Natürlich waren wir dazu angehalten, ein paar Gags einzubauen. Immer wieder traf ich auf Darsteller, die tuschelten und kicherten. Ich wusste, ich musste auch irgendetwas machen. Ich schaute mir einige Videos von Dernieren an, aber es kam mir albern und unkreativ vor, etwas nachzumachen. Also ging ich die Texte durch und suchte nach passenden Stellen, und schließlich hatte ich alles gefunden und trat ein in den Bund der kichernden Geheimniskrämer.

Mir ging es schon am Dernierenmorgen schlecht. Ich wusste, dass ich ganz bestimmt weinen würde, denn ich war absolut kein Mensch für Abschiede. Als ich im Theater ankam, etwas früher als sonst, rollten bei Mara bereits die Tränen. Jede Bewegung, jedes Ritual, jede Kleinigkeit bekam plötzlich eine besondere Bedeutung; alles nahm ich bewusster wahr und dachte: das tust du zum letzten Mal, das auch, und das… Das Schminken, das Anziehen der Kostüme, das Einsingen. Die Stimmung war aufgeregt und traurig zugleich, irgendwie drückend.
Und dann war es so weit: ein letztes Mal reichten wir uns die Hände, wünschten uns viel Glück. Es war ein sehr emotionaler Moment für mich, als die Musik begann.
Es war eine wundervolle Show. Jeder einzelne Darsteller gab an diesem Abend alles und mehr. Die ersten Gags warteten nicht auf sich; in der Im guten alten Glizz-Szene fügte ich einen Satz ein, indem ich sagte: „Nein, ich bin nicht seekrank. Ja ich war schon immer grün. Nein, ich habe als Kind nicht zu viel Spinat gegessen! Aber heute ist die letzte Show, das geht mir an die Nieren!“
In Heißgeliebt sagte Mara nach unserer Wusch-Wusch-Übung „Nach acht Shows hast du’s endlich perfekt hinbekommen.“ Sie kramte unter Gelächter etwas unter ihrem Kissen hervor und las mit feierlicher Stimme vor: „Zertifizierung: Wusch-Wusch-Queen. Hiermit wird Elphaba zur Wusch-Wusch-Queen ernannt und ist somit qualifiziert, jederzeit und überall und besonders bei wichtigen, mit großen Menschenmengen verbundenen Angelegenheiten, ein Wusch-Wusch auszuüben. Besonderer Dank geht auch an ihre Trainerin Glinda – ja das bin übrigens ich – die in wochenlangen, ausdauernden Übungseinheiten zum Erfolg Elphabas beigetragen hat.“ Sie reichte mir das Blatt mit einem verlegenen Lächeln. Ich fand das wirklich süß von ihr und konnte es kaum erwarten, sie zu überraschen.
„Und jetzt verwandeln wir deinen schlichten Kittel in ein bezauberndes Ballkleid!“ Mara wedelte mit dem Zauberstab und schrie herrlich verzweifelt „Ballkleid!“ Sie starrte auf den Zauberstab. „Ist das Ding überhaupt an?“ Wütend schlug sie damit auf ihre Handfläche.
„Galinda – warte!“, rief ich. Mara starrte mich an, als ich mit der Hand über mein Kostüm fühlte. „Du, ich glaube…“, sagte ich und zog mir mit einer schnellen, vorher bereits stundenlang geübten Bewegung den Kittel über den Kopf. Zugegeben, das pinke Kleid, das ich darunter trug, hatte keinen schöneren Schnitt als der Kittel, schließlich musste es darunter passen. Aber es war trotzdem sehr komisch, Maras Gesicht zu sehen und das Publikum lachen zu hören. „Nach acht Shows hast du’s endlich perfekt hinbekommen“, machte ich sie nach.
„Wunderbar, dann brauch ich den ja nicht mehr.“ Sie stopfte den Stab zurück unter das Kissen.
Daniel schenkte und beiden statt nur mir in der Bahnhofsszene ein Blumensträußchen, was er eindeutig abgekupfert hatte. Und bei Defying Gravity jubelte das Publikum, als der Aufzug mich trug, und das war so schön, dass ich fast weinen musste.

Die Gags ließen im zweiten Teil deutlich nach. Statt „zum ersten Mal“ sagte ich bei Solang ich dich hab’: „Es ist nur… zum letzten Mal fühle ich mich irgendwie… Wicked!“
Bei Wie ich bin, was ja sowieso schon ein sehr emotionaler Song war, geschah schließlich, was alle fürchteten. Allein das Wissen, was wir da singen würden reichte, um mir die Tränen in die Augen zu treiben, und ich weiß rückblickend gar nicht mehr, wie wir es geschafft haben, den Song durchzuhalten. Mara flossen die Tränen nur so übers Gesicht, und auch ich konnte mich kaum beherrschen. Es war wirklich ein schrecklicher Moment, traurig und glücklich zugleich.
Unsere letzte Show wurde mit tosendem Applaus belohnt. Aber als ich da auf der Bühne stand und im Scheinwerferlicht schwitzte, wollte ich einfach nur die Zeit zurückdrehen und alles noch einmal erleben, am liebsten in Endlosschleife.
Anschließend, hinter der Bühne, als alle rosa Rosen und das Grünzeug aufgesammelt waren, begann das Packen und Aufräumen. Viele hatten ihre Plätze schon zuvor so weit wie möglich aufgeräumt, und als das Publikum verschwand, begann bereits der Bühnenbildabbau. Damals kam es mir schrecklich unsensibel vor, alles sofort niederzureißen. Heute weiß ich, dass viele Theater von der einen Produktion in die nächste rutschen.
Wir verbrachten den Abend gemeinsam im leeren Theatersaal. Auf der Bühne wurden Kissen und Decken verteilt, Sektflaschen geöffnet und auf die gelungenen Vorstellungen angestoßen. Es war ein sehr lockerer, gemütlicher Abend; wir schwelgten in Erinnerungen und schauten uns Filmaufnahmen der Produktion an – eine professionelle vom Theater und viele kleine Ausschnitte, gefilmt von stolzen Eltern und Verwandten.

Nach der Derniere brauchte ich einige Wochen, bis ich wieder in den normalen Alltag zurückfand. Die Zeit war nicht zum Stehen gekommen, während ich in der Theaterwelt versunken war. Es gab einiges an Schulstoff nachzuholen – die Lehrer erwarteten nach wie vor eine gute Leistung, wenn ich auch die Schule wechseln würde.
Einige Male ging ich zum Theater und starrte auf die Fassade, erinnerte mich an die Zeit, in der grüne und rote Rosen die Tür verziert hatten. Abschiede fielen mir immer schwer, und dieser ganz besonders.
Bertelin war der einzige, der mich mit seinen Gesangsstunden aufheitern konnte, er und Daniel. Manchmal hatten wir gemeinsame Stunden, manchmal traten wir gemeinsam im Weinberg auf. Einmal hatten wir sogar eine Statistenrolle in einem kleinen Theaterstück.
Aber am liebsten saßen wir zusammen irgendwo, hielten uns an den Händen und malten uns unsere von Erfolg gekrönte Zukunft aus.
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Nur mein Gift macht dich gesund
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 30.04.2014, 23:33:07

Oh ein toller Teil! Sehr schön geschrieben. Du bringst die Emotionen toll rüber und man fühlt sehr gut mit Anouk mit.
Ich hatte zwiscchendurch einen Ohrwurm von Frei nd schwerelos - so sehr hat mich deine Geschichte gefesselt!
Ich bin gespannt, wann die neue Schule für Anouk losgeht und wie es ihr dort ergeht. Sicherlich ist es nicht einfach für sie zu erkennen, dass andere auch so gut sind und man sich hart durchkämpfen muss. Ich wünsche ihr viel Erfolg und harre dem, was da kommt ;)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Eponine Thénardier » 01.05.2014, 12:57:17

Ein sehr schöner Teil - und eine sehr schöne Derniere, wenn auch ein bisschen traurig, aber das sind Dernieren ja immer :)
Ich hoffe, Anouks Selbstzweifel kehren an der Schule unter dem Konkurrenzdruck nicht zurück.
"IF LIFE WERE MORE LIKE THEATRE, LIFE WOULDN'T SUCK SO MUCH!" (Opening der Tony Awards 2012)

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 01.05.2014, 17:06:46

Das sind sie! Ich war nach meiner letzten Aufführung (und es waren nur drei!) total fertig...
Hier gehts weiter.

Zeitsprung: 11 Monate später
Ich saß im Zug nach Hannover und hatte gerade meine Abschiedstränen getrocknet. Der Zug fuhr inzwischen seit zwanzig Minuten, und bereits jetzt hatte ich zwei sms von Daniel bekommen. Laut der ersten vermisste er mich jetzt schon. Laut der zweiten hatte ich meine Zahnbürste vergessen. Ich hatte eine Weile lachen und weinen müssen, dann hatte ich mich darauf konzentriert, wohin meine Reise ging. Und es ist ja nicht so, dass du ans Ende der Welt reist, dachte ich. Hannover war mit dem Zug gerade mal zweieinhalb Stunden von Zuhause entfernt. Theoretisch könnte ich meine Familie an jedem Wochenende besuchen. Ich wusste, das würde nicht möglich sein, aber das Wissen über die Möglichkeit war tröstlich. Ich steckte mir die Stöpsel meines Walkmans in die Ohren und ließ die letzten Monate Revue passieren.
Nach dem Trubel um Weihnachten und Neujahr hatte ich bereits in der zweiten Weihnachtsferienwoche einen Schauspiel-Crashkurs belegt. Außerdem absolvierte ich die ganzen Osterferien über einen Jazzdance-Kurs, machte jeden Abend Yoga, nahm kurzeitig an einem vorbereitenden Ballettkurs teil (den ich ganz schnell wieder verließ, auch wenn Daniel und Bertelin mich lynchten). Die Schulzeit war träge dahin gekrochen, die Ferien gingen mal wieder viel zu schnell herum. Schon ein Jahr war es her, dass ich Elphaba gespielt hatte. Ich konnte es kaum glauben. In den letzten Wochen hatten wir alle wichtigen, letzten Vorbereitungen getroffen: ich würde in einer mit mir vierköpfigen WG nahe der Academy wohnen. Wenn ich meine Familie in den Ferien besuchen wollte, zahlte die Schule das Ticket zurück nach Hannover. Außerdem übernahm sie einen Teil der Miete.
Ich hatte wirklich unglaubliches Glück.
Mama und ich hatten viel gespart, um mir die nötige Ausstattung zu besorgen: neben ein paar Garnituren Sportsachen benötigte ich auch noch bestimmte Sachen für Ballett, Jazz und Stepptanz. Außerdem wollte ich nicht in meinen abgetragenen Sachen die neue Ausbildung anfangen, und zum Geburtstag war meine Mutter mit mir shoppen gegangen. Als ich daran dachte, kamen mir schon wieder die Tränen. Ich wusste, ich würde eine Weile brauchen, bis ich sie nicht mehr so furchtbar vermisste. Oder Bertelin. Der war mir im letzten Jahr sehr ans Herz gewachsen, denn er hatte nach wie vor keinen Cent sehen wollen.
Ich sah aus dem Fenster. Der Zug raste an Feldern und Wiesen vorbei. Mein Herz klopfte schneller, als ich mir vorstellte, wie meine Mitbewohner wohl waren.

Mit feuchten Fingern umklammerte ich den Zettel mit der Adresse. Hier musste ich richtig sein. Ein altes, aber hübsches Haus, das direkt neben einer Kirche stand. Auf dem unteren Klingelschild stand der Name Fuchs, aber darüber drängten sich vier Namen auf dem kleinen, weißen Papier: Roth, Neuhaus, Mann, Steger. Der letzte Name – mein Name – war mit einer furchtbaren Sauklaue dazu gekritzelt, auf einen weißen Streifen Tipp-Ex. Nervös drückte ich die Klingel. Obwohl ich mit einem der Bewohner schon telefoniert hatte, war ich aufgeregt. Was, wenn wir Streit bekamen oder ich mich mit den anderen absolut nicht verstand? Die Türe wurde aufgedrückt, und ich stieg ein altes Treppenhaus hinauf. Die WG in der zweiten Etage war nicht zu übersehen; an der Wand neben der Treppe hingen von jedem Mitbewohner ein gerahmtes Foto, außer von mir. Aber ein Rahmen war schon bereit.
An der Tür erwartete mich ein Mädchen, oder besser, eine junge Frau. Sie war älter als ich, vielleicht Mitte zwanzig, mit braunem Haar und unauffälligem Gesicht. Aber sie lächelte freundlich und umarmte mich, als seien wir schon die besten Freundinnen.
„Hallo, Anouk. Hast du den Weg gut gefunden?“
„Ja, einigermaßen.“ Ich sah mich um. Wir standen in einem schmalen Flur.
„Ich führe dich ein bisschen rum“, sagte sie, „dann kannst du dein Zimmer beziehen, in Ordnung? Ich bin Melissa Mann.“ Sie nahm mir meine Jacke ab und hängte sie an einen Kleiderhaken.
„Hier rechts geht es ins Wohnzimmer.“ Sie führte mich in einen recht großen, freundlichen Raum, der ganz in Grün- und Gelbtönen eingerichtet war: ein grünes, gewaltiges Sofa mit vielen Kissen und Decken, ein dazu passender Sessel („Um den streiten wir uns immer“, sagte sie lachend), ein dunkler Couchtisch, überladen mit Zeitschriften, Lernsachen und CDs. An der Decke hing ein gewaltiger Kronleuchter mit tausend glitzernden Steinchen, die ihre Lichtreflexion an die gelben wände warfen.
„Den solltest du gar nicht beachten“, seufzte sie. „Sebastian hat ihn auf dem Trödelmarkt gefunden. Er ist hier so was wie unser Stilberater, in allen Bereichen: Wohnen, Mode, Verhalten.“ Wir gingen weiter durch einen alten Türbogen, der direkt in die Küche führte. Es gab eine Theke, hinter der sich Backofen und Schränke befanden.
„Ich habe mal in einem kleinen Café gearbeitet“, erklärte Melissa und klopfte auf die Barhocker vor der Theke. „Als es schließen musste, haben sie mir die Theke hier zu einem Spotpreis angeboten, inklusive Barhocker.“ Sie wandte sich um und zeigte auf den Küchentisch. „Du kannst dir jederzeit etwas zu Essen machen“, sagte sie. „Aber ich rate dir, warte, bis Jens da ist. Er ist gelernter Koch und macht gerade seine zweite Ausbildung zum Konditor. Er ist fabelhaft!“
Ich hörte Melissa zu und fühlte mich langsam etwas wohler. Sie war sehr nett und ruhig, und ich fand es schön, dass sie mich herumführte und mir alles erklärte.
„Wir wechseln uns beim Spülen und saubermachen und so weiter ab, aber du darfst dich auf die Jungs nicht verlassen.“ Sie warf mir einen Blick zu, der sagte so-sind-sie-halt.
„Und hier“, sie ging durch eine offen stehende Tür, die wieder in den Flur führte (der, wie ich jetzt bemerkte, einen Bogen um das Wohnzimmer und die Küche machte), „sind unsere Zimmer. Wir haben zwei Badezimmer, aber das eine ist kleiner als ein Gästeklo, deswegen müssen wir ständig neue Badpläne ausklügeln.“ Wir gingen an den Zimmertüren vorbei. „Hier wohnt Sebastian“, erklärte sie. „Hier Jens, das ist mein Zimmer, und hier wohnst du.“ Sie öffnete die Türe und ließ mich eintreten. Offenbar hatte hier bereits vorher ein Mädchen gewohnt, zumindest was die übrig gebliebenen Möbel anging: ein weißer Schreibtisch mit gebogenen Füßen und ein Bett im Bayern-Stil. Die Vorhänge am Fenster waren rosa geblümt.
„Wir versuchen, immer zwei Mädchen, zwei Jungen zu sein“, sagte sie. „Es passiert eh selten, dass jemand auszieht. Richte dich einfach so ein, wie du willst; für dein Zimmer bist nur du verantwortlich. So, was musst du noch wissen?“ Sie dachte kurz nach. „Sebastians Tick kennst du ja schon“, sagte sie. „Außerdem arbeitet er beim Radio, er ist immer morgens auf Sendung, deswegen verschläft er den Tag. Aber er geht auch schon mal gerne feiern, aber er betrinkt sich nie. Das ist einer seiner seltsamen Gesundheits-Grundsätze.“ Sie zuckte die Achseln, aber nicht abwertend. „Jens ist Koch, das weißt du ja. Seine Freundin ist nur selten hier, weil es ihm peinlich ist, dass wir alle hier sind. Also ist er ziemlich oft außer Haus. Tja, und ich“, sie grinste schief, „ich studiere noch. Sozialpädagogik.“
„Oh, schön.“ Es war Zeit, dass ich etwas sagte. „Tja, ich gehe ab morgen auf die Music&Art Academy.“
„Das wissen wir doch“, lachte sie. „Und wir sind schon sehr neugierig, wirklich!“ Sie zwinkerte. „So, und jetzt lasse ich dich alleine, damit du erst mal richtig ankommen kannst.“ Sie verließ das Zimmer und schloss leise die Türe. Ich setzte mich aufs Bett und zog mein Handy aus der Tasche, um meiner Mutter Bescheid zu sagen, dass ich da war.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 01.05.2014, 17:26:27

Oh die Ankunft in der ersten eigenen Wohnung - ein sehr interessanter Lebensabschnitt. Ich hoffe, dass sie sich gut mit ihren Mitbewohnern verträgt. Ich kann mir das WG Leben nur allzu gut vorstellen, ich kenne in meinem Umfeld so einige mehr oder weniger chaotische (eher mehr meistens) WGs.

Achso, zu deiner Frage aus einem vorherigen Teil: Stipendiaten ist ein Wort und genau das Richtige um Leute, die ein Stupendium haben, zu bezeichnen ;)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Eponine Thénardier » 01.05.2014, 20:08:32

Ich war nach der Derniere des letzten Stücks, bei dem ich mitgemacht hatte, erst furchtbar aufgekratzt und habe dann erst langsam realisiert, dass es die letzte Aufführung war - und dann war ich auch ziemlich fertig :mrgreen:

Aber zurück zum Text: Ein ordentlicher Zeitsprung und ein riesiger Schritt für Anouk! ;) ich bin mal gespannt, wie es am ersten Tag ihrer Ausbildung läuft und wie sie sich in ihrer WG so schlägt. :) Und natürlich, wie es jetzt mit Daniel weitergehen wird. Eine Frage, geht er noch zur Schule oder macht er auch eine Ausbildung, wie Anouk? Das würde mich interessieren, wäre ja klasse, wenn er auch eine Musicalausbildung machen würde, vielleicht sogar auf der selben Schule wie Anouk...? :mrgreen: Naja, ich lasse mich mal überraschen. ;)
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