@armandine Ich muss gestehen, ich vergesse Liam ziemlich oft bzw. erstelle seine persönliche Geschichte immer etwas ahnungslos...
Habe ganz vergessen, weitere Teile zu posten. Auf eure Meinung zu diesem bin ich besonders gespannt:
Viktoria hatte mir tatsächlich einen Job besorgen können. Just an dem Tag, an dem wir genau einen Monat Spielzeit mit Elisabeth verbuchen konnten, erreichte mich ihr Anruf: an einer Musikschule in Essen wurden Vorbereitungskurse für Vorsprechen und –singen an der Schauspielschule angeboten. Dienstags von 12.00 bis 14.30 Uhr und Donnerstags von 14.00 bis 16.30 Uhr würde ich jeweils zwei Schüler oder Schülerinnen betreuen und ihnen mit meinem Rat zur Seite stehen.
„Jeder Workshop ist einmalig“, erklärte Viktoria, „wer es sich leisten kann, kommt natürlich öfter.“
„Und was muss ich tun?“
„Meistens haben die Schüler schon vorbereitete Texte oder Songs. Sie tragen sie vor und dann arbeitet ihr daran. Einige sind sich nicht sicher, die kannst du beraten. Es ist alles ganz locker, und ich weiß, dass du nicht zum ersten Mal unterrichtest.“
Das stimmte. Neben den privaten Stunden für Linda hatte ich einen Workshop bei den Vampiren gegeben, und in meiner alten Schule ebenfalls.
Ich war trotzdem aufgeregt, als der erste Arbeitstag anstand. Die Räume der Musikschule waren nicht besonders schön, ein bisschen schäbig, aber ordentlich. Es roch überall nach dem ausgetretenen, grauen Filzteppich, mit dem der gesamte Boden ausgelegt war. Der Raum, in dem ich unterrichten sollte, war winzig, sehr lang und schmal. Es passte gerade mal ein Klavier hinein, kein sehr gutes. Ein Spiegel stand an der Wand – nützlich, wenn man Atemtechniken übte. Auf einem Regalbrett, das an die Wand genagelt war, stand ein CD-Player. Licht fiel durch ein großes Fenster an der Frontseite, und Sitzgelegenheiten waren der Klavierhocker und ein Holzstuhl unter dem Fenster.
Meine erste Schülerin war ein Mädchen namens Amelie, achtzehn Jahre. Sie hatte gerade die Abiturprüfungen hinter sich und stand kurz vor den großen Vorsprechen. Sie hatte sich in nahezu jeder staatlichen Schule angemeldet, die es in Deutschland gab. Ihre Haare waren blond, ihre Augen blau – den Anforderungsbereich „gutes Aussehen“, den ich tatsächlich in einigen Voraussetzungen gelesen hatte, erfüllte sie schon mal. Allerdings war sie auch prädestiniert dazu, immer das scheue Liebchen zu spielen.
Sie war sehr gut vorbereitet, war ein klassischer Sopran und hatte passende Songs ausgesucht. Wir begannen mit einigen Aufwärmübungen, und ich erkannte schnell, dass ihre Stimme gut ausgebildet war. Es würde vielleicht schwer sein, an einer Schule genommen zu werden – viele Dozenten schätzten es, „rohe Diamanten“ unterrichten zu dürfen statt eines fertigen, glatten Soprans. Nachdem wir ein wenig an den Songs gearbeitet hatten, gab ich Amelie noch einige Ratschläge, auch wenn ich dazu eigentlich gar nicht die nötigen Voraussetzungen hatte: mein Stipendium hatte mich von jedem lästigen Vorsingen befreit. Ich fing an, das zu bereuen, auch wenn ich mein Glück weiterhin schätzte.
Der zweite Schüler – es war ein Junge – war ein schräger Kerl namens Sascha, 24, leidenschaftlicher Schauspieler. Sein Monolog war schrecklich ausgearbeitet, und er verlangte mir einiges ab. Aber die Unterrichtsstunden gaben mir das Gefühl, etwas getan zu haben, und ich kam mir wichtig und clever vor, als ich nach Hause fuhr.
Die Unterrichtsstunden wirkten tatsächlich Wunder. Einige Schüler kontaktierten mich im Voraus, sodass ich schon etwas vorbereitete, mir etwa Monologe oder ganze Stücke durchlas, um besser in die Materie eintauchen zu können. Ich entdeckte auch selber wieder neue Freude daran, mir über Rollenauslegung Gedanken zu machen, und nicht selten kam es zu philosophischen Debatten, während denen ich mir häufig die Frage stellte, ob ich in diesem Alter auch so analytisch begabt gewesen war. Das Ganze hatte zur Folge, dass ich viel Ablenkung hatte und die Zeit plötzlich viel schneller verging. Ich schlief wieder besser, und durch meine Arbeit an anderen Rollen und mit anderen Personen konnte ich mich leichter von meiner eigenen Rolle trennen. Manchmal dachte ich schon beim Applaus: Hoffentlich klatschen sie nicht so lange, ich muss noch die letzten Seiten Emilia Galotti lesen…, und war in der Garderobe schon mit anderen Dingen beschäftigt.
Außerdem hatte ich Pressetermine – Öffentlichkeitsarbeit, wie es hieß. Ich gab einige Interviews für Internetseiten und Musicalzeitschriften, und an einem Sonntag war ich morgens mit Julian im Radio zu einem sehr angenehmen Interview mit einem sehr lockeren Moderator. Er bezog seine Fragen nicht nur auf unsere derzeitigen Engagements, sondern auch auf frühere Auftritte, die Schulzeit, unseren Werdegang, wissenswertes um die Themen Theater, Schauspiel, Musical. Danach ging ich mit Julian Mittag Essen, und es wurde ein angenehmer, entspannter Tag – die Ruhe vor zwei Aufführungen.
Die Matinee am Sonntag endete mit einer kleinen Überraschung: meine Agentin Viktoria hatte sich die Show angesehen und wartete nun, vor allen anderen, im Backstage-Bereich. Nach einer kurzen Plauderei, viel Lob und einigen Vorschlägen für neue Pressetermine kam sie zu dem eigentlichen Grund ihres Auftauchens.
„Hör mal, Anouk“, sagte sie, „natürlich bin ich nicht nur zum Reden hier.“
Ich lachte. „Ja, das habe ich fast geahnt! Also, was gibt es?“
„Zwei Dinge. Erstens brauchst du dringend ein paar Aktivitäten auf deiner Homepage.“ Ihre Stimme klang tadelnd. „Du hast viele Aufrufe, aber dein Auftreten im Netz ist, nun ja, nicht sehr ausgeprägt, gelinde gesagt. Sieh doch bitte zu, dass du mal zum Fotografen gehst, dann polieren wir damit deine Seite ein wenig auf. Außerdem wäre ein öffentliches Facebook-Profil auch nicht schlecht.“
„Du meinst, eine Fanseite?“ Ich hatte schon einige Male darüber nachgedacht, aber noch nicht die Muße gehabt, mich weiter mit dieser Idee zu beschäftigen.
Viktoria nickte. „Ja, das wäre auf jeden Fall im Interesse der Allgemeinheit. Sieh mal, du bist jetzt berühmt.“
„Ich weiß, ich weiß.“ Ich seufzte, dann lächelte ich. „Langsam fange ich an, mich damit abzufinden.“
„Gut. – Also, ein paar neue Fotos, ja? Ich schreibe dir eine Erinnerung. Zweitens: hast du morgen irgendwelche Termine?“
Ich stutzte. „Nein, außer vielleicht mit dem Supermarkt.“
„Gut. Dann streich das. Wir sind nämlich um Punkt 12.00 verabredet, und zwar mit Charles Reed und Edwin O’Neill.“
„Schön“, entgegnete ich trocken. „Sollte ich mich darüber freuen? Ich kenne die beiden nämlich kein bisschen.“
Viktoria lächelte und stellte ihre Tasche auf dem Tisch vor uns ab. Sie kramte kurz darin herum, dann zog sie eine schmale Mappe hervor, schlug sie aus und fischte aus einer Unmenge Visitenkarten, alle alphabetisch geordnet, eine weinrote Karte hervor.
„Hier“, sagte sie, „bitte sehr.“
Ich nahm das Kärtchen entgegen. Sie war in Englisch geschrieben.
Swann Theatre stand in geschwungenen, edlen Lettern in der oberen Mitte. Und darunter, weitaus schlichter:
Charles Reed, Artistic Director
Edwin O’Neill, Management
The new West End Theatre – Music begins, where words end.
Ich drehte die Karte um. Da stand eine Londoner Adresse. Unschlüssig sah ich auf.
„Und… worum geht es?“
„Das Swann Theatre ist ein neues Theater am West End in London“, antwortete sie, wie immer sehr ruhig und geschäftlich. „Es wurde erst vor kurzem fertig gebaut, sehr edel. Ich hatte vor einigen Monaten die Ehre, es noch während des Baus zu besichtigen, es ist wirklich ein Schmuckstück, eine Mischung aus prunkvollem Rokoko und schlichter Moderne. Wie dem auch sei“, sie bemerkte meinen leicht desinteressierten Blick und fuhr rasch fort, „eröffnet es im September dieses Jahres.“ Sie machte eine Pause, und um nicht nur stumm dazusitzen, sagte ich gedehnt: „Okay…“ In mir regte sich bereits eine Ahnung, nein, eher eine Hoffnung – oder war es doch Angst?
„Charles und Edwin sind noch auf der Suche nach den richtigen Darstellern, und sind derzwit in Deutschland, um sich die Marktentwicklung und die verschiedenen Inszenierungen im Bereich Musical anzusehen. Der Regisseur, Thomas Grey, reist ebenfalls mit. Sie sahen vor zwei Wochen Elisabeth und fragen nun nach, ob Interesse und Möglichkeiten bestehen, in ihrem Theater aufzutreten.“
Ich konnte ihr nicht ganz folgen – auftreten? „Mit Elisabeth?“, fragte ich verdutzt.
„Oh, nein, habe ich das noch nicht erwähnt? Sie haben sich
Love never dies als Eröffnungsstück ausgesucht. Allerdings die Australische Fassung, dem Himmel sei Dank Ich weiß nicht, ob das clever ist, aber sie haben ein gutes Konzept entworfen zur Geschäftsführung.“ Sie räumte geschäftig ihre Mappe ein und holte einen schmalen Hochglanzkatalog aus der Tasche.
„Hier, ein kleiner Einblick in Konzept, Architektur und Saal des Theaters“, erklärte sie. Aber ich wollte das Magazin gar nicht sehen. Irgendwie leuchtete mir das alles immer noch nicht ganz ein.
„Also, sie wollen
Love never dies geben. Was habe ich damit zu tun? Warum sollen wir morgen mit ihnen essen gehen?“
Viktoria sah mich an und bemerkte, dass sie ein wenig zu geschäftlich gewesen war. „Ich kann dir natürlich noch nichts versprechen“, sagte sie langsam, „aber sie sprachen mich sehr enthusiastisch an und sagten, sie wären sehr interessiert, dich als Christine zu sehen. Das wollen sie mit uns besprechen, bevor sie irgendwelche Castings eröffnen.“
„Also… mich, als Christine? Ohne Casting? Das ist seltsam!“
„Nicht mehr!“, widersprach sie. „Das kann dir hier noch wahrscheinlicher passieren, nach deinem riesigen Erfolg bei Elisabeth!“ Sie legte mir kurz die Hand auf die Schulter. „Ich weiß, das ist alles sehr viel auf einmal und vor allem noch sehr undurchsichtig. Ich schlage vor, wir gehen zu diesem Treffen. Mach dir einfach ein paar Gedanken darüber, wie du zu der Rolle stehst und was es für dich bedeuten würde, in London zu spielen. Das ist eine große Chance, aber auch ein großer Schritt nach vorne. Ich weiß selber noch nicht, wohin er dich bringen wird. Falls das Gespräch sich morgen in diese Richtung entwickelt.“ Sie stand auf und schlüpfte in ihre Jacke. „Also, morgen um 12 im D’Vine. Weißt du, wie du hinkommst?“
„Klar weiß ich das.“ Ich starrte gedankenverloren auf den Tisch. Viktoria klopfte mir noch einmal aufmunternd auf die Schulter.
„Viel Spaß noch heute Abend! Ich bin wirklich stolz auf dich!“ Damit ging sie, ein bisschen wie ein Puck, der erst Verwirrung stiftete und dann verschwand.