So, hier die Erlösung
Und weil ich morgen den ganzen Tag nicht da bin, auch direkt der übernächste Teil.
Einer der wichtigsten Tage in meinem Leben war der Tag, an dem ich grün wurde.
Es war genau eine Woche nach meinem 18. Geburtstag, und wir durften unsere Garderoben in dem Theater beziehen, in dem wir auftreten würden. Die Garderoben waren winzig, der Spiegel und der kleine Schminktisch sahen ein wenig fehl am Platz aus, wie Menschenmöbel in einem Puppenhaus. Trotzdem dekorierte ich jedes freie Fleckchen mit Bildern und vor allem grünen Sachen – denn die hatte ich, besonders zum Geburtstag, haufenweise bekommen: selbstgebastelte oder gekaufte Elphabafiguren, Schriftzüge in Grün, alte Wicked-Plakate, Fotos aus der Probenzeit in grünen Bilderrahmen… Alles vorstellbare und unvorstellbare. Die Kostümbildnerin, die zu Beginn der Probenzeit unsere Maße genommen hatte, kam mit einem Packen in Kleiderhüllen versteckten Kostümen durch die Türe. Ich war erstaunt, dass Elphaba so viele Kostüme hatte; ich hatte mit viel weniger gerechnet.
Wir probierten alle der Reihe nach an, ich machte ein paar Verrenkungen, bis sicher war, dass ich mich ohne Probleme bewegen konnte. Und als sie wieder verschwunden war, blieb gar keine Zeit, die Kostüme zu bewundern; die Maskenbildnerin schob ihr Wägelchen herein und sortierte die Schminke auf dem Tischchen.
Und so wurde ich grün.
Ich gefiel mir, als ich mich im Spiegel sah. Die Perücke gefiel mir, der Hut stand mir auch, in dem schwarzen, schlichten Kleid fühlte ich mich wohl. Ich verließ die Garderobe, ziemlich aufgeregt. Überall raschelte es geheimnisvoll, Tüten und Kisten wurden hereingeschleppt, Teile vom Bühnenbild, das von einem gering bezahlten Künstlerteam angefertigt wurde. Lauter seltsame Gestalten mit bauschigen Kleidern liefen mir über den Weg; und dann traf ich auf Daniel alias Fiyero und war ganz hin und weg. Er sah in dieser Uniform wirklich fabelhaft aus.
„Danke“, sagte er. Ich klappte den Mund wieder zu.
„Äh, was?“
„Du sagtest, ich sehe“, er verstellte seine Stimme, bis er sich anhörte wie ein kleines Mädchen, „fabelhaft aus.“
Oh mein Gott. Ich hatte das laut gesagt? Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg.
„Aber du auch.“ Seine Augen suchten meine, und wir starrten uns an. Ich wusste, was jetzt passieren würde. Hier im Durchgang, wo wir ein paar Sekunden ungestört waren… Ich trat einen Schritt zurück.
„Schau dir Mara an“, sagte ich so unbefangen wie möglich. „
Die sieht fabelhaft aus.“ Ich lachte. „Fabelhaft. Das hat tatsächlich die Chance, das Unwort der Produktion zu werden.“ Ich sah an mir herab. „Oh, ich habe meine… etwas in der Garderobe vergessen!“ Ich drehte mich um und flüchtete in meine Garderobe. Meine Hände zitterten, als ich mich auf den Stuhl fallen ließ. Ich verbarg das Gesicht in den Händen. Warum konnte ich Situationen wie diesen nicht gewachsen sein? Warum musste meine Unsicherheit mir immer alles kaputt machen? Meine alberne Angst vor Enttäuschungen… Wegen
ihm. Wegen
früher. Ich hob den Kopf und starrte in den Spiegel. Minutenlang, bis ich mich wieder beruhigt und diese peinliche Situation von eben irgendwo in mir drin eingeschlossen hatte.
Die folgenden Wochen vergingen wie im Flug. Wir probten jeden Tag bis in die Nacht. Der Aufzug, der mich in
Frei und schwerelos fliegen lassen sollte, war lächerlich einfach und niedrig, aber für mich war es das erhebendste Gefühl, von ihm getragen zu werden. Bei
Gutes tun kam ich nicht aus der Erde, sondern rannte auf die Bühne, aber ich war stolz auf die Verzweiflung in meiner Stimme. Und irgendwann kam auch der Zeitpunkt, an dem ich bei
Heißgeliebt nicht immer sofort losprusten musste, weil Mara völlig irre über die Bühne hüpfte und tanzte. Mara und ich verstanden uns sehr gut. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, am Tag des ersten Castings, war sie mir sehr überheblich und selbstsicher vorgekommen, wie sie da stand und eine formvollendete Opernarie sang. In Wirklichkeit war sie der aufgedrehteste, witzigste und gleichzeitig nachdenklichste Mensch, der mir je begegnet war. Ihr Charakter war dem der guten Glinda wirklich ähnlich, frisch und herzig. Ich erfuhr, dass sie bereits mit fünf Jahren ihre ersten Gesangsstunden nahm, und dass die Musik ihr Leben war. Sie hatte auch viele wertvolle Tipps für mich, und Bertelin war nicht nur einmal erstaunt über plötzlich neu gelernte Techniken. Ja, es war eine sehr glückliche Zeit für mich, in der alles zu funktionieren schien.
Bis auf eines.
„Anouk, Konzentration!“, rief Julia. „Diese Szene ist ein wichtiger Augenblick für Elphaba! Versuch, dich mehr in sie hineinzufühlen!“
„Okay, Entschuldigung.“
„Nein, nein, singt einfach weiter!“ Sie klatschte unwirsch in die Hände. „Kinder, ich weiß, dass ihr aufgeregt seid. Aber jetzt müsst ihr noch einmal alles geben. Die Premiere ist bereits ausverkauft, also strengt euch an!“
Es war nicht mehr dasselbe, mit Daniel zu singen. Jeden Tag graute mir davor,
Solang ich dich hab’ zu proben. Weil ich seit jenem Tag, an dem wir uns beinahe geküsst hätten, nicht wusste, was er von mir dachte und wie ich mit der Situation umgehen sollte. Fakt war: ich sollte nur auf der Bühne in ihn verliebt sein. Wahrscheinlich war es ganz natürlich, dass ich diese Situation auf das echte Leben übertrug und glaubte, ihn auch zu lieben. Aber wenn alles vorbei war, würde ich vielleicht merken, dass ich einfach zu sehr in meiner Rolle war, und dann würde ich ihm wehtun. Oder, schlimmer: er würde mir wehtun.
Ich versuchte, mich wieder auf die Szene zu konzentrieren, aber ich spürte, dass es nicht klappte. Und in seinem Blick konnte ich wieder einmal diese fragende Verwirrung lesen.
***
Ich rannte eine Treppe hoch. Sie nahm kein Ende, und meine Beine waren erschöpft. Und als ich an ihnen heruntersah, bemerkte ich, dass sie kurz und zerkratzt waren, und dass meine Füße in Kinderschuhen steckten. Atemlos blieb ich stehen, klammerte mich am Treppengeländer fest. Ich wusste nicht, warum ich hier war. Plötzlich hörte ich Schreie. Eine tiefe Stimme, schwer und bedrohlich. Jemand wimmerte, etwas schlug gegen eine Wand und zerbrach.
Mama!, dachte ich, und rannte weiter. Und am Ende der Treppe wartete eine verschlossene Tür. Dahinter, das wusste ich, wartete ein Monster. Aber Mama war da, zusammen mit dem Monster, und ich musste sie retten. Ich warf mich gegen die Tür, und die schlug auf, und ich starrte in einen langen Tunnel. Am Ende stand ein Mann.
„Papa!“, rief ich. „Papa, wo ist Mama? Ich habe Angst!“
Die Gestalt kam näher. „Papa!“, sagte ich. Er hielt mir seine Hand hin. Aber meine Finger glitten von ihr ab, wieder und wieder, und als ich ihn ansah, bekam ich Angst, denn sein Gesicht war kalt und höhnisch.
„Hab keine Angst, Anouk“, sagte Mama. Sie kauerte neben mir auf dem Boden. Warum war ihr Auge blau? Sie nahm mich in den Arm. „Alles gut. Keine Angst.“
Sie strich mir übers Haar, und im Hintergrund sang jemand
Wenn es weiterregnet.Ich stand vor dem Theater und atmete tief durch.
Jetzt ist es soweit, dachte ich.
Sei glücklich, Anouk. Aber da war nur Angst, dumpfe Angst. Warum musste ich ausgerechnet heute Nacht diesen Albtraum haben? Es war so typisch für
ihn, mich dann heimzusuchen, wenn ich ihn am wenigsten bei mir wollte. Warum hatte ich bei der Audition dieses verdammte Lied gesungen? Es brachte Erinnerungen zurück, die ich am liebsten für immer zerstören wollte.
Ich betrat das Theater. Es waren noch fünf Stunden bis zur Aufführung, aber ich hatte es keine Sekunde länger Zuhause aushalten können. Ich hatte Mama nicht von dem Traum erzählt. Ich wollte sie nie wieder so weinen sehen wie damals.
Ich war allein bis auf die Techniker, und so schloss ich die Garderobentür, suchte
Wenn es weiterregnet auf meinem Handy und ließ es abspielen, so laut es ging. Und sang dazu, so laut ich konnte. Es war befreiend, dieses Lied zu singen, mit Wut statt Trauer. Es half mir, dagegen anzukämpfen. Gegen die Erinnerungen.
Als es vorbei war, ließ ich mir erschöpft auf meinen Stuhl fallen und legte die Stirn auf die Tischplatte. Ich war so müde! Und immer noch viereinhalb Stunden bis zur Premiere. Es klopfte an der Türe.
„Ja?“ Ich hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss.
„Wer ist da?“
„Ich.“ Es war Daniel. Ich beschloss, dass ich meinen Kopf da lassen konnte, wo er war. Damit ich ihn nicht ansehen musste.
„Wir müssen reden.“
Es war wie in einem schlechten Film. Aber wir mussten tatsächlich reden.
„Geht es dir gut?“
„Bin nur müde. Und aufgeregt.“ Bis jetzt redeten wir ganz unverfänglich...
„Warum gehst du mir aus dem Weg?“ Jetzt wurde es kritisch. Ich schwieg. „Ich dachte, wir beide könnten mehr sein als Freunde“, sagte er. Es klang fast ein bisschen bittend. „Aber seit diesem Moment… bist du so anders.“ Er schwieg kurz. „Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Nein“, antwortete ich dem Fußboden. „Es ist nur so, dass ich… Weißt du, ich habe einfach Angst, dass wir, ich weiß auch nicht, uns gar nicht in echt lieben. Verstehst du?“ Ich richtete mich auf und rieb mir über die Stirn. Bestimmt hatte die Tischkante einen Abdruck hinterlassen. Das war ein wichtiger Augenblick, das konnte ich spüren. Und ich hatte eine Kante in der Stirn! Daniel sah mich an. „Und außerdem“, redete ich weiter, und jetzt kamen die Worte einem Sturzbach gleich über meine Lippen, „habe ich Angst, dass du mich enttäuschst oder verletzt. Meine Mutter hat meinen Vater auch geliebt, weißt du. Aber er hat sie nur enttäuscht, und er hat sie nur verletzt. Es hat ewig gedauert, bis wir weggelaufen sind." Ich sah uns ganz genau, wie wir davonrannten. "Es war Nacht, und es hat geregnet.“ Und ich hatte meinen Kuschelbären zurücklassen müssen, meinen geliebten Bären… Daniel nahm mich in den Arm. Aber ich konnte nicht weinen, weil das darüber-Reden wie ein kleiner Befreiungsschlag war. Auch, wenn noch längst nicht alles gesagt war. Ich spürte eine Weile seiner Hand nach, die immer wieder sacht meinen Rücken auf und ab strich, und dachte, dass ich es mir selber immer zu schwer machte. Wie einfach wäre es, wenn ich einfach den Kopf heben und ihn anlächeln würde...
„Also, was das mit dem mehr-als-Freunde-Sein angeht“, sagte ich beiläufig, „ich könnte mir vorstellen, dass das klappen könnte.“
„Ich werde auch ganz bestimmt nett sein“, erwiderte er und sah mich liebevoll an.
Und dann konnten wir uns endlich küssen.