Und schon sind wieder 6 Tage um, seit ich den letzten Teil gepostet habe

Hier geht es weiter, viel Spaß!
Trotz all des Ärgers und der wirklich gedrückten Stimmung fühlte ich mich kribbelig vor Aufregung und Neugierde. Am Montag war ich erschöpft und unausgeschlafen, denn nach der Show hatte ich zum Bahnhof sprinten müssen, um den Zug zu erreichen, der auf halber Strecke eine Panne hatte und mich so erst um halb drei Uhr am Düsseldorfer Hauptbahnhof absetzte. Um vier Uhr lag ich im Bett, und um acht Uhr saß ich schon wieder beim Frühstück. Trotz allem putzmunter.
„Das ist der Schlafmangel“, meinte meine Mutter, ehe sie arbeiten ging. „Erst bist du total wach. Aber warte mal, bis du gleich Bescheid weißt – dann lässt dich dein Adrenalin gnadenlos im Stich.“ Sie drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Viel Glück, mein Schatz.“
Die Zeit bis zur Abfahrt nutzte ich, um mit Liam zu telefonieren. Die Audition für
Miss Saigon war um einiges besser, so meinte er, und das machte mich abwechselnd erleichtert und besorgt. London war schließlich ein paar Ecken von Düsseldorf entfernt. Aber das sagte ich ihm nicht.
Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als ich das Gelände des Capitols betrat – zu meiner Linken das Tanzhaus NRW, vor mir das Theater. Ich wurde im Foyer abgefangen und durch einige schwarze und graue Türen in die Büroräume des Theaters gebracht. Dort erwartete mich bereits ein ergrauter, etwas rundlicher, aber sehr netter Herr im Anzug, dessen Namen ich vor Aufregung mal wieder total vergaß.
„Setzen Sie sich doch“, sagte er. Ich nahm ihm gegenüber Platz und knöpfte meine Jacke auf. Im Gegensatz zu draußen war es hier angenehm warm.
„So, hatten Sie eine angenehme Reise?“
„Von dem zweistündigen Pannenstop mal abgesehen, ja“, antwortete ich.
„So etwas. Zwei Stunden!“ Er sah mich mitleidig an. „Nun, da brauchen Sie wohl dringend eine Entschädigung?“ Er lachte und zog den gefürchteten Papierstapel aus der Schreibtischschublade. „Das ist Ihr Vertrag“, lächelte er. Ich versuchte, mich schon einmal selbst zu beglückwünschen:
du bist im Ensemble! Mit etwas Glück vielleicht die Gräfin Esterhazy! „Sind Sie sehr aufgeregt?“
„Es geht“, antwortete ich. Er grinste noch mehr.
„Das kommt sicher noch. Wenn Sie für uns spielen.“
Ich atmete laut aus. „Oh. Gut! – Als wer?“
„Na, als Elisabeth natürlich!“, erwiderte und lachte mich an. „Herzlichen Glückwunsch, Frau Steger!“
Ich starrte ihn kurz völlig geplättet an. „Elisabeth?“, echote ich. „Unglaublich, wirklich?“ Mir kamen doch tatsächlich die Tränen vor lauter Überraschung. „Oh Mann. Tut mir leid. Aber das ist… Das hätte ich ja nie gedacht! Elisabeth! – Moment mal, als Cover oder…?“
Er schüttelte den Kopf. „Erstbesetzung, Anouk – ich darf doch Anouk sagen? Erstbesetzung, wirklich und wahrhaftig!“
Ich atmete tief ein und starrte auf meinen Vertrag. „Sagen Sie mir doch bitte ganz genau, warum“, bat ich.
„Können Sie es denn so schwer glauben?“
„Ehrlich gesagt dachte ich bis eben noch, ich sei bloß im Ensemble. Vielleicht die Gräfin, aber… nie und nimmer Elisabeth!“ Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Er stützte sein Kinn auf die Hände und sah mich eindringlich an.
„Die Produktion soll eine frische werden“, erklärte er. „Sie zeichnet sich nicht durch altbekannte, berühmte Stimmen aus wie… nun, wie die meisten anderen Inszenierungen in Deutschland. Sie gibt jungen Talenten eine Chance. Wenn Sie einen Blick auf die Besetzungsliste werfen, werden Sie kaum Berühmtheiten sehen – dafür aber jede Menge frische Absolventen. Wir wollen Energie, Frau Steger, Energie und eindrucksvolle, ausdrucksstarke Stimmen. Kurz und bündig: wir wollen Frische!“ Er stand auf und gab mir die Hand. „Sie haben auf ganzer Linie schauspielerisch und gesanglich überzeugt“, sagte er zum Abschied. „Wir hätten Sie liebend gern direkt genommen, aber wir mussten ja alle Runden durchziehen, um niemanden vor den Kopf zu stoßen.“ Er führte mich aus seinem Büro.
„Also, Frau Steger!“ Lächelnd und sichtlich zufrieden reichte er mir die Hand. „Dann auf eine gute Zusammenarbeit!“
„Eine Frage noch!“, fiel ich ihm ins Wort, denn mir fiel etwas wichtiges ein. „Sie… informieren Sie nur die, die genommen sind? Oder werden auch die Darsteller angerufen, die… doch keine Rolle bekommen?“
„Ah, ein enttäuschter Kollege, was?“, erriet er sofort. „Aber nein, unser Zeitmanagement lässt das nicht zu. Wir kontaktieren nur, wer mitspielt.“
„Ah. Ach so. Na ja, das ist… Ein bisschen unhöflich, finden Sie nicht?“
Sein Lächeln verlor etwas von seiner Intensität. „Ich kann Sie verstehen, Frau Steger“, antwortete er, „aber Sie werden sicher verstehen, dass wir nicht immer über hundert Bewerber kontaktieren können, nur um ihnen eine Absage zu erteilen.“
Ich wollte sagen, dass es ja nicht so schwer war, eine Sammelmail zu erstellen und einen Verteiler einzurichten, aber ich biss mir auf die Zunge und nahm diese Ungerechtigkeit, die ja doch nur eine von vielen in unserem Milieu war, schweigend hin.
Ich traute mich noch nicht sofort nach Hause. Ich setzte mich in die Bahn und fuhr eine Weile ziellos durch die Stadt, bis ich am Rheinufer ankam. Es war kalt und windig, aber strahlender Sonnenschein, und ich kaufte mir eine heiße Schokolade und starrte auf das blau-graue Wasser, lauschte den Unterhaltungen der Passanten und dem Quengeln der Kinder und fühlte mich ganz eigenartig. Als schwebte ich in einer großen Seifenblase, mitten in der Wirklichkeit und doch komplett von ihr abgeschnitten. Nur langsam begriff ich, dass sich etwas ändern würde, mal wieder. Ich überlegte, wen ich zuerst anrufen sollte: Bertelin, Sarah, Lukas, Emmanuel, Liam… Meine Wahl fiel letztendlich auf Marius. Irgendwie war er immer das Bindeglied gewesen zwischen der Schauspielerin und dem Menschen in mir.
„Hallo, ich bin’s“, meldete ich mich, als er dranging. „Anouk. Hast du kurz Zeit?“
„Sicher“, erwiderte er, wenn auch etwas überrascht. „Was gibt es?“
„Ich wollte nur irgendjemandem davon erzählen“, begann ich zögernd.
„Wovon?“
„Dass ich… nun, dass ich Elisabeth bin.“ Ich wartete, aber es herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Elisabeth, verstehst du? Die Hauptrolle. Nicht ein Cover oder so, ich bin. Ich bin die echte Elisabeth! – Natürlich nicht die echte“, korrigierte ich. „Was sagst du dazu?“
„Was ich dazu sage?“
Ich wartete gespannt und mit klopfendem Herzen.
„Was ich immer gesagt habe: dass du ein Potenzial hast, das seinesgleichen sucht – und dass du es endlich, endlich voll ausschöpfen kannst! Bravo, Anouk!“
Ich musste grinsen. „Du bist auch nicht sauer, dass du nicht genommen bist?“, fragte ich.
„Woher weißt du denn das?“, fragte er, aber ich erkannte, dass es scherzhaft gemeint war.
„Weil der Intendant meinte, dass nur junge Darsteller genommen werden. – Nicht, dass du alt wärst“, fügte ich hastig hinzu, aber er hatte das Fettnäpfchen natürlich bemerkt und musste lachen.
„Na, das werde ich mir merken!“, sagte er. „Ich hätte gerne mal wieder mit dir gespielt, Anouk. Aber ich bin eigentlich ziemlich neugierig auf die kommende Produktion. Neue Gesichter tun der Branche gut. – Und jetzt solltest du ganz schnell allen Bescheid sagen und dich von den Vampiren ordentlich feiern lassen!“
Ich lächelte. „Gut. Mache ich.“