
Ich stand still, geblendet und gerührt. Vor mir leuchtete der Bühnenboden im Licht der Scheinwerfer. Der Applaus rauschte in meinen Ohren wie ein Meer der Euphorie. Vorbei war alles, was ich denken konnte. Aus und vorbei.
Für die letzte Szene traten wir alle noch einmal auf die Bühne und stellten uns in einer langen Reihe auf. Die Zuschauer, die dachten, das Stück sei vorbei, waren einigermaßen verwirrt, als der Vorhang sich noch einmal öffnete und ein einzelner Scheinwerfer sich auf Aubrey richtete.
„Ich weiß noch, wie ich den Brief bekam“, begann sie leise, beinahe mit träumerischer Stimme. „Ich wagte es nicht, ihn zu öffnen.“
„Was sollte werden, wenn ich nicht genommen bin?“, fuhr Michael fort. „Ich glaube nicht, dass ich etwas anderes tun könnte. Die Bühne ist mein Leben.“
„Aber sehr geehrte Frau Berger, wir freuen uns sie an unserer Schule aufnehmen zu können stand da“, sagte Emilia.
„Und ich stand vor der Schule und wusste: jetzt beginnt ein neues Leben“, ergänzte Sarah.
„In dem ich nur tue, was mir gefällt“, sagte ich, „und mir sage: lass die anderen reden.“
„Manchmal ist es schwer, ich selbst zu sein. Es ist schwer, zu erkennen, wer ich wirklich bin“, sagte Mark. Ich dachte automatisch an ihn, wie er die Bibliothek zerstörte.
„Und manchmal tut es auch weh“, fuhr Isabelle fort. Ich sah, dass sie schon wieder weinte.
„Aber ich kämpfe, ich finde Freunde.“ Ich merkte, dass Liam ebenso aufgeregt war wie wir alle, denn sein Akzent war deutlich zu hören.
„Und manche verliere ich wieder“, meinte Anna.
„Aber ich gebe nie auf“, beendete Aneta.
Ich lugte vorsichtig nach links. Sarah lächelte mir zu, aber es wirkte verkrampft, und da begriff ich es endlich: es war vorbei. Mrs. Paige setzte sich ans Klavier uns begann zu spielen. Dein Part, Anouk. Ich trat zwei Schritte vor. Du meine Güte, wieso hatte ich mich hierauf eingelassen? Ich war völlig fertig! Aber es nützte nichts: ich musste What I did for love singen – zum Glück unterstützten meine Mitschüler mich als Chor. Ich brachte es ganz gut hinter mich, auch wenn gegen Ende die Tränen flossen. Wir entschieden uns spontan, Mich trägt mein Traum als Chor zu singen. Michael packte seine Okulele aus, und ein letztes Mal sangen wir gemeinsam als Klasse. Wir hielten uns an den Händen, während wir sangen, von unseren Träumen und unserer Berufung, und als das Lied vorbei war und das Publikum aufstand, fielen wir uns in die Arme und weinten. Vor Freude, vor Trauer, vor Erleichterung.
Allerdings wurden unsere Gefühlsausbrüche kurz durch das hektische Chaos hinter der Bühne unterbrochen: Kleider anziehen, Krawatten binden, Haare frisieren, nachschminken… Es war chaotisch und unorganisiert, wir liefen über unsere eigenen Klamotten und drängten uns vor den Spiegeln, um für die feierliche Zeugnisvergabe angemessen auszusehen.
„Kannst du sehen, ob die Spange noch festsitzt?“, fragte Sarah, als ich ihren Reißverschluss zuzog.
„Alles perfekt“, beruhigte ich sie und sie drehte sich um und musterte mich. „Ich kann nicht glauben, dass es vorbei ist“, sagte sie (es war der Satz des Abends).
„Ich auch nicht!“, bestätigte ich und warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel: mein dunkelrotes Kleid war definitiv ein Glücksgriff gewesen – nicht zu protzig und nicht zu schlicht.
Wir wurden einzeln auf die Bühne gerufen, bekamen unser Zeugnis, einen Händedruck – und das war’s.
Ab heute waren wir anerkannte Musicaldarsteller.
Die anschließende Feier in einem edlen Restaurant war ein wundervolles, vertrautes Beisammensein. Nach einer ebenso kurzweiligen wie unterhaltsamen Rede von Michael und Aubrey verbrachten wir mehrere Stunden damit, immer wieder über das Buffett herzufallen, zu reden, zu tanzen – und natürlich zu singen. Irgendein Elternpaar hatte es witzig gefunden, eine Karaoke-Maschine zu bestellen, und es dauerte nicht lange, ehe sie besetzt war.
„Schatz, willst du nicht auch mal singen?“, fragte Mama (die tatsächlich neben meinem Vater saß, wenn auch recht schweigsam).
„Ach“, erwiderte ich, „ich werde noch so viel singen…“
„Komm schon Anouk“, mischte sich Mark ein. „Da ist ein Song, den wollten wir schon immer mal von dir hören.“
„Ja, komm!“ Emilia zog mich hoch und ich stolperte beinahe über meinen Saum.
„Was habt ihr euch ausgesucht?“, fragte ich resigniert. „Ich gehör nur mir?“
Michael runzelte die Stirn. „Nein, aber danke für den Tipp.“ Er drückte mir das Mikro in die Hand.
„I dreamed a dream?“, fragte ich entsetzt. „Kommt gar nicht in die Tüte! Ich bin überhaupt nicht vorbereitet!“
„Flexibilität wird auf deiner Homepage aber sehr groß geschrieben!“, entgegnete Liam lachend. „Komm schon. Dann singe ich auch Total eclipse of the heart mit dir“, lockte er mich. Diesem Angebot konnte ich natürlich nicht widerstehen. Ich sang I dreamed a dream und fühlte mich großartig, und Liam hielt tatsächlich sein Versprechen: gemeinsam sangen wir das Duett, und ich wagte das erste mal ganz bewusst zu träumen: wenn ich die Augen schloss, trug ich ein weißes Nachthemd und rote Stiefel, und meine Haare waren braun und lockig. Und Liams Zähne waren lang und spitz, sein Gesicht bleich und schmal.
In diesem Moment glaubte ich so fest daran, dass ich es schaffen würde, dass ich an einem Erfolg gar nicht zweifeln konnte.
An diesem Abend war alles möglich.