Dankeschön, ihr beiden Hier wieder ein neues Kapitel – ich bin grade so kreativ... Viel Spaß! (Oder zumindest interessantes Lesen )
4. Kapitel
Rebecca erzählt weiter.
»Ich habe gelernt, diese Stücke zu lieben. Und ich habe gelernt, dass meine Stimme schön ist. Mir haben auf der Straße immer Männer hinterher gesehen, aber dass auch Frauen stehen blieben und mich ansahen, nur weil ich vor mich hin summte, war mir neu.
Ich fand schon bald heraus, dass das eine gute Geldquelle war: Ich stellte mich an eine Straßenecke und sang die Lieder, die ich in den Theatern gehört hatte oder die ich von früher kannte.
Hauptsächlich beschränkte ich mich aber auf die Theaterlieder, weil ich außer den Schlafliedern meiner Mutter nur Trinklieder aus den Gossen kannte und das nicht so gut ankam.«
Ich muss ein Lächeln unterdrücken. Ich kann mir unmöglich vorstellen, wie diese schöne junge Frau an einer Straßenecke steht und Trinklieder singt.
»Ich verdiente so eine Menge Geld – viele waren bereit, zu zahlen, um meine Stimme zu hören. Schon bald hatte ich so etwas wie ein Stammpublikum, und, was noch wichtiger war: ich hatte genug Geld, um mir eine kleine Dachwohnung zu mieten. Ich hatte keinen Strom und kein warmes Wasser dort, aber es war ein Dach über dem Kopf – mehr, als ich jahrelang besessen hatte, obwohl es etwas undicht war.
Ich hatte nicht ausreichende Mittel, um mir alles zu kaufen, was ich wollte, aber es reichte, um nicht mehr hungern zu müssen. Alles schien perfekt.«
Rebecca bricht abrupt ab. Ich fühle förmlich, wie sie sich an diesen Teil der Erinnerung klammert und verzweifelt versucht, ihn festzuhalten, bevor er ihr wieder entgleitet.
Schließlich gibt sie mit einem Seufzen auf und fährt mit leiser Stimme fort.
»Aber es blieb nicht so – natürlich nicht, sonst wäre ich jetzt nicht hier. Eines Tages sang ich wieder an meiner gewohnten Stelle. Ich hatte schon ein paar Pfund verdient und war zufrieden; das würde reichen, um einige Tage davon zu leben, und die Monatsmiete hatte ich schon fast zusammen.
Aber plötzlich sah ich ihn. Ich blickte auf und da stand er einfach und sah mich an... Ganz ruhig, kalt und abwartend, wie ein Raubtier, das geduldig auf die Beute wartet.
Meine Hände zitterten, aber ich zwang mich, das Lied zu Ende zu singen und mich mit einem gespielten Lächeln zu verbeugen. Wieder fielen einige kleine Münzen vor mir auf den Boden. Ich hob sie auf, bedankte mich, und ging.
Normalerweise sang ich länger, aber ich hatte, was ich brauchte, und ich hielt es nicht länger in seiner Nähe aus.
Wie erwartet folgte er mir, aber ich hatte einen Vorteil: Ich kannte die Gegend besser als er. Ich lief zunächst von meiner Wohnung weg und schaffte es schließlich, ihn abzuhängen und in die entgegengesetzte Richtung wegzulaufen. Ich lief und lief, bis ich nicht mehr konnte und mich erschöpft gegen eine Hausmauer lehnte.
Ich ging schließlich zu meiner Wohnung, trat ein – und schrie vor Schreck auf, als meine Tür sich nicht schließen ließ..
„Glaubst du wirklich, du hättest mich abgehängt?“, lachte er, nahm den Fuß aus der Tür und trat ein.
Ich war zu starr vor Schreck, um mich zu bewegen. In meiner Erinnerung kamen all die Gedanken und Gefühle zurück, die ich in dieser Nacht gehabt hatte, und endlich schaffte ich es, zumindest einen Schritt zurückzugehen.
„Du denkst doch nicht wirklich, du kannst mir davonlaufen?“, fragte er und kam bedrohlich näher. Ich antwortete nicht, aus Angst, er würde merken, wie panisch ich war.
„Becky, du entkommst mir sowieso nicht, Schätzchen“, murmelte er – es wäre fast verführerisch gewesen, wäre er nicht so ein Säufer gewesen. Aus seinem Mund klang es einfach lächerlich. Aber trotzdem dachte ich, er hätte Recht – er hatte mich am anderen Ende der Stadt gefunden, so weit weg von ihm, wie ich nur hatte fliehen können.
Es war nicht weit genug gewesen. Er würde mich überall finden, und ich konnte ihm nicht entkommen, wo ich auch hinging.
Das war das zweite Mal in meinem Leben, dass ich an Selbstmord dachte. Ich hatte keine Chance, ohne ihn zu leben – er holte mich immer wieder ein, und mit ihm die Erinnerung. Nichts hatte mehr Sinn.«
Rebecca schweigt. Ich spanne mich an. Ohne dass sie es ausgesprochen hat, weiß ich, wen sie mit „er“ meint.
Ich ahne, dass jetzt eine weitere dunkle Seite von ihr aufgedeckt wird. Einiges weiß ich ja schon: ihre Mutter hat als Prostituierte gearbeitet, sie hat gestohlen und sich heimlich in Theater geschlichen. Alles ändert nichts daran, dass ich sie verstehe.
So, wie sie erzählt, scheint es unmöglich, nicht genauso gehandelt zu haben. Ich weiß genau, warum sie das alles getan hat, und ich verzeihe ihr nicht – weil es nichts zu verzeihen gibt. Es ist alles gut.
Aber jetzt kommt mehr, ich fühle es an der Art, wie sie sich auf die Unterlippe beißt und zu Boden sieht und schweigt. Es vergeht noch etwas Zeit, bis sie wieder spricht. Ihre Stimme ist leise, monoton. Sie scheint mich nicht wahrzunehmen.
»Ich spürte damals, dass ich von ihm abhängig war. Solange er in meiner Nähe war – und das würde immer sein, wenn es nach ihm ging – konnte ich nicht leben. Ich hatte das Gefühl, nicht frei atmen zu können, keinen Schritt gehen zu können ohne den Schatten der Erinnerung über mir.«
Wieder macht Rebecca eine lange Pause und als sie wieder spricht, tut sie es noch leiser als zuvor. Sie ist sicher müde; es schlägt schon drei Uhr morgens. Sie hat sich in meinen Sessel zurückgelehnt und endgültig entspannt. Jetzt bin ich derjenige, der angespannter ist als notwendig.
»Mein Fenster in der Wohnung war kaputt, ein Grund mehr, warum ich sie so billig bekommen habe. Im Fensterrahmen waren nur noch einige scharfe Glassplitter, alles, was von der Scheibe übrig geblieben war. Warum sie kaputt war, weiß ich nicht. Es war schon so, als ich eingezogen bin. Jetzt waren mir die Splitter nützlich.«
Ihre Stimme klingt so kalt, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurückweiche.
»In meine Angst, ja, Panik, mischte sich ein anderes Gefühl – eine unendliche Wut. Dieser Mann hatte alles zerstört, was ich je hatte. Meine Dankbarkeit wegen seiner Hilfe in meiner Kinderzeit war längst vergessen.
Ich hasste ihn nur noch, hasste ihn unendlich für alles, was er mir angetan hatte.
Ohne zu überlegen, wich ich zum Fenster zurück. Er ahnte nichts und lachte.
„Du kannst mir nicht entkommen“, wiederholte er und machte einen Schritt auf mich zu. Einen Schritt zu viel.
Ich brach mit aller Kraft einen der Glassplitter aus der Fensterscheibe und rammte sie ihm in die Brust. Den Schmerz in meiner zerschnittenen Handfläche spürte ich nicht.
Ich sah, wie er langsam vor mir zu Boden fiel. Das Lächeln um seine Lippen blieb starr, obwohl seine Augen sich überrascht weiteten – die Mischung verlieh seinem Gesicht einen seltsamen, irren Ausdruck, der mir Angst machte. Ich wich zurück und er stürzte endgültig zu Boden.«
Wieder eine Pause. Meine Hände halten die Stuhlkante umklammert und ich starre sie an.
»Ich habe ihn umgebracht«, schließt sie leise ab und zu meiner Überraschung sehe ich eine Träne in ihrem Augenwinkel – gerade noch. Sekunden später fallen ihr die Augen zu; sie ist todmüde.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und so schweige ich. Schon bald schläft sie. Ich sollte sie eigentlich fortbringen; sie wecken und aus meiner Wohnung bringen, bevor sie mich auch noch umbringt.
Aber etwas hält mich davon ab. Sie ist keine eiskalte Mörderin. Sie hat diesen Mann getötet, der ihr Leben zerstört hat. Ich verstehe voll und ganz, warum er sterben musste. Hätte sie mir nicht von seinem Tod erzählt, sondern, wo er heute lebt, wäre ich gegangen und hätte das selbst erledigt.
Und trotzdem, trotz allem, was er getan hat, hat sie seinen Tod bereut. Ich habe es gesehen, an dem Ausdruck in ihren Augen.
Ich stehe auf, hole eine Wolldecke und lege sie über sie. Ich stehe noch einen Moment da, unschlüssig, ob ich sie in mein Bett tragen und selbst auf dem Sessel schlafen sollte, aber ich entscheide mich dagegen. Ich will nicht, dass sie das falsch versteht.
Ich gehe hinüber in mein Schlafzimmer und lege mich auch hin, lasse aber die Tür offen. Wenn sie irgendetwas braucht, findet sie mich sicher.