Beitragvon Rascal » 03.03.2012, 21:41:50
Dem Grafen fiel vor Schreck beinahe das Buch aus den knochigen Händen, als ein helles Lachen urplötzlich die Luft erfüllte. Ein furchtbar fröhliches, unangepasstes Mädchenlachen, welches ihm nun den Moment des gespannten Lesens ruinierte. Kinder.
Im flackernden Schein der Bibliothekskerzen erhob sich der Vampir gemächlich, um das Werk des Aristoteles wieder an seinen rechtmäßigen Platz in den Weiten der Regale zu tragen. Die Schritte hallten kalt und unbarmherzig durch den weitläufigen Mamorgang des Raumes und wurden immer wieder von den blanken Wänden abgestoßen, um schließlich weiter gegen den alten Stein zu prallen. Seufzend musste der Graf jedoch erkennen, dass er es in völliger Gedankenlosigkeit vergessen hatte, wo das Buch ursprünglich stand. Denn es waren zwar alle Bücher von ihm persönlich alphabetisch einsortiert worden, jedoch hatte sich sein Sohn Herbert etwas aus dem Regal genommen, sodass nun zwei Lücken in der Regalreihe klafften. Für den Grafen ein heilloses Durcheinander, welches er auf keinen Fall ertragen wollte, geschweige denn konnte.
Als er zum ersten Mal seit langem ratlos war und die Reihenfolge betrachtete, ertönte wieder dieser markerschütternde Laut, der sich Kinderlachen schimpfte. Erneut zuckte der Vampir zusammen, erneut fiel ihm das Buch beinahe aus den Händen. Das war zu viel.
„Herbert!“ donnerte der Graf so laut es ihm nur möglich war, ohne gleich unwürdig zu klingen. „Herbert, Iliana, was zum Teufel treibt ihr da? Ich versuche zu lesen!“. Zum wiederholten Male prallten die Schallwellen an den Wänden, doch diesmal wesentlich öfter, länger, lauter. Hinter der schweren Ebenholztür erklangen die Schritte eines anderen Vampirs. Sie wurden immer lauter, bis sie für einen Moment ganz von der Stille der Nacht geschluckt wurden. Jemand klopfte.
Graf von Krolock vollführte eine vornehme, langsame Drehung, wie seit jeher auf seine Erhabenheit und Eleganz bedacht, selbst wenn ihn niemand beobachtete. Schließlich sagte er tonlos: „Tritt ein“. Iliana öffnete langsam die Tür, welche sehr zu ihrem Leidwesen einen ekelhaft quietschenden Laut von sich gab, als die Tür in den Raum hineinschwang. „Ihr habt gerufen, Herr? Es tut mir aufrichtig leid, falls wir Eure Ruhe gestört haben, aber ihr wisst ja, wie Kinder so sind, sie…“ „SCHWEIG!“ polterte ihr Gegenüber. Augenblicklich richtete die Vampirin ihren Blick auf den glitzernden Steinboden, um nicht in das erzürnte Gesicht des Grafens sehen zu müssen. Er atmete tief durch und fuhr leise zischend fort: „Wüsste ich nicht, dass sie für mich allein bestimmt ist, würde ich sie längst verbannt haben. So viel steht fest.“ Noch immer verweilte der Graf an seiner Stelle. Iliana wagte es nicht, sich zu bewegen, bevor er nicht selbst einen Schritt in ihre Richtung gemacht hatte. Wieder herrschte eisige Stille zwischen den beiden Untoten. „Iliana“, fuhr er fort, „was ist daran so schwer, ein Kind im Zaum zu halten? Gib ihr etwas zu spielen, lies ihr etwas vor, lass sie sich in den kleinen Sarg legen. Ist das denn zu viel verlangt?“
Eindringlich sah er in ihre Richtung. „Iliana!“ wiederholte der Graf mit allem Nachdruck ihren Namen. „Iliana, sieh mich an!“. Zitternd hob sie ihr Haupt und strich sich vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Blickfeld. Der Graf war in der Tat wütend. Auf sie. Auf das Mädchen.
„Und jetzt antworte mir!“ zischte er selbstgefällig, während er einige Schritte in die Richtung der verschreckten Vampirin tat. Ihr Mund war gelähmt von der Angst, er könnte ihr ernsthaft etwas antun, doch sie musste antworten. „E-es ist nicht schwer, Herr. Überhaupt nicht…schwer.“ Über sein Gesicht huschte ein verschmitztes Lächeln. Kurz legte er seinen Kopf schief und sah Iliana fest in die himmelblauen Augen. „Das wollte hören.“ bemerkte der Graf. Furchtbar langsam hob er seinen Arm, um ihre kalte Wange zu berühren. Ein Schauer lief über ihren Rücken, als seine raue Haut die ihre streifte. Trotz seiner unbändigen Wut war er noch immer der charismatische Mann, der begriff, wie er einer Frau, egal ob tot oder lebendig, den Kopf verdrehen und das Herz stehlen konnte. Auch sie war einst sein Opfer gewesen. Noch lange, bevor die blutjunge Wirtstochter Sarah den Weg in die ewige Verdammnis dieser Brut gefunden hatte.
Er seufzte melancholisch, beinahe als könnte er Ilianas Gedanken lesen und somit ein weiteres dunkles Kapitel seines Lebens erneut durchleben. Sarah, das Sternkind. Auf eine seltsame Art und Weise hatte sich seine gesamte Mimik verändert. Die Augen schienen nun eher glanzlos und leer als wütend. Seine Kinnpartie begann zu zittern, wodurch die langen Fangzähne immer wieder zwischen den Lippen aufblitzten. Als schließlich nur noch seine laute Schnappatmung zu hören war, fragte Iliana sich, ob es wohl besser wäre, sich zurückzuziehen, um den Grafen in Ruhe zu lassen. Sein Stolz hing in jenem seltsamen Moment an einem seidenen Faden, und die Vampirin hatte keinerlei Interesse daran, diesen durchzuschneiden. Im Gegenteil, am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen und gesagt, dass alles wieder gut würde. Dennoch widerstand Iliana. Sanft sah sie dem Grafen in die zum Entsetzen verzerrten Augen, mit denen er die Tür hinter ihr zu fixieren schien.
Als sie sich umdrehte, bemerkte Iliana Herbert, wie er in der Tür stand und das kleine Sternkind auf dem Arm hielt. Lumina trug ein weißes Nachthemdchen und hielt in ihren winzigen Händen ein rotes Tuch aus Samt. Still kuschelte das Mädchen sich an ihren Ziehvater, welcher den Grafen fragend ansah. Allmählich begriff Iliana, was den Obervampir so sehr schockierte- die kleine Lumina sah jener Wirtstochter verblüffend ähnlich. Nicht nur, dass sie ebenfalls ein weißes Nachthemd trug und in ihren Fingern das rote Tuch hielt. Nein, sie hatte dieselben roten Locken, dieselben frechen Augen, dieselbe fröhliche Art. Einfach alles an der kleinen Lumina erinnerte an das vormalige Sternkind Sarah. Graf von Krolock rang verzweifelt nach seiner Standhaftigkeit, seiner Haltung, seinem Stolz. Doch vor allem rang er nach Worten. Dieses Ereignis brachte ihn so sehr aus dem Konzept, dass er einfach fragte: „Wo… hat sie das Tuch her?“
Herbert zuckte kurz zusammen, als sein Vater die Sprache wiedergefunden hatte. Dann antwortete er wahrheitsgemäß: „Es lag noch im Rubinzimmer, Vater.“
Das Rubinzimmer. In diesem wunderschönen, blutroten Schlafgemach im Westflügel hatte Sarah ihre letzten Stunden vor dem Ball verbracht, um sich auf den Moment der ewigen Verdammnis vorzubereiten. Seit der Flucht mit diesem Trottel von Wissenschaftler hatte der Graf jenes Zimmer nie wieder betreten, aus Angst, er könnte von den Erlebnissen eingeholt werden. Obwohl sich besonders Herbert darum bemüht hatte, den Schmerz seines Vaters zu lindern, konnte nichts die Trauer des Vampirs trocknen. Seit Jahren schon war ihm die Lust an Grausamkeit und Teufelsverehrung vergangen. Eines Tages hatte er bestimmt, dass die Brut nur noch Männer beißen durfte, wenn er dabei war. Dies wiederum war jedoch schmerzlich für Herbert, welcher selbst durch die Flucht einen herben Verlust erlebt hatte. All diese jungen, untoten Männer erinnerten ihn an Alfred. Sein Alfred, von dem er sich so viel Liebe erhofft hatte.
„Warum in Satans Namen hast du das Rubinzimmer betreten?“ flüsterte der Graf entsetzt. „In Satans Namen, ich habe doch angeordnet, dass niemand diesen Raum je wieder betreten darf, solange sie nicht zu mir zurückkehrt!“ Mit einer zittrigen Handbewegung fuhr er sich durch das lange schwarze Haar. „Bis sie zurückkehrt…“ Beschämt sahen Iliana und Herbert zu Boden. „Wir hatten mit Lumina Verstecken gespielt“, antwortete Iliana kleinlaut, „und sie ist nun mal ein Kind und wusste nicht, was für eine Bedeutung dieser Raum für Euch hat. Also hat sie das Zimmer betreten, offensichtlich fand sie Gefallen an Sarahs Tuch und…“ „Schweig.“ Unterbrach er sie hart, aber keinesfalls unfreundlich. „Gib mir das Tuch.“ Herbert sah das Mädchen, das die ganze Szene stumm auf seinem Arm beobachtet hatte, matt lächelnd an und fragte: „Lumina, magst du mir das Tuch geben? Hm?“
Zögernd sah sie ihn an und nickte heftig. Ihre Händchen ließen den roten Samtstoff los, sodass Herbert ihn seinem Vater überreichen konnte. „Braves Mädchen.“ Flüsterte Iliana lächelnd, nachdem sie dem Kind durch die Haare gestrichen hatte. „Komm, wir lassen den Herrn jetzt alleine, ja? Was hältst du davon, wenn ich dir die Aussicht vom Dach zeige?“
Wieder nickte Lumina und murmelte: „Ja, Illi.“ Mit einem ängstlichen Seitenblick zum Grafen drückte sie sich noch etwas fester an Herberts Schulter, welcher zusammen mit ihr und Iliana langsam durch die schwere Ebenholztür wieder verschwand und somit Graf von Krolock alleinließ. Allein mit sich selbst und den Erinnerungen an eine einzigartige Liebe stand er inmitten der Schlossbibliothek und weinte.