Dann sollst du jetzt erlöst werden

Es gelang mir erst zwei Tage später, Linda wieder zu treffen. Mein Entschluss, die Sache auf sich beruhen zu lassen, geriet immer mehr ins Wanken, und irgendwann passte ich sie ab als sie aus der Schule kam. Als sie mich im Hausflur stehen sah, wirkte sie kaum überrascht.
„Ich will nichts hören“, kam sie jedem meiner strategisch vorteilhaft zurechtgelegten Argumente zuvor. „Die Sache ist vorbei.“
„
Die Sache?“, wiederholte ich ungläubig. „Linda, ich dachte, wir arbeiten an deinem
Traum!“
„Das dachte ich auch.“ Sie sah mich entschlossen an, dann senkte sie doch den Blick und spielte mit ihrem Haustürschlüssel. „Meine Eltern und ich haben alles besprochen. Ich… verstehe sie nun. Ich sehe ein, wie… dumm ich war. Ich werde mich ab jetzt intensiv mit anderen Jobs beschäftigen und für mein Abitur lernen. Ich werde vielleicht die Beste sein.“ Sie sah kein einziges Mal auf, während sie sprach, aber ich wusste auch so, dass jedes Wort gelogen war. Aber ich sagte nur: „Dann kann ich nichts mehr machen“ und verschwand. Denn schlimmer als sture Eltern waren nur Menschen, die sich irgendwann selbst belogen. Es tat mir in der Seele weh, Linda und mit ihr ein wundervolles Talent ruhen zu lassen, aber ehe sie nicht aufhörte, sich etwas vorzumachen, würde ich nichts bewirken können.
Auf dem Weg ins Theater wankte ich immer wieder zwischen zwei Entschlüssen: der eine ließ die ganze Angelegenheit ein für alle Mal hinter mir, der andere zwang mich, Linda zu helfen und nicht aufgegeben. Ich wollte mich nicht in Privatangelegenheiten einmischen – es würde nur Ärger geben. Und was kümmerte es mich, dass Linda nicht mehr sang? Es gab in Deutschland sicherlich Hunderte von Mädchen und Jungen, die ihr Talent vergeudeten oder gar nicht bemerkten – sei es aus finanziellen oder persönlichen Gründen. In meiner Garderobe war ich schließlich sicher, dass ich keine andere Wahl hatte – ich beschloss, nicht mehr an Linda zu denken und fühlte mich erleichtert.
Und sobald ich auf der Bühne stand, warfen sich all meine Entschlüsse wieder selbst über Bord.
Wollte ich ihr das verwehren? Dieses Fieber im Off, der kurze Moment der Erstickung, in dem die Lungen einfach vor lauter Anspannung ihren Dienst versagten, diese nervöse Atemlosigkeit, sobald es auf die Bühne ging? Und dann das Versinken… Sich loslösen von allem, was war, und für ein paar kostbare Momente jemand anders sein. Nur um sich selbst immer wieder neu zu erkennen…
Ich sollte mich nicht einmischen. Aber hätte Bertelin sich nicht eingemischt, hätte er mich nicht unter seine Fittiche genommen – wo wäre ich jetzt? Wie viel schwerer wäre ich vorangekommen?
Ja, es gab Hunderte von Mädchen und Jungen, die ihr Potenzial nicht nutzten. Aber wer war ich, dass ich Linda, die vor meiner Nase lebte, die Chance ihres Lebens nahm?
Ich focht einen schrecklichen Kampf mit mir aus. Ich verbrachte eine schlaflose Nacht nach der anderen. Denn das Wissen, dass ich nicht wegsehen konnte, brachte mich nicht mehr weiter – ich stand vor einer unbezwingbaren Mauer: wie sollte ich Lindas Eltern und Linda selber überzeugen?
Ich brütete vor mich hin, wie immer in den letzten Tagen, als ich das Theater durch den Bühneneingang betrat und meine Kollegen ungewohnt laut und gemeinschaftlich vor dem Infobrett stehen sah.
„Was ist los?“, fragte ich Lukas, der mir am nächsten stand. Er wandte sich um.
„Das Theater beweist mal wieder ein unbeschreibliches Organisationstalent!“, antwortete er verärgert.
„Hä?“, machte ich. Über die Köpfe der anderen konnte ich kaum etwas sehen. Lukas deutete mit dem Daumen auf einen Aushang, den ich nicht lesen konnte.
„Mareike hat bis Freitag Urlaub.“ Mareike war die first Cast der Magda. „Ann-Sophie hat sich für heute frei genommen, weil ihre Nichte gestern geboren wurde.“ Ann-Sophie war das Zweitcover Magda. Ich ahnte schon, was folgen würde.
„Und Alessa?“, fragte ich ruhig nach dem ersten Cover.
„Alessa hatte einen Unfall, gerade eben. Beinbruch. Wir haben keine Magda.“
„Können wir nicht einen Ersatz einfliegen lassen?“, fragte ich, „wie damals, als wir keinen Grafen hatten?“ Wie peinlich, dass so etwas schon wieder passierte! Lukas zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ob das klappt. Emmanuel hängt seit Ewigkeiten am Telefon. Aber der Ausfall ist so kurzfristig, dass er kaum jemanden findet. Wir könnten höchstens jemanden aus dem Ensemble nehmen, aber wer kann schon Magdas Text so gut?“ Er seufzte. „Ich glaube, Emmanuel würde jeden nehmen, der sich anbietet.“
Ich starrte ihn an, und plötzlich überschlugen sich die Infos und Ideen in meinem Kopf.
„Ich kenne jemanden!“, flüsterte ich.
„Was?“, fragte er müde. Aber ich antwortete nicht.
„Wo ist Emmanuel?“, rief ich, während ich schon den Gang hinunter lief.
„Äh – irgendwo in der Maske?“
Ich rannte durch die Gänge, in die Maske. Wurde zur Bühne geschickt. Atemlos raste ich durch den Backstage-Bereich und kam schlitternd auf der dämmrigen Bühne zu stehen. Emmanuel telefonierte. Ich winkte ihm mit hektischen Bewegungen zu, und er sah mich irritiert an und wandte sich ab. Ich seufzte laut und ging auf ihn zu.
„Ich habe einen Ersatz!“, flüsterte ich ihm zu. Er starrte mich an, ehe er sagte: „Warte kurz, Mark, ich glaube, wir haben das Problem schon gelöst…“ Er nahm den Hörer vom Ohr und hielt die Hand über den Lautsprecher.
„Wen?“, fragte er gedämpft, und angesichts der Hoffnung in seinen Augen war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich das richtige tat.
„Ein Mädchen, das ich unterrichtet habe!“, antwortete ich dann kühn. „Sie war sogar hier beim Workshop, sie-“
„Eine Auszubildende?“, unterbrach er mich ungläubig.
„Na ja, eigentlich… nein. Sie hat bisher nur Gesangsunterricht bekommen. – Aber sie ist große klasse! Frag Johanna!“
Emmanuel sah mich hin und her gerissen an. „Anouk, das ist lieb gemeint, aber… Ich weiß nicht, ob das möglich ist. So etwas ist sehr… ungewöhnlich.“
„Aber es ist schon einmal passiert!“, rief ich, denn glücklicherweise fiel mir in diesem Augenblick eine ähnliche Begebenheit ein. „Norina Bauer, sie hat in Essen die Constanze in
Mozart! gespielt, ohne jegliche Ausbildung! Sie ist eingesprungen, weil es ähnlich war wie bei uns heute: sie waren zu knapp besetzt! Komm schon!“ Ich flehte ihn fast an. „Bitte, Emmanuel! Das würde ihr helfen – und uns natürlich!“
Er sah mich eine gefühlte Ewigkeit lang an und nagte unentschlossen an seiner Unterlippe. Dann seufzte er. „Also gut. Dann sorg dafür, dass dieses Mädchen hierher kommt, und zwar so schnell wie möglich!“
Glücklicherweise hatte ich Lindas Telefonnummer noch eingespeichert. Ich flehte zum Himmel, sie möge selbst drangehen, und tatsächlich tat sie das.
„Linda!“, platzte ich heraus, noch ehe sie ihren Nachnamen ausgesprochen hatte. „Wir brauchen deine Hilfe!“
„Meine Hilfe?“, wiederholte sie irritiert.
„Ja. Du musst für eine Darstellerin einspringen.“
„Ich muss
was?“, fragte sie entsetzt. „Für jemanden im Ensemble?“
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf, auch wenn sie es nicht sehen konnte, und wandte dem Ensemble, das mich erwartungsvoll beobachtete, den Rücken zu. „Du musst die Magda spielen!“
Es blieb eine Weile lang still, aber ich konnte sie atmen hören. Dann erwiderte sie langsam: „Anouk, ich glaube nicht, dass ich die richtige dafür bin.“
„Doch, Linda, bist du! Ich weiß, dass du einen Großteil des Textes kannst!“
„Aber die Choreographien…“
„Wir haben noch ein wenig Zeit, um dir die wichtigsten Dinge beizubringen!“
„Ist das überhaupt erlaubt?“
Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, auch wenn ich am liebsten geschrien hätte vor lauter Aufregung. „Ja, ist es. Ich habe unseren Regisseur von dir überzeugen können.“
Wieder schwieg sie nervenzerreißend lange. „Okay“, sate sie schließlich und stieß hörbar den Atem aus, „ich mach’s.“
Ich atmete erleichtert auf. „Linda, ich weiß nicht, was ich sagen soll…“
„Sag mir am besten, wie ich schnellstmöglich zu euch komme“, erwiderte sie trocken, „hier ist der Bus nämlich gerade weg.“
Wir jagten wie die Irren durch die Stadt, das heißt, Emmanuel saß am Steuer und manövrierte seinen Wagen durch den Abendverkehr. Mehrere Male musste ich mich regelrecht am Sitz festkrallen, und in den Kurven hatte ich mehr als einmal das Gefühl, nur noch auf zwei Rädern zu fahren.
Die Show würde um acht Uhr beginnen – wir hatten kurz nach sechs. Ein Glück, dass wir immer früh ins Theater kamen! Emmanuel stellte seinen Wagen krumm und schief in einer Parklücke ab, wir stiegen aus und sprinteten durch das Treppenhaus. Zwei Sekunden nach dem Klingeln öffnete sich die Türe, und Linda sah mir entgegen. Mir roten Wangen und panischem Blick, aber fertig angezogen.
„Linda, danke, danke tausendmal!“, begrüßte ich sie. „Das hier ist Emmanuel, unser Regisseur!“ Die beiden reichten sich die Hand – Emmanuel sah aus wie ein gerupftes Huhn, weil er sich vor lauter Ärger ständig durch die Haare fuhr. Linda trat auf uns zu.
„Okay“, sagte sie atemlos, „ich bin so weit.“
„So weit wofür?“, erwiderte eine fassungslose Stimme. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Lindas Eltern waren.