Wow, viele Kommentare - danke
Nun geht's auch schon weiter:
„Was?“, fragte ich, plötzlich seine ganze Niedergeschlagenheit verstehend. „Aber… warum?“ Ich bemerkte im selben Augenblick, wie dämlich die Frage war. Warum wohl? – Weil sie jemand Neues brauchten. Neue, vielleicht berühmtere Stimmen. Abwechslung, um ihre hohen Preise zu rechtfertigen.
„Sie verlängern den Vertrag nicht“, erklärte er. „Ich habe es eben erst erfahren und bin noch ziemlich platt. Klar sind es noch einige Monate bis zur Derniere, aber… Wie soll ich in so kurzer Zeit ein neues Engagement bekommen?“ Er hörte sich bedrückt an.
„Oh, Liam, das tut mir so leid für dich!“, sagte ich. „Ich weiß, wie gerne du beim Phantom bist. – Gibt es nicht die Möglichkeit, ins Ensemble zu wechseln? Wenigstens, bist du einen neuen Job hast?“
„Wie stehe ich denn vor den Fans und Kollegen da?“, entgegnete er. „
Der Mann, der vom Phantom zum Namenlosen in der dritten Reihe wurde. Na, vielen Dank! – Nein, nein. Ich… muss da jetzt irgendwie durch.“ Ich hörte, wie er tief einatmete, und sah ihn im Geiste, wie er sich mit der Hand durch die hellen Haare fuhr. „Ich schätze, ich werde mich so schnell wie möglich mit meiner Agentin zusammensetzen und nach etwas Neuem Ausschau halten. So ist das Geschäft halt.“
Ich hätte gerne gesagt, er solle noch einmal mit seinen Vorgesetzten reden, aber ich wusste selber, dass das nichts bringen würde. Denn er hatte Recht: unser Geschäft war hart – und manchmal auch unfair.
„Was gibt es bei dir Neues?“, fragte er, offenbar um sich abzulenken. „Außer, dass du dein erstes und wirklich cooles TV-Interview hinter dir hast!“
„Ach, eigentlich nichts“, erwiderte ich, und ließ den Gedanken, der immer wieder in meinem Kopf aufblinkte, unbeachtet. „Zum Glück ist bei mir alles okay. Hey, bevor du gehst, will ich dich aber noch mal als Phantom sehen!“
„Ich werde versuchen, dir eine Karte für die Derniere zu sichern!“, versprach er.
Ich stand in meiner Garderobe und sang mich ein, während ich gleichzeitig meine Haare zusammenband und über Liam nachdachte. Nur für den Schlusston hielt ich kurz inne – sogar meine Gedanken hörten auf zu rotieren – und sang einen fulminanten letzten Ton. Kurz darauf klopfte es an der Türe.
„Ja?“, rief ich. Lukas steckte den Kopf herein.
„Ich wollte nur nachsehen, ob bei dir noch alle Gläser heil sind“, witzelte er. „Meins ist zerbrochen, als ich vor deiner Tür stand.“ Er betrat endgültig die Garderobe und rieb sich übertrieben die Ohren. Dann sah er stirnrunzelnd auf den laufenden CD-Player.
„Soso,
Elisabeth hörst du, ja?“
„Ja, nur so aus… Spaß.“
„Klar.“ Er bückte sich und zog seine Strümpfe zurecht. „Wollen wir nicht gemeinsam zur Audition gehen?“
„Was?“ Ich starrte ihn an.
„Na ja, ich glaube,
Elisabeth ist eine große Chance“, erklärte er. „Selbst, wenn man nur im Ensemble spielt. Ich werde-“
„Ich möchte aber nicht hier weg!“, unterbrach ich ihn. „Ich möchte Sarah sein.“
„Du weißt, dass das nicht für immer und ewig geht, oder?“
Mein Herz begann zu rasen. Wusste er etwas, hatte er etwas gehört? Wollte Emmanuel mich ersetzen – so wie Liam?
„Soll das heißen“, begann ich langsam und mit zittriger Stimme, „dass ich nicht mehr lange hier spiele? Werde ich auch ausgetauscht?“ Die Vorstellung war zu schrecklich. Lukas sah mich irritiert an.
„Wie kommst du denn auf den Blödsinn?“, fragte er nach einer Weile.
„Ich dachte nur. Du sagst ja, ich solle unbedingt zur Audition – zumindest kam es so rüber.“
„So ein Quatsch!“, widersprach er lachend und legte mir den Arm um die Schulter. „Wenn du hier glücklich bist, bist du hier glücklich! Ich will dich doch zu nichts zwingen! Aber ich werde meine Chance ergreifen!“ Er machte eine Siegerpose. „Ich werde Rudolf!“
„Jetzt bist du erst mal Alfred“, erwiderte ich trocken – und sehr beruhigt. „Und ich Sarah, und deshalb sollte ich schleunigst in die Maske!“
Die heutige Vorstellung war seltsam – ich war seltsam. Ich hatte so ein komisches, nervöses Gefühl – nicht vergleichbar mit Lampenfieber. Es war, als ob meine Gedanken sich selbstständig machten und mich nicht mehr an ihren Gängen beteiligten. Ich entdeckte eine neue Energie auf der Bühne, die mich traurig stimmte, und musste sogar während des Gebets ein bisschen weinen.
Wahrscheinlich Nachwirkungen von meiner Unterhaltung mit Lukas, dachte ich. Er hatte mich wirklich ganz schön erschrocken!
Trotzdem ertappte ich mich dabei, wie ich nach der Show klammheimlich meinen Laptop hervorzog und in meiner Garderobe ins Internet ging.
Nur mal gucken. Das kann ja nicht schaden. Meine Finger tippten wie von selbst den Suchbegriff ein. Und klickten auch das erste Ergebnis an. Neugierig las ich die Rollenbeschreibung durch und überflog,
nur so, die Auditiontermine.
Hm, eine ganze Menge freier Plätze. Hätte ich da nicht sogar Urlaub? – Eine gute Gelegenheit, auch mal zu Hause vorbeizuschauen… Ich riss mich vom Bildschirm los und starrte auf mein Handy. Was war nur los mit mir? Machte ich mir etwa ernsthaft Hoffnungen, als Elisabeth genommen zu werden? Immerhin war das mehr als unwahrscheinlich bei der Vielzahl von Bewerberinnen. Und Sarah für eine Ensemblerolle aufgeben…? Mir kam eine Unterhaltung mit Marius in den Sinn. Er hatte behauptet, ich könnte viel mehr schaffen als „nur“ die Sarah, wenn ich mich anstrengte. Wenn ich es wirklich wollte.
Die Frage war nur: was wollte ich? Mein Finger tippte immer auf dem Handy-Display auf den Kontakt meiner Agentin, Viktoria. Plötzlich war ich unsicher und unentschlossen, denn Lukas hatte ja Recht: auf keinen Fall würde ich für immer hier bleiben können. Es musste ein Danach geben, denn sonst… Und war
Elisabeth nicht die Chance, Neues kennen zu lernen, meine Chancen auf dem Markt zu verbessern? Langsam senkte sich mein Daumen auf den grünen Hörer, und mit einer entschlossenen Bewegung tippte ich ihn an und hielt mir das Handy ans Ohr. Als ich wartend in den Spiegel sah, stimmte mich der Anblick meines Kostüms bereits jetzt ein wenig traurig.