So, hier der neue Teil
2. Kapitel – Ich steh auf dem Seil...
Ich knallte wieder einmal die Spindtür zu, wobei ich diesmal aber sorgfältig darauf achtete, den Schlüssel in der Hand zu behalten.
»Du hast mir immer noch nicht dein Geheimnis verraten«, sagte ich an Mike gewandt. Er zog die Augenbrauen hoch.
»Geheimnis?«
»Woher hattest du den Zweitschlüssel für meinen Spind?«
Er grinste.
»Ach, dieses Geheimnis meinst du. Ich dachte, du fragst endlich, warum mein Tanzstil so unwiderstehlich verführerisch ist oder wie ich...«
Ich stieß ihn in die Seite, damit er still war, musste aber auch lachen.
»Also?«, hakte ich trotzdem noch einmal nach.
Er schüttelte nur geheimnisvoll den Kopf.
»Das ist meine Sache.«
Ich verdrehte die Augen.
»Ich stelle schon noch meine Theorien auf«, drohte ich, »zum Beispiel, dass du ihn dem Hausmeister gestohlen hast oder dass du dir heimlich einen angefertigt hast, um in meinem Schrank wühlen zu können, oder...«
Er unterbrach mich mit schallendem Gelächter.
»Du kommst nie drauf«, grinste er.
»Ich gebe so schnell nicht auf«, warnte ich ihn, aber er schien das nicht ernst zu nehmen – wie bei allem, was ich ihm sagte.
Ich wollte noch etwas erwidern, aber als ich gerade ansetzte, umarmte mich Marco von hinten, küsste meinen Hals und nahm mir kurzfristig den Atem. Ich schnappte demonstrativ nach Luft und machte mich los – wenn auch nur, weil in diesem Moment mein Gesangslehrer um die Ecke kam, den Direktor der Universität an seiner Seite. Der Direktor war sicher nicht begeistert über Marcos Überschwang... Aber glücklicherweise schien er davon nichts mitbekommen zu haben.
Trotzdem schielte ich ihm vorsichtig nach, als er an mir vorbei ging. Mike folgte meinem Blick und lachte leise. Ich drehte mich zu ihm um und versuchte, ihn wütend anzusehen. Ja, ich versuchte es – gelungen war es mir noch nie, egal, wie wütend ich war. Ich besaß einfach nicht die Fähigkeit, mich über irgendwen sichtlich zu ärgern. Insgeheim regten mich viele Leute auf, aber gezeigt hatte ich es noch nie.
Mit einer Ausnahme: Auf der Bühne ging ich vollkommen aus mir heraus und war nicht mehr ich selbst. Sobald ich die harten Holzbretter einer Bühne unter meinen Füßen spürte, konnte ich jedes Gefühl zeigen, das verlangt war – und dabei auch alle anderen mitfühlen lassen.
Das war auch der Grund, warum ich das Stipendium bekommen hatte.
Ohne dieses Stipendium hätte ich nicht studieren können, weil das Geld fehlte. Ich war ein Einzelkind, und mein Vater hatte meine Mutter schon vor meiner Geburt verlassen. Im letzten Winter war meine Mutter einer schweren Lungenentzündung erlegen, weil sie darauf bestanden hatte, das wenige Geld nicht für Medizin ausgeben wollte, sondern nur für Nahrung und warme Kleider für mich. Kein Protest meinerseits hatte geholfen, und so war meine Mutter am 4. Januar dieses Jahres in unserer zugigen Dachwohnung gestorben.
Jetzt wohnte ich allein in der Wohnung und ging nach meinen Unterrichtsstunden arbeiten, um die Miete zu finanzieren.
»Hey!« Marco legte eine Hand auf meine Schulter und ich zuckte leicht zusammen.
»Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Typisch«, grinste Mike. »Kaum kommt Burger-King um die Ecke, ist sie im siebten Himmel...«
Burger-King war unser Name für Direktor Burger.
»Quatsch, das hat damit gar nichts zu tun!« Ich brachte es sogar fertig, Mike einigermaßen wütend anzufunkeln, aber der lachte nur und wich meinem gespielt zornigen Seitenhieb mit Leichtigkeit aus.
Zugegeben, unser Direktor war nicht der hässlichste, und für einen Direktor auch relativ jung. Es gab sicher viele junge Frauen an der Uni, die für ihn schwärmten – aber ich gehörte definitiv nicht dazu. Jedenfalls nicht mehr. Auch wenn Mike das nicht glaubte und mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufzog.
»Frau Meier?«, fragte jemand hinter mir.
Ich drehte mich um.
»Müller«, verbesserte ich genervt.
»Ach ja...« Mein Schauspielprofessor, Herr Allgaier, war immer schon sehr zerstreut gewesen, was Namen anging, und ich war natürlich sein bevorzugtes Opfer.
»Wo war ich gerade? Ach, richtig, ja, ich habe etwas für Sie... Was war das noch gleich? Ach ja...« Ich verdrehte die Augen, was er zum Glück nicht merkte. „Ach ja“ war sein Lieblingsausdruck, aber alle anderen Leute in seiner Umgebung trieb seine Zerstreutheit schnell in den Wahnsinn.
»Ach ja, richtig. Wissen Sie... Sie studieren doch auch Gesang und Tanz, oder?«
»Ja, Professor.«
»Ach ja... Schöne Disziplinen, eine gute Mischung. Damit können Sie fast überall eine Stellung bekommen – wo war ich noch gleich? Ach ja, genau: Ich habe eine Anfrage von einer bekannten Musicalproduktionsfirma bekommen, wie heißen die noch? Ach ja – nein, jetzt habe ich es doch vergessen. Ich werde noch einmal nachsehen, ich habe deren Brief auf meinen Schreibtisch liegen lassen. Oder doch im Aktenordner? Ich finde ihn schon, keine Sorge... Wo war ich? Ach ja: Diese Firma hat gefragt, ob ich jemanden wüsste – ich bin sehr gefragt in diesen Kreisen, müssen Sie wissen, schließlich bin ich ein anerkannter Professor. Wo war ich noch? Ach ja, richtig: Sie wollten wissen, ob ich jemanden für eine Musicalrolle wüsste, von welchem Stück noch gleich... Irgendwas von diesem Weber, nein Webber, oder wie hieß er noch... Ach ja: Andrew Lloyd Webber, das war sein Name. Der hat doch ein Musical geschrieben, nein, mehrere, welche noch? Ach ja: Relevant ist hier das Phantom der Oper. Er wollte wissen, ob ich eine junge, noch unbekannte Sopranistin kenne, für die Rolle der – wie heiß sie? Ach ja: Christine. Was sagen Sie dazu?«
»Wie bitte?«
Das Ende seines Sermons riss mich abrupt aus meinen Gedanken. Ich hatte kaum ein Wort verstanden.
Er setzte gerade zu einer ausführlichen Wiederholung an, als Marco mir die Zusammenfassung ins Ohr flüsterte.
Mich riss es hoch.
»Danke, ich habe verstanden... Das ist ja fantastisch! Wen suchen Sie da genau – könnte ich diese Rolle vielleicht bekommen, Professor?«, fragte ich begeistert.
»Dazu wollte ich gerade kommen«, erwiderte Professor Allgaier. »Ja, ich dachte – das heißt, ich habe gehofft, genauer gesagt, schließlich sind Sie die Beste Ihres Jahrgangs – wo war ich? Ach ja: Ich habe gedacht, nein, gehofft, dass Sie zu dem betreffenden Vorsingen gehen. Ich werde Ihnen die Unterlagen für die Bewerbung – in Ihrem Fall Anmeldung, schließlich geschieht es auf meine ausdrückliche Empfehlung – wo war ich? Ach ja: Ich werde Ihnen die Unterlagen bei Gelegenheit zukommen lassen. Einen schönen Tag noch, Frau Meier.«
Ich war zu perplex, als dass ich ihn noch einmal verbessert hätte. Vollkommen platt ließ ich mich gegen meinen Spind fallen und starrte Marco an.
»Was sagst du dazu?«
Er grinste breit übers ganze Gesicht.
»Das muss gefeiert werden, Süße! Ich lad dich zum Essen ein, was meinst du?«
Ich lächelte.
»Das wäre super! Aber bitte nichts zu Feines – du weißt ja, dass meine Garderobe nicht die eleganteste ist.«
»Kein Problem«, erwiderte er und küsste mich sanft auf die Stirn. »Ich finde schon was...«