Mich trägt mein Traum

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armandine
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 01.11.2017, 14:51:39

oh oh. Es wäre wohl besser, wenn sich alle Beteiligten etwas aus dem Weg gehen. Oder Annouk beiden eine klare Ansage macht. So etwas kann einen Arbeitsprozess sehr unangenehm für alle machen. Da hat die Arme ja einiges vor sich!

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Rappostion
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Rappostion » 07.11.2017, 16:03:24

schöne geschichte

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 09.11.2017, 20:55:29

Schön dass ihr fleißig mitlest :) Weiter geht's:

Die Probenzeit genoss ich sehr. Es war schön, mit Liam gemeinsam zur selben Arbeit zu gehen und zusammen zu arbeiten. Wir stellten fest, dass wir über genügend Professionalität verfügten, die unsere Beziehung in den Hintergrund rücken ließ, solange wir uns bei den Proben aufhielten. Im Gegenzug wurde sie, sobald wir die Probe verließen, noch verstärkt: es war, als würde sich durch das Unterlassen von Berührungen und Blicken oder Gesten eine Energie in uns aufstauen, die nach den langen Probentagen hervorbrach und sich entlud: an manchen Abenden konnte ich Liam stundenlang bei den banalsten Dingen beobachten, wie Fernsehen oder wenn er mit leicht gerunzelter Stirn in der Zeitung oder einem Buch las, und spürte dabei einen tiefen Frieden. Immer öfter dachte ich in diesen Momenten an unser Gespräch, das nun schon einige Monate zurücklag, in dem wir über Hochzeit und Kinder gesprochen hatten. Ich fragte mich, ob auch er weiter darüber nachdachte, wollte aber im Moment nicht die Sprache darauf bringen, da wir in einem gemeinsamen, etwas hektischen und aufregenden Engagement steckten. Ich wusste auch gar nicht, welche Erwartungen ich in dieser Sache an ihn hatte: war ich jemand, der einen romantischen Heiratsantrag erwartete? Da wir bereits so pragmatisch über alles gesprochen hatten, könnten wir auch genauso sachlich einen Termin ausmachen; andererseits lag in diesem letzten klassischen Werben doch ein gewisser, romantischer Reiz, der ja zu Liams Art perfekt passen würde.
Außerdem schaffte Liam es, mich immer noch zu überraschen: an jenem ersten Probentag hatte ich ihn, sobald er die Bühne betrat, kaum mehr wiedererkannt. Während Alexej als Graf immer etwas raubtierhaftes, hinterlistiges an sich hatte, der sich geschmeidig an Sarah heranpirschte, sie mit hypnotischen Blicken verführte und anschließend ganz egoistisch „verspeiste“, war Liam der große Verführer, der gar keine Versuche unternahm, hinterlistig zu wirken, sondern allein durch seine ausgelebte Macht und Dominanz irgendwie anziehend wirkte. Ich merkte erst im Laufe dieses ersten Tages, wie sehr er sich im Geiste auf die Rolle vorbereitet hatte – und vielleicht ja auch in unserem Studio, schließlich hatte er abends ausreichend Gelegenheit dazu, abgeschiedenen und ganz auf sich konzentriert bestimmte Bewegungsabläufe für sich zu finden und zu verfeinern. Auch stimmlich konnte er mich begeistern – vermutlich hatte die vorangegangene Unterhaltung mit Alexej dazu beigetragen, jedenfalls sang er so korrekt und inbrünstig, dass mich mehrmals schauderte. Als in einer kurzen Pause mehrere Kleinigkeiten auf dem langen Tisch im hinteren Hallenbereich serviert wurden, hängte ich mich bei ihm ein.
„Eins zu eins, würde ich sagen“, flüsterte ich ihm zu, und sein zufriedenes Gesicht sprach Bände.

Regelmäßige Schlagabtausche wurden zu einer Art Spiel zwischen Liam und Alexej, die ich nach einigen Tagen immer unbesorgter hinnahm. Diejenigen aus dem Ensemble, die eines dieser Gespräche mitbekamen, hielten es für belangloses Geplänkel zwischen zwei ebenbürtigen Kollegen. Einzig ich hatte weiterhin Hemmungen und ging Alexej aus dem Weg, obwohl mir mehrere Fragen auf der Zunge brannten: was war mit seiner Familie? Hatte er mich damals wirklich geliebt? Fühlte er sich auch so bedrängt wie ich? Aber da ich jeden Kontakt mied – der Probenplan kam mir dabei sehr gelegen – , erfuhr ich darauf keine Antwort.
Tatsächlich dauerte es bis zu unserem Umzug ins Theater, bis wir zum ersten Mal richtig in Kontakt traten. Auf diesen Tag hatte ich mich schon lange gefreut – es würde die erste Probe im Kostüm sein, ein lockerer Durchlauf, weshalb wir schon früh da waren, Liam sogar etwas eher als ich, da er für seine Maske einfach länger brauchte. Ich war höchst gespannt, ihn in voller Montur zu sehen. Die pudrigen Pinselstriche über mein Gesicht, der Geruch nach Stoff, Make-up und Kunsthaar versetzte mich in eine angenehme Schläfrigkeit, als ich meinerseits in der Maske saß. Bei den Anproben einige Monate zuvor hatte ich ja schon die Veränderungen hier und da an den Kostümen begutachten können; heute sah ich mich zum ersten Mal in dem neuen Nachthemd, das einiges an Schlichtheit eingebüßt hatte und dessen hochgeschlossener Mädchenkragen mich um Jahre jünger machte. Als ich das Endergebnis im Spiegel sah, musste ich erst einmal lachen: die mädchenhafte Sarah war ein krasser Kontrast zu meinen vorherigen Rollen – erst die elegante Christine, deren kiloschweres Make-up mich immer unangenehm gejuckt hatte, dann die abgerissene Fantine: beide Rollen schienen mir nun unwirklich und sehr weit weg, wenn ich dieses Sinnbild von Jugend und Unschuld im Spiegel sah.
„Das sieht doch sehr gut aus“, meinte Alina, die mich geschminkt hatte und nun alles säuberte und aufräumte.
„Ja, aber ungewohnt, irgendwie…“ Ich stand auf mit der Absicht, mein Kostüm zu vervollständigen und das rote Tuch zu holen, an dem ich mich nicht satt sehen konnte: die intensiven Rottöne und die nun stark hervorgehobenen Stickereien waren ein echter Blickfang.
Als ich zurück in die Garderobe kam, war Alina fort und Alexej da. Ich bemerkte ihn nicht sofort, weil ich beim Eintreten auf meine Füße sah und den Sitz der Schuhe überprüfte, die sich irgendwie unangenehm zu tragen anfühlten.
„Alina, kannst du vielleicht – Aah…!“ Ich blieb stehen, den Finger auf den Schuh gerichtet, und Alexej, der im Spiegel den Sitz seiner Perücke begutachtet hatte, blickte auf.
„Ah“, machte ich noch einmal und warf einen raschen Blick zurück auf die Tür. Hatte ich mich im Raum geirrt? Alexej richtete sich auf.
„Entschuldige, dass ich hier bin“, sagte er sehr förmlich, „ich hatte nur schnell etwas überprüfen wollen.“
„Ah. Ja, natürlich. Kein Problem. Hm.“ Ich starrte abwechselnd auf seine Stirn und seine Schuhe. „Tja, dann…“ Ich wollte mich zum Gehen wenden.
„Anouk.“ Er sprach leise, und ich blieb stehen und drehte mich um, vielleicht etwas zu hastig.
„Ja?“
„Wir sind schon so lange hier, und hatten noch gar keine Zeit zu Reden.“ Er sah ernst aus, aber nicht zu ernst, nur das spöttische Glitzern in seinen Augen war nicht zu entdecken.
„Reden“, wiederholte ich und zog das Tuch vor meiner Brust zusammen. „Klar. Worüber?“
Er seufzte. „Anouk, du gehst mir immer aus dem Weg.“
Ich starrte ihn einige Sekunden lang an. „Na ja“, erwiderte ich gedehnt, „es war schließlich alles nicht ganz einfach, vor ein paar Jahren… und Liam…“
Alexej winkte ab. „Der ist in Ordnung.“
Ich verkniff mir ein Grinsen. „Na, da bin ich ja erleichtert…“
„Im Ernst, Anouk.“ Er unterbrach sich, als im Gang Schritte ertönten; ich nestelte an meiner Frisur, er an seinem Kragen herum, bis sie vorbei waren. „Ich dachte ja, dass du zurückhaltend sein wirst, aber…“ Er schüttelte leicht den Kopf. Seine Stimme war gesenkt, damit zufällig Lauschende uns nicht hören würden. Ich stieß mit dem Fuß gegen die Türe, damit sie nicht mehr ganz offen stand.
„Ich wusste ja nicht, wie du reagierst“, versuchte ich zu erklären.
„Wieso, hast du gedacht, ich falle über dich her?“ Der Spott war wieder da, aber unangenehm anzuhören. „So wie vor ein paar Jahren?“
„Du weißt, dass ich nicht denke, dass es so war!“, fuhr ich hitzig auf. „Wir hatten das ja schon damals geklärt!“
„Ja. Entschuldige.“ Er setzte sich auf einen Stuhl und schlug die langen Beine übereinander.
Ich lehnte mich gegen die Wand.
„Ich war verunsichert, wegen Liam… er war damals so eifersüchtig. Wenn ich mit dir reden würde… ich wüsste nie, was er denkt. Ich hätte immer Angst, er sieht irgendwelche Gespenster.“
Alexej musterte mich stirnrunzelnd. „So?“ Er trommelte nachdenklich mit den Fingern auf der Stuhllehne herum. „Das denke ich nicht“, sagte er plötzlich.
„Was?“
Er sah mich eindringlich an, und um seinen Mundwinkel zuckte es. „So wie du ihn anbetest, kann er nicht mal auf den Gedanken kommen, dass du an andere denkst, Geschweige denn an mich.“
„Anbetest?“, echote ich. „Ich bete ihn nicht an!“ Gleichzeitig schoss mir das Blut in den Kopf. Alexej lachte leise, und ich bekam eine Gänsehaut.
„Oh ja, oh doch.“
Ich räusperte mich verlegen. „Danke für die Info“, sagte ich dann. „Ich werde versuchen, es zu lassen.“
„Ich finde es ganz süß“, entgegnete er unbefangen. Ich starrte ihn an und wand mich. Alexej stand auf.
„Ich denke, wir sollten-“
„Eine Frage noch“, fiel ich ihm ins Wort. Er blieb stehen. „Ja?“
Ich spürte, dass ich wieder rot wurde. „Also, ich dachte auch, dass… ich bin mir nie sicher, ob… hm…“
„Ja?“, sagte er erneut.
„Na ja, vor ein paar Jahren. Damals.“ Ich gab mir einen Ruck. „Hatte ich irgendwie den Eindruck, dass du mich… Also, ich fand dich irgendwie anziehend“, sagte ich bestimmt, „aber nicht mehr. Ich frage mich nur…“
„Ob ich verliebt war?“
„Also… ja.“
„Und es noch bin?“
„Jaah…“
Er schwieg eine Weile. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Als ich aufsah, blickte er nachdenklich aus dem Fenster.
„Nein“, sagte er schließlich bestimmt. „Vielleicht damals. Aber wir hatten so viel Abstand zwischen uns… meine Frau, und mein Sohn, verstehst du… Wir haben uns wieder einigen können.“ Ein stolzes Lächeln flog über sein Gesicht. „Ich habe jetzt noch eine kleine Tochter!“
„Oh, herzlichen Glückwunsch!“, sagte ich, während in mir alles vor Erleichterung zusammensackte. Er liebt mich nicht, er liebt mich nicht, dachte ich, während wir uns ansahen, erleichtert lächelten und dann beide loslachten, halb verlegen, halb belustigt.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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armandine
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 10.11.2017, 15:13:36

Wunderbar! Eine prima erwachsene Lösung!

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Gaefa
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 11.11.2017, 20:26:17

Ein schöner Teil. Es freut mich für die beiden, dass sie die Situation klären könnten und dass Alexej zu seiner Familie zurück gefunden hat!
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 28.11.2017, 16:24:47

Freut mich, dass es euch gefällt :) Weiter geht's:

Dass ich mich mit Alexej ausgesprochen und vertragen hatte, wollte ich Liam erst nach der Probe mitteilen. Wir waren beide aufgeregt, er besonders, weil es das erste Mal war, dass er sich wirklich im Gesamtbild bewähren musste. Außerdem bereitete ihm das Kunstblut große Probleme – als er es das erste Mal probiert hatte, hatte er den Geschmack keine zwei Sekunden aushalten können, und bei den ersten Proben, in denen er es nicht sofort wieder ausgespuckt hatte, dauerte es lange, bis er für sich den richtigen Trick raushatte, damit es wie ein echter Biss aussah. Am Ende dieses Tages hatte ich ihn nicht einmal mehr küssen wollen – selbst wenn es ein einseitiger Austausch von Körperflüssigkeit gewesen war, für mich reichte es.
Die erste Durchlaufprobe verlief allerdings sehr gut und pannenfrei. Ich hatte schon in den Proben feststellen können, dass ich die Gänge und Auftritte noch sehr gut im Kopf hatte und konnte mich so ganz auf meine Rolle konzentrieren. Ein wenig merkwürdig fand ich es noch, dass Liam und ich als echtes Paar spielten – nicht, weil ich Angst hatte, irgendwelche Privatismen könnten in unser Spiel hineingelesen werden, das würde sich vermutlich sowieso nie ganz vermeiden lassen, vor allem bei den romantisch veranlagten Fans. Aber die Rollenverteilung innerhalb der Krolock-Sarah-Beziehung – er als der dominante, sie als der schwache, sehnsüchtige Part – wirkte auf mich immer etwas befremdlich; wenn Liam auf meine Badewanne stieg, fühlte ich mich seltsam befangen, ohne einen wirklichen Grund zu haben. Sogar bei unserem Duett oder im Tanzsaal fühlte ich eine Scheu, die jedes Mal erst mit dem Ablegen des Kostüms von mir abfiel. Nach dem ersten Schreck darüber fand ich diese Empfindungen so interessant, dass ich mich jedes Mal aufs Neue auf eine Probe freute, in der sich mit diesen Verlagerungen in unserer Beziehung spielen konnte. Es zeigte ja nur, dass wir tatsächlich in der Lage waren, professionell zu bleiben.
Aber nicht nur deshalb erwartete ich die Premiere in kribbeliger Anspannung. Ich selber fühlte mich sicher, aber Liams Aufregung schien sich regelrecht auf mich zu übertragen: je weiter die Proben voran schritten, desto schweigsamer wurde er; nach jedem Interview oder Fototermin, die er alle mit Bravour absolvierte, verzog er sich in seine Garderobe, auf die Probebühne oder in den Orchestergraben. Am Morgen der ersten Preview stand er in aller Herrgottsfrühe auf, und ich fand keinen Schlaf mehr, weil er im Badezimmer mit der ganzen Palette Atem- und Stimmübungen begann. Ich wusste, was ihn bedrückte: nach dem Phantom war das nach langer Zeit die erste sehr beliebte Rolle, und er musste mir nicht sagen, dass er Angst hatte, erneut in den Augen der Zuschauer zu versagen.
Ich versuchte ihn aufzuheitern, ihn mit belanglosen Kommentaren abzulenken, aber er war ganz in Gedanken versunken.
„Ist der große Mann aufgeregt?“, fragte Alexej, als wir im Theater ankamen, und sah Liam hinterher, der in die Maske ging. Ich stieß ihn unsanft in die Rippen.
„Sag keinen Ton zu ihm, oder ich vergesse unsere Aussprache, ich schwöre es dir!“
Er hob abwehrend, aber immer noch grinsend die Hände. „Keine Sorge: für die Anfangszeit ist das Kriegsbeil begraben.“
Ich verdrehte die Augen, sagte aber nichts weiter zu diesem bescheuerten Spiel zwischen den beiden. Stattdessen vertrieb ich mir die Zeit auf der Bühne, wo ich mich vor der Geräuschkulisse der Techniker und Bühnenarbeiter ein wenig einsang, mit Arjen, der mich am Piano begleitete.
„Das wird schon gehen“, sagte Arjen, als wir beschlossen, unsere Kostüme anzuziehen.
„Für mich bin ich gar nicht aufgeregt“, erwiderte ich seufzend. „Aber Liam ist-“ Ich unterbrach mich, als ich lautes, näher kommendes Lachen hörte; im nächsten Augenblick betrat die quirlige Elena die Bühne, Liam im Schlepptau. Sie quasselte ohne Unterlass, irgendeine Anekdote, und Liam lachte erneut. Er war schon im Kostüm, nur die Perücke fehlte noch, wodurch sein Kopf eigenartig klein wirkte.
„Oh, hey!“ Elena strahlte mich an. „Seid ihr hier fertig? Liam und ich wollten uns nur noch eben einsingen, er will noch einmal das Duett durchgehen.“
Ich hob die Brauen und zuckte gleichgültig mit den Schultern, während mich ein Stich der Eifersucht durchfuhr, von der Stärke eines Elektroschocks. „Klar, kein Problem.“ Ich verbarg meinen analytischen Blick hinter einem ebenfalls offenen, kameradschaftlichen Lächeln: waren ihre Lippen röter als sonst? War da Scham in ihrem Blick? Waren ihre Wangen zu heiß? Aber sie sah aus, wie sie eben immer aussah: äußerst ausgelassen und positiv.
„Super.“ Elena schwang sich auf den Klavierhocker. „Okay, dann mal los.“
Ich warf Liam einen raschen Blick zu. „Bis später!“, sagte ich kühl. Er musterte mich mit einem überraschten Blick. „Ja, bis nachher.“
Ich folgte Arjen ins Off. Das letzte, das ich hörte, waren die ersten Takte des Duetts und Elenas Stimme, die die ersten Zeilen sang – etwas tiefer als ich.
„Okay, Arjen – bis nachher.“ Ich winkte ihm zu und ging rasch in meine Garderobe, wo ich die Türe extra laut zuschlug und mit der Faust auf den Tisch schlug. In mir brannte immer noch alles: Eifersucht, von solcher Heftigkeit, wie ich sie an mit nie zuvor erlebt hatte, ein Feuerball aus Neid, Angst und Unverständnis, der sich langsam auflöste und sein Gift in meine Venen spritzte. Weshalb probte Liam mit Elena und nicht mit mir? Sie war nur mein Cover, ich war die erste Sarah – seine Sarah! Und wieso verhielt er sich ihr gegenüber so fröhlich, während er sich mir verschlossen hatte und keine meiner Berührungen erwiderte? Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen, sprang aber im nächsten Moment wieder auf und lief unruhig im Zimmer herum. In meinen Augen brannten Tränen, und obwohl ich wusste, dass ich mich kleinlich benahm, wurde mir dennoch Angst und Bange. Ich dachte, dass ich gar keinen Grund hatte, mich dermaßen aufzuregen, und auch gar kein Recht, bedachte man die Sache mit Alexej. Das stürzte mich erneut in Verzweiflung: konnte Liam Alexejs Anwesenheit vielleicht doch nicht so gut ertragen, wie ich angenommen hatte? Oder – ich blieb abrupt stehen. Hatte Alexej doch irgendetwas erwähnt, irgendeinen Kommentar gemacht, der Liam zu sehr gekränkt hatte? Ich tigerte erneut auf und ab. Je mehr ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es mir. Ich riss die Garderobentüre auf und stapfte zu Alexej, der sich im Flur mit ein paar Ensemblemitgliedern aufhielt.
„Kommst du mal eben?“, fragte ich ihn eisig. Meine Stimme klang gepresst. Die anderen starrten mich besorgt an. Alexej sah sie an und hob die Schultern.
„Sicher“, sagte er und beeilte sich, mir zu folgen – in meiner Verwirrung und Wut raste ich bereits wieder ruhelos den Gang hinunter. „He, Anouk, alles klar? Ist was passiert?“, fragte er und schloss die Türe. Ich wirbelte zu ihm herum.
„Was hast du Liam gesagt?“
„Wie?“
„Du hast ihm irgendwas gesagt, irgendwas schlimmes. Wegen eurem bescheuerten Spiel oder wie ihr es nennt, dieses… ständige Provozieren! Du hast ihn beleidigt!“
Alexej wirkte vor den Kopf gestoßen. „Liam und ich verstehen uns sehr gut“, sagte er nach einer Weile, „besser, als du vielleicht glauben willst. Und ich würde ihn niemals absichtlich beleidigen“, fügte er gekränkt hinzu. „Ich kenne die Grenzen.“
„Schön“, schnaubte ich atemlos und starrte zu Boden. Alexej machte einen Schritt auf mich zu. „Was ist eigentlich los?“, fragte er.
„Liam singt sich mit Elena ein!“, sagte ich, lauter als beabsichtigt. Alexej wirkte maßlos irritiert. „Jaah“, sagte er gedehnt und sah sich um, als sei eine Erklärung an die Wände geschrieben, „und?“
„Mit ihr, nicht mit mir!“, sagte ich wütend und schlug mir die Hände vors Gesicht. „Tagelang redet er kaum mit mir, weil er aufgeregt ist – dachte ich! Und eben lacht er sich mit Elena halb tot und singt sich mit ihr ein, obwohl ich das gern gemacht hätte!“
Es war einige Sekunden still, dann begann Alexej zu lachen. Ich riss die Hände vom Gesicht. „Was ist so witzig?“
„Ich dachte nur gerade, dass du dich umsonst aufregst. Und dass deine Eifersucht ziemlich ironisch ist. Du weißt schon“, er wedelte mit der Hand zwischen sich und mir hin und her.
„Schon gut, schon gut!“ Ich setzte mich schwer atmend auf den Stuhl und dachte über seine Worte nach. „Umsonst aufregst – was bedeutet das?“
„Er liebt dich“, sagte er achselzuckend.
„Wow, toll. Ich liebe ihn auch, und trotzdem habe ich…“ Ich ahmte seine Handbewegung nach. Alexej rollte mit den Augen und kam näher. „Anouk“, sagte er feierlich und nahm tröstend meine Hand, „bitte zwing mich nicht, mehr zu sagen, außer das: ich weiß ganz sicher, dass er dich über alles liebt.“
Mehr zu sagen? Was gibt es denn dann noch mehr?“
„Kannst du mir das nicht einfach glauben?“
Ich sah Alexej an. Er sah ernst aus; ganz ungewohnt, denn wenn er sonst über Liam sprach, tat er es mit einem spöttischen kleinen Lächeln. Und wenn er es sagte, wo er einmal in mich verliebt gewesen war, musste es ja stimmen.
„Also, Elena und Liam…“
„…verstehen sich als Kollegen gut.“
„Ah.“ Ich ließ die Schultern sinken.
„Bist du zufrieden?“
„Hm.“ Ich verzog den Mund. „Vielleicht bin ich trotzdem noch sauer auf ihn. Er singt sich sonst immer mit mir ein.“
„Du bist aber auch kleinlich.“
„Ich liebe ihn halt auch.“ Mir schoss das Blut in die Wangen, als ich es so unverblümt zugab. Als ich aufsah, lächelte Alexej breit. Sofort wurde ich wieder misstrauisch.
„Was gibt’s da so zufrieden zu grinsen?“
„Ach, nichts weiter.“ Er drückte noch einmal meine Hand und ließ mich dann allein.

Ich war tatsächlich immer noch sauer auf Liam – und eher aus Prinzip eifersüchtig auf Elena, gegen die sich meine Wut aber in keiner Sekunde richtete. Als wir uns vor der Preview alle gegenseitig drückten und Toi toi toi wünschten, fiel das Ritual zwischen Liam und mir ziemlich kühl aus. Er sah mich fragend an, aber kindisch wie ich war, drehte ich ihm den Rücken zu.
Erneut erlebte ich, wie sich unsere Bühnen-Beziehung wandelte: heute war Anouk wütend und beleidigt, und Sarah wurde zielbewusster und frecher. Ich ließ den Wandel geschehen, denn ich wusste, dass es bedeutete, dass die Rolle von mir Besitz ergriff, so, wie ich es wollte. Bei unserem Duett stellte der Teil meines Gehirns, der immer noch nur Anouk gehörte, zufrieden fest, wie stark meine Stimme heute war und dass Liam dagegen halten musste.
Der Applaus der ersten Preview fiel nahezu frenetisch aus; für einige kostbare Minuten fiel alles von mir ab, und ich konnte nur grinsen, mich verbeugen, wieder grinsen. Trotzdem fiel mir noch rechtzeitig ein, dass ich ja sauer auf Liam war, ehe er es übersehen konnte.
„Ist irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte er, als ich seine innige Umarmung in der Garderobe nur sehr halbherzig erwiderte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja. Du hast dich heute mit Elena eingesungen, nicht mit mir.“ Je öfter ich es heute wiederholte, desto dümmer kamen mir meine Eifersuchts-Wehwehchen vor. Ich fuhr trotzdem fort. „Du hast sogar mit ihr gelacht.
„Du meine Güte!“, schnappte er erschrocken nach Luft und taumelte nach hinten. Ich versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter. „Lass das. Ich war wirklich eifersüchtig. Ich musste sogar Alexej um Hilfe bitten.“
Das versetzte ihm den erhofften Dämpfer, aber nur kurz. Dann lachte er, wie Alexej. Ohne auf mein Sträuben zu achten, zog er mich an sich.
„Du hast den ganzen Tag nicht mit mir geredet“, mauschelte ich an seiner Brust, „aber mit Elena singst du dich ein.“
„Hast du mal daran gedacht, dass ich mich so vorbereite?“, fragte er und strich mir über den Rücken.
„Vorbereiten?“
„Ja. Ich weiß auch nicht genau, wie ich es erklären soll… Auf der Bühne mit dir, da fühle ich so anders, verstehst du? Irgendwie emotional distanziert. Das war irgendwie in mir drin, und ich wollte es nicht abschütteln. Ich wollte vorbereitet sein.“
„Hm. Ich hoffe, du bist nicht jeden Tag emotional distanziert.“
Er lachte erneut. „Fühlt sich das hier denn so an?“
„Nein, eigentlich nicht“, gab ich zu. Ich löste mich von ihm und gab ihm einen Kuss. „Okay, ich bin nicht mehr sauer. Aber ich war wirklich, wirklich eifersüchtig“, gab ich beschämt zu. Er legte die Arme um mich. „Du weißt gar nicht, wie sehr mich das erleichtert“, erwiderte er.
Was ich rette, geht zu Grund
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 28.11.2017, 16:26:34

Freut mich, dass es euch gefällt :) Weiter geht's:

Dass ich mich mit Alexej ausgesprochen und vertragen hatte, wollte ich Liam erst nach der Probe mitteilen. Wir waren beide aufgeregt, er besonders, weil es das erste Mal war, dass er sich wirklich im Gesamtbild bewähren musste. Außerdem bereitete ihm das Kunstblut große Probleme – als er es das erste Mal probiert hatte, hatte er den Geschmack keine zwei Sekunden aushalten können, und bei den ersten Proben, in denen er es nicht sofort wieder ausgespuckt hatte, dauerte es lange, bis er für sich den richtigen Trick raushatte, damit es wie ein echter Biss aussah. Am Ende dieses Tages hatte ich ihn nicht einmal mehr küssen wollen – selbst wenn es ein einseitiger Austausch von Körperflüssigkeit gewesen war, für mich reichte es.
Die erste Durchlaufprobe verlief allerdings sehr gut und pannenfrei. Ich hatte schon in den Proben feststellen können, dass ich die Gänge und Auftritte noch sehr gut im Kopf hatte und konnte mich so ganz auf meine Rolle konzentrieren. Ein wenig merkwürdig fand ich es noch, dass Liam und ich als echtes Paar spielten – nicht, weil ich Angst hatte, irgendwelche Privatismen könnten in unser Spiel hineingelesen werden, das würde sich vermutlich sowieso nie ganz vermeiden lassen, vor allem bei den romantisch veranlagten Fans. Aber die Rollenverteilung innerhalb der Krolock-Sarah-Beziehung – er als der dominante, sie als der schwache, sehnsüchtige Part – wirkte auf mich immer etwas befremdlich; wenn Liam auf meine Badewanne stieg, fühlte ich mich seltsam befangen, ohne einen wirklichen Grund zu haben. Sogar bei unserem Duett oder im Tanzsaal fühlte ich eine Scheu, die jedes Mal erst mit dem Ablegen des Kostüms von mir abfiel. Nach dem ersten Schreck darüber fand ich diese Empfindungen so interessant, dass ich mich jedes Mal aufs Neue auf eine Probe freute, in der sich mit diesen Verlagerungen in unserer Beziehung spielen konnte. Es zeigte ja nur, dass wir tatsächlich in der Lage waren, professionell zu bleiben.
Aber nicht nur deshalb erwartete ich die Premiere in kribbeliger Anspannung. Ich selber fühlte mich sicher, aber Liams Aufregung schien sich regelrecht auf mich zu übertragen: je weiter die Proben voran schritten, desto schweigsamer wurde er; nach jedem Interview oder Fototermin, die er alle mit Bravour absolvierte, verzog er sich in seine Garderobe, auf die Probebühne oder in den Orchestergraben. Am Morgen der ersten Preview stand er in aller Herrgottsfrühe auf, und ich fand keinen Schlaf mehr, weil er im Badezimmer mit der ganzen Palette Atem- und Stimmübungen begann. Ich wusste, was ihn bedrückte: nach dem Phantom war das nach langer Zeit die erste sehr beliebte Rolle, und er musste mir nicht sagen, dass er Angst hatte, erneut in den Augen der Zuschauer zu versagen.
Ich versuchte ihn aufzuheitern, ihn mit belanglosen Kommentaren abzulenken, aber er war ganz in Gedanken versunken.
„Ist der große Mann aufgeregt?“, fragte Alexej, als wir im Theater ankamen, und sah Liam hinterher, der in die Maske ging. Ich stieß ihn unsanft in die Rippen.
„Sag keinen Ton zu ihm, oder ich vergesse unsere Aussprache, ich schwöre es dir!“
Er hob abwehrend, aber immer noch grinsend die Hände. „Keine Sorge: für die Anfangszeit ist das Kriegsbeil begraben.“
Ich verdrehte die Augen, sagte aber nichts weiter zu diesem bescheuerten Spiel zwischen den beiden. Stattdessen vertrieb ich mir die Zeit auf der Bühne, wo ich mich vor der Geräuschkulisse der Techniker und Bühnenarbeiter ein wenig einsang, mit Arjen, der mich am Piano begleitete.
„Das wird schon gehen“, sagte Arjen, als wir beschlossen, unsere Kostüme anzuziehen.
„Für mich bin ich gar nicht aufgeregt“, erwiderte ich seufzend. „Aber Liam ist-“ Ich unterbrach mich, als ich lautes, näher kommendes Lachen hörte; im nächsten Augenblick betrat die quirlige Elena die Bühne, Liam im Schlepptau. Sie quasselte ohne Unterlass, irgendeine Anekdote, und Liam lachte erneut. Er war schon im Kostüm, nur die Perücke fehlte noch, wodurch sein Kopf eigenartig klein wirkte.
„Oh, hey!“ Elena strahlte mich an. „Seid ihr hier fertig? Liam und ich wollten uns nur noch eben einsingen, er will noch einmal das Duett durchgehen.“
Ich hob die Brauen und zuckte gleichgültig mit den Schultern, während mich ein Stich der Eifersucht durchfuhr, von der Stärke eines Elektroschocks. „Klar, kein Problem.“ Ich verbarg meinen analytischen Blick hinter einem ebenfalls offenen, kameradschaftlichen Lächeln: waren ihre Lippen röter als sonst? War da Scham in ihrem Blick? Waren ihre Wangen zu heiß? Aber sie sah aus, wie sie eben immer aussah: äußerst ausgelassen und positiv.
„Super.“ Elena schwang sich auf den Klavierhocker. „Okay, dann mal los.“
Ich warf Liam einen raschen Blick zu. „Bis später!“, sagte ich kühl. Er musterte mich mit einem überraschten Blick. „Ja, bis nachher.“
Ich folgte Arjen ins Off. Das letzte, das ich hörte, waren die ersten Takte des Duetts und Elenas Stimme, die die ersten Zeilen sang – etwas tiefer als ich.
„Okay, Arjen – bis nachher.“ Ich winkte ihm zu und ging rasch in meine Garderobe, wo ich die Türe extra laut zuschlug und mit der Faust auf den Tisch schlug. In mir brannte immer noch alles: Eifersucht, von solcher Heftigkeit, wie ich sie an mit nie zuvor erlebt hatte, ein Feuerball aus Neid, Angst und Unverständnis, der sich langsam auflöste und sein Gift in meine Venen spritzte. Weshalb probte Liam mit Elena und nicht mit mir? Sie war nur mein Cover, ich war die erste Sarah – seine Sarah! Und wieso verhielt er sich ihr gegenüber so fröhlich, während er sich mir verschlossen hatte und keine meiner Berührungen erwiderte? Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen, sprang aber im nächsten Moment wieder auf und lief unruhig im Zimmer herum. In meinen Augen brannten Tränen, und obwohl ich wusste, dass ich mich kleinlich benahm, wurde mir dennoch Angst und Bange. Ich dachte, dass ich gar keinen Grund hatte, mich dermaßen aufzuregen, und auch gar kein Recht, bedachte man die Sache mit Alexej. Das stürzte mich erneut in Verzweiflung: konnte Liam Alexejs Anwesenheit vielleicht doch nicht so gut ertragen, wie ich angenommen hatte? Oder – ich blieb abrupt stehen. Hatte Alexej doch irgendetwas erwähnt, irgendeinen Kommentar gemacht, der Liam zu sehr gekränkt hatte? Ich tigerte erneut auf und ab. Je mehr ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es mir. Ich riss die Garderobentüre auf und stapfte zu Alexej, der sich im Flur mit ein paar Ensemblemitgliedern aufhielt.
„Kommst du mal eben?“, fragte ich ihn eisig. Meine Stimme klang gepresst. Die anderen starrten mich besorgt an. Alexej sah sie an und hob die Schultern.
„Sicher“, sagte er und beeilte sich, mir zu folgen – in meiner Verwirrung und Wut raste ich bereits wieder ruhelos den Gang hinunter. „He, Anouk, alles klar? Ist was passiert?“, fragte er und schloss die Türe. Ich wirbelte zu ihm herum.
„Was hast du Liam gesagt?“
„Wie?“
„Du hast ihm irgendwas gesagt, irgendwas schlimmes. Wegen eurem bescheuerten Spiel oder wie ihr es nennt, dieses… ständige Provozieren! Du hast ihn beleidigt!“
Alexej wirkte vor den Kopf gestoßen. „Liam und ich verstehen uns sehr gut“, sagte er nach einer Weile, „besser, als du vielleicht glauben willst. Und ich würde ihn niemals absichtlich beleidigen“, fügte er gekränkt hinzu. „Ich kenne die Grenzen.“
„Schön“, schnaubte ich atemlos und starrte zu Boden. Alexej machte einen Schritt auf mich zu. „Was ist eigentlich los?“, fragte er.
„Liam singt sich mit Elena ein!“, sagte ich, lauter als beabsichtigt. Alexej wirkte maßlos irritiert. „Jaah“, sagte er gedehnt und sah sich um, als sei eine Erklärung an die Wände geschrieben, „und?“
„Mit ihr, nicht mit mir!“, sagte ich wütend und schlug mir die Hände vors Gesicht. „Tagelang redet er kaum mit mir, weil er aufgeregt ist – dachte ich! Und eben lacht er sich mit Elena halb tot und singt sich mit ihr ein, obwohl ich das gern gemacht hätte!“
Es war einige Sekunden still, dann begann Alexej zu lachen. Ich riss die Hände vom Gesicht. „Was ist so witzig?“
„Ich dachte nur gerade, dass du dich umsonst aufregst. Und dass deine Eifersucht ziemlich ironisch ist. Du weißt schon“, er wedelte mit der Hand zwischen sich und mir hin und her.
„Schon gut, schon gut!“ Ich setzte mich schwer atmend auf den Stuhl und dachte über seine Worte nach. „Umsonst aufregst – was bedeutet das?“
„Er liebt dich“, sagte er achselzuckend.
„Wow, toll. Ich liebe ihn auch, und trotzdem habe ich…“ Ich ahmte seine Handbewegung nach. Alexej rollte mit den Augen und kam näher. „Anouk“, sagte er feierlich und nahm tröstend meine Hand, „bitte zwing mich nicht, mehr zu sagen, außer das: ich weiß ganz sicher, dass er dich über alles liebt.“
Mehr zu sagen? Was gibt es denn dann noch mehr?“
„Kannst du mir das nicht einfach glauben?“
Ich sah Alexej an. Er sah ernst aus; ganz ungewohnt, denn wenn er sonst über Liam sprach, tat er es mit einem spöttischen kleinen Lächeln. Und wenn er es sagte, wo er einmal in mich verliebt gewesen war, musste es ja stimmen.
„Also, Elena und Liam…“
„…verstehen sich als Kollegen gut.“
„Ah.“ Ich ließ die Schultern sinken.
„Bist du zufrieden?“
„Hm.“ Ich verzog den Mund. „Vielleicht bin ich trotzdem noch sauer auf ihn. Er singt sich sonst immer mit mir ein.“
„Du bist aber auch kleinlich.“
„Ich liebe ihn halt auch.“ Mir schoss das Blut in die Wangen, als ich es so unverblümt zugab. Als ich aufsah, lächelte Alexej breit. Sofort wurde ich wieder misstrauisch.
„Was gibt’s da so zufrieden zu grinsen?“
„Ach, nichts weiter.“ Er drückte noch einmal meine Hand und ließ mich dann allein.

Ich war tatsächlich immer noch sauer auf Liam – und eher aus Prinzip eifersüchtig auf Elena, gegen die sich meine Wut aber in keiner Sekunde richtete. Als wir uns vor der Preview alle gegenseitig drückten und Toi toi toi wünschten, fiel das Ritual zwischen Liam und mir ziemlich kühl aus. Er sah mich fragend an, aber kindisch wie ich war, drehte ich ihm den Rücken zu.
Erneut erlebte ich, wie sich unsere Bühnen-Beziehung wandelte: heute war Anouk wütend und beleidigt, und Sarah wurde zielbewusster und frecher. Ich ließ den Wandel geschehen, denn ich wusste, dass es bedeutete, dass die Rolle von mir Besitz ergriff, so, wie ich es wollte. Bei unserem Duett stellte der Teil meines Gehirns, der immer noch nur Anouk gehörte, zufrieden fest, wie stark meine Stimme heute war und dass Liam dagegen halten musste.
Der Applaus der ersten Preview fiel nahezu frenetisch aus; für einige kostbare Minuten fiel alles von mir ab, und ich konnte nur grinsen, mich verbeugen, wieder grinsen. Trotzdem fiel mir noch rechtzeitig ein, dass ich ja sauer auf Liam war, ehe er es übersehen konnte.
„Ist irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte er, als ich seine innige Umarmung in der Garderobe nur sehr halbherzig erwiderte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja. Du hast dich heute mit Elena eingesungen, nicht mit mir.“ Je öfter ich es heute wiederholte, desto dümmer kamen mir meine Eifersuchts-Wehwehchen vor. Ich fuhr trotzdem fort. „Du hast sogar mit ihr gelacht.
„Du meine Güte!“, schnappte er erschrocken nach Luft und taumelte nach hinten. Ich versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter. „Lass das. Ich war wirklich eifersüchtig. Ich musste sogar Alexej um Hilfe bitten.“
Das versetzte ihm den erhofften Dämpfer, aber nur kurz. Dann lachte er, wie Alexej. Ohne auf mein Sträuben zu achten, zog er mich an sich.
„Du hast den ganzen Tag nicht mit mir geredet“, mauschelte ich an seiner Brust, „aber mit Elena singst du dich ein.“
„Hast du mal daran gedacht, dass ich mich so vorbereite?“, fragte er und strich mir über den Rücken.
„Vorbereiten?“
„Ja. Ich weiß auch nicht genau, wie ich es erklären soll… Auf der Bühne mit dir, da fühle ich so anders, verstehst du? Irgendwie emotional distanziert. Das war irgendwie in mir drin, und ich wollte es nicht abschütteln. Ich wollte vorbereitet sein.“
„Hm. Ich hoffe, du bist nicht jeden Tag emotional distanziert.“
Er lachte erneut. „Fühlt sich das hier denn so an?“
„Nein, eigentlich nicht“, gab ich zu. Ich löste mich von ihm und gab ihm einen Kuss. „Okay, ich bin nicht mehr sauer. Aber ich war wirklich, wirklich eifersüchtig“, gab ich beschämt zu. Er legte die Arme um mich. „Du weißt gar nicht, wie sehr mich das erleichtert“, erwiderte er.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 28.11.2017, 20:47:29

Ein schöner Teil. Trotzdem hätte einmal genügt ;)
Ich bin sehr gespannt, was Alexej mit seinen Andeutungen gemeint hat. Lass uns nicht zu lange warten.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 29.11.2017, 09:03:41

ich fand den Teil auch sehr lebendig. Nur eines: Sänger singen Sachen in den seltensten Fällen tiefer, auch wenn es natürlich Ausnahmen gibt. Meistens klingt das nur so wegen einer dunkleren Stimmfarbe.

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 29.11.2017, 14:48:23

Gaefa hat geschrieben:Ein schöner Teil. Trotzdem hätte einmal genügt ;)

Ups :lol: Hab ich gar nicht bemerkt :shock:

armandine hat geschrieben: Nur eines: Sänger singen Sachen in den seltensten Fällen tiefer, auch wenn es natürlich Ausnahmen gibt. Meistens klingt das nur so wegen einer dunkleren Stimmfarbe.
Das wollte ich damit sagen, hab mich wohl ungünstig ausgedrückt ;)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 08.12.2017, 17:14:28

Hier geht es mit einem Teil weiter, den ich schon sehr lange schreiben und einstellen wollte. Viel Spaß!

„Und ihr könnt es wirklich nicht einrichten?“ Ich versuchte, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, aber meine Mutter am anderen Ende der Leitung konnte ich trotzdem nicht täuschen.
„Es tut mir wirklich leid, aber dieser Termin ist für meinen Freund so wichtig!“
„Okay. Na gut. Nicht so schlimm.“ Ich knibbelte verdrießlich an einem Stück Tapete. Meine Mutter hatte mir soeben eröffnet, dass sie die Premiere am nächsten Abend nun doch nicht besuchen würde, weil ihr Freund irgendeinen Geschäftstermin hatte, und ohne ihn wollte sie nicht so weit weg fahren.
„Soll ich euch schon neue Karten reservieren? Vielleicht kann ich ja umbuchen oder so…“
„Nein, nein, lass das mal – ich glaube außerdem, Liam hat das schon gemacht.“
„Liam?“
„Ja, ich habe schon heute Morgen mit ihm gesprochen, du warst nicht da.“
„Stimmt, ich war einkaufen.“ Ich seufzte noch einmal. Es war wie verhext: erst gestern Abend hatte mein Vater angerufen und mich von unserer Verabredung am Bahnhof entbunden, wo ich ihn abholen wollte: er sei noch nicht sicher, ob er es schaffen würde, weil es einen Wasserschaden im Haus gab und er die Vermieter erwartete. Ich hoffte, wenigstens er würde es trotzdem doch noch schaffen – ich hatte ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.
„Also, Schatz, ich wünsche dir alles Gute morgen. Wir sehen uns bald, das verspreche ich!“
„Ist gut. Bis dann!“ Ich legte auf und sah aus dem Fenster. Außer meinen Eltern hatten sich für die Premiere keine Bekannten oder Verwandten angesagt. Meine Aufregung sank rapide.
„Hey, alles in Ordnung?“, fragte Liam. Ich legte das Telefon auf den Tisch. „Meine Mutter musste für die Premiere absagen.“
„Ach. Wie schade“, murmelte Liam abwesend. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Dann würde ich meine Familie eben ein anderes Mal wiedersehen…

Nach der letzten Preview herrschte ausgelassene Stimmung. Wir saßen noch eine Weile zusammen, plauderten über die Shows und vergangene sowie zukünftige Engagements. Kurz nach Mitternacht stand ich müde auf und streckte mich.
„Wollen wir gehen?“, fragte ich an Liam gewandt. Arjen sprang auf. „Bist du müde? Soll ich dich fahren?“, fragte er.
„Äh…“ Ich blickte verwirrt zwischen ihm und Liam hin und her. „Ich weiß nicht… ich kann auch noch was bleiben, wenn ihr…“
„Schon okay.“ Liam nahm meine Hand. „Ich komme gleich nach, ich helfe Leo nur noch mit diesen Bewerbungen.“ Er deutete auf seinen Sitznachbarn, ein Ensemble-Mitglied, mit dem er schon seit einer Weile über einem Stapel Papiere brütete.
„Na gut“, murmelte ich und nahm Arjens Angebot an, der mich daraufhin in halsbrecherischer Geschwindigkeit nach Hause fuhr. Ich ging sofort zu Bett und schlief schnell ein. Liams Kommen weckte mich kurz auf.
„Wie spät ist es?“, murmelte ich.
„Gleich drei“, antwortete er leise und legte einen Arm um mich.
„Warst du so lange noch im Theater?“
„Ist wohl etwas ausschweifend geworden“, sagte er. „Schlaf jetzt.“
„Sagt der Richtige“, murmelte ich, schlief aber fast sofort wieder ein. In meinen Träumen entwickelten sich die Gedanken, die ich im Wachen zu denken zu müde gewesen war: eine Uhr, die auf drei stand, und immer wieder das in später Nacht zusammensitzende Ensemble, das vertraulich die Köpfe zusammensteckte.

Ich schlief beinahe bis Mittag. Als ich mich verschlafen umdrehte, war die Bettseite neben mir schon leer. Obwohl später heimgekommen, schien Liam schon seit Stunden auf: ich fand ihn fertig angezogen in der Küche, wo er mir ein spätes Frühstück warm hielt.
„Bist du aufgeregt?“, fragte ich, während er mir Rührei auf den Teller schaufelte. Der Löffel zitterte in seiner Hand.
„Nicht so sehr wie sonst“, antwortete er. „Die Previews haben mich etwas beruhigt.“
„Ah“, machte ich, nicht sehr überzeugt. Anscheinend versuchte er, sich nicht zu nervös zu zeigen, um mich nicht aufzuregen. Lieb von ihm.
Nach dem Frühstück lagerte Liam unsere Abendgarderobe im Kofferraum. Erneut hatte er mich in tiefes Staunen versetzt, als er darauf beharrte, dass ich mein brandneues Abendkleid tragen sollte, dass ich für die Premiere als zu elegant empfand: schließlich handelte es sich nur um eine Tourproduktion eines Stückes, in dem ich schon einmal gespielt hatte. Der steife, petrolfarbene Stoff, das eng anliegende Oberteil und der weich fallende Rock mit ausgestellten Volants an der Hüfte wäre für einen Galaabend oder ein elegantes Konzert angemessener gewesen.
„Aber du hast es noch nie getragen!“, insistierte Liam und nahm das Kleid vom Bügel. „Ich will, dass du die Schönste bist.“
„Ich dachte, für dich bin ich das immer?“, sagte ich belustigt und etwas irritiert ob seiner Hartnäckigkeit. Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Stimmt. Und besonders in diesem Kleid.“
Ich gab seufzend auf.

Am frühen Nachmittag unternahmen wir einen Bummel durch die Stadt, um uns abzulenken. Die vielen Werbeschilder mit dem charakteristischen Vampirgebiss machten diesen Plan jedoch zunichte: jedes Mal, wenn mein Blick darauf fiel, hüpfte mein Bauch unangenehm, und Liams Finger, die meine hielten, zuckten nervös. Schließlich setzten wir uns in ein kleines Café. Ich aß ein Stück trockenen Kuchen und trank stilles Wasser; ich vermied es generell, vor Vorstellungen schwere Sachen zu essen oder Milchspeisen zu mir zu nehmen, vor Premieren war ich in diesen Dingen aber sehr pedantisch.
Liam bestellte sich nichts; während ich aß, starrte er aus dem Fenster. Er sah blass aus und wirkte abwesend. Als ich seine Hand nahm, zuckte er zusammen. Ich lächelte ihm zu, und eine Woge der Zuneigung durchlief mich. „Wollen wir langsam ins Theater?“
Er lächelte schwach zurück. „Vielleicht ist das am besten.“
Wir fuhren schweigsam; ab und zu huschte Liams Blick zu mir und musterte mich wachsam. Ich hatte ihn noch nie so nervös erlebt.
Am Theater nahmen wir unsere Abendgarderobe – er seinen Anzug, ich das schwere Kleid - und gingen durch den Bühneneingang, wobei wir vorsorglich den Blick auf den premierengerecht geschmückten Haupteingang vermieden.
Drinnen wurden wir überschwänglich begrüßt; besonders Liam wurde mit vielen Handschlägen, Schulterboxern und aufmunternden Worten empfangen. Erstaunt stellte ich fest, dass wir beinahe die letzten waren; das ganze Ensemble war schon da, und der Garderobenbereich summte wie ein Bienenschwarm. Leo kam auf Liam zu.
„Liam, gut, dass du da bist, kommst du mal eben?“
Mir schien, dass Liam bei seinem Anblick noch ein wenig blasser wurde. „Ja, ich komme“, sagte er schnell. Ich wollte hinterher trotten, aber Alexej fing mich geschickt ab.
„Na, wie geht es uns heute? Alles wieder im Lot?“
„Ich habe mich wieder beruhigt.“ Ich reckte den Hals, um nach Liam zu sehen, aber er war schon fort. „Aber Liam ist ziemlich außer sich. Hab ihn noch nie so aufgeregt erlebt.“
Alexej grinste schief. „Tja, jeder hat so seine Schwächen.“
„Hör auf zu sticheln und nimm mir lieber dieses Kleid ab. Es wiegt mindestens eine Tonne.“
Alexej legte sich das in einer weißen Plastikhülle steckende Kleid über den Arm. „Ich hoffe, es ist was Schickes.“
Ich blieb stehen. „Ja, ist es, sehr sogar. Was habt ihr nur alle mit meinem Kleid? Liam hat mich regelrecht gezwungen, es anzuziehen. Bin ich euch sonst zu langweilig gekleidet?“
„Du bist immer sehr gut gekleidet. Aber heute ist die Premiere.“
„Ja, das meinte Liam auch…“, murmelte ich.
In meiner Garderobe zog ich mich nicht direkt um. Ich schaltete das Radio ein und begann, meine Haare hochzustecken, als die Türe aufging.
„Oh nein, Anouk, nein, nein, nein!“ Alina, meine Maskenbildnerin, stürmte herein und riss mir regelrecht die Klammern aus den Fingern.
„Was ist denn los?“, fragte ich erschrocken. Sie wies anklagend auf meinen Kopf. „Du kannst unmöglich deine Haare so tragen!“
„Äh – ich trage doch eh eine Perücke!“
„Ja, aber nachher nicht.“
„Nachher?“
„Bei der Premierenfeier!“ Sie löste mit raschen Fingern die von mir so sorgfältig weggeklammerten Strähnen, bis sie mir wieder lose auf die Schultern fielen. „Ich denke, ich mache das.“
„Können wir meine Haare nicht nachher einfach ein bisschen aufstecken?“, murrte ich.
„Nachher wird vielleicht keine Zeit mehr sein!“, sagte sie tadelnd. „Leg den Kopf zurück und entspann dich ein bisschen, ich werde dich auch direkt schminken.“
„Hier?“, fragte ich überrascht.
„Ja, ich habe alles dabei. Na los, halt den Kopf gerade.“
Seufzend gab ich nach. Mit geschlossenen Augen spürte ich ihren Fingern nach, die mit flinken Bewegungen über meine Kopfhaut strichen, Strähne um Strähne abteilten, ab und an eine Klammer in mein Haar schoben und anschließend sorgfältig mein Make-up auflegten. Als ich die Augen wieder öffnete, riss ich erstaunt den Mund auf. „Alina, das sieht ja umwerfend aus!“, rief ich. Sie lächelte zufrieden. „Ja, nicht wahr?“
Sie hatte meine Haare in zwei Strängen um meinen Kopf geflochten; die beiden Zöpfe liefen hinter meinen Ohren zu einem kleinen Knoten zusammen, den sie nun platt drückte und mit Klammern fixierte.
„Damit die Perücke nicht absteht“, erklärte sie. „Wenn du sie nachher abnimmst, ziehst du die und die hier“, sie tippte auf zwei lange Spangen, „einfach raus und zupft den Knoten etwas zurecht. Die hier“, sie zeigte auf die beiden Zöpfe, „habe ich sehr eng geflochten, damit alles richtig sitzt. Du kannst sie lockern, indem du mit den Fingerspitzen darunter greifst, so sieht alles etwas fülliger und lieblicher aus.“ Sie zog mir das Haarnetz über. Als sie die Perücke von dem kleinen Wagen nahm, auf dem alle ihre Utensilien lagen, streifte ihr Blick die Kleiderhülle. „Wirst du heute etwas Elegantes tragen?“, fragte sie.
„Jaah“, seufzte ich und warf ihr einen prüfenden Blick zu, aber sie war ganz darauf konzentriert, meine Perücke richtig anzupassen.

Ich streifte ruhelos durch die Gänge. Schon zwei Mal hatte ich die Bühne betreten und in den Zuschauerraum geblickt. Den Anblick von leeren Sitzreihen hatte ich schon immer als sehr ästhetisch und beruhigend empfunden; die Symmetrie, in der es trotzdem immer etwas zu sehen gab.
Heute war ein merkwürdiger Tag. All das Gerde um mein Kleid, die ständigen kleinen Manöver von Ensemblemitgliedern… Ich empfand die Stimmung als sehr geheimnisvoll, aber wahrscheinlich spielte mir meine Fantasie einen Streich: dass die typische Aufregung fehlte, musste nichts bedeuten; jedes Ensemble war nun einmal anders. Ich kehrte den Sitzreihen den Rücken zu und ging zurück ins Off mit der vagen Absicht, Liam zu sehen. Ich wusste nicht, ob er mich sehen oder lieber seine Ruhe haben wollte, trotzdem wollte ich ihn kurz sprechen, vielleicht umarmen.
Die Tür zu seiner Garderobe war nur angelehnt. Ich wollte sie gerade aufstoßen, als ich seine Stimme hörte – so angespannt, dass ich erschrocken auf der Stelle verharrte.
„…wenn es zu groß aufgezogen ist?“ Er klang gedämpft, als spräche er mit vor dem Gesicht zusammengeschlagenen Händen.
„Unsinn.“ Das war – mir blieb fast die Luft weg – Alexejs Stimme.
„Oder zu früh?“
„Ich hab dir doch erzählt, wie es ist. Es ist genau richtig“, erwiderte Alexej tröstend. Tröstend – ich konnte es kaum glauben. Mit einer lauten Bewegung stieß ich die Türe auf.
„Was ist richtig?“
Liam und Alexej fuhren beide von ihren Stühlen auf. Ich hob die Hände.
„Ich bin’s nur.“
Liam fuhr sich durchs Haar und lächelte fahrig. „Entschuldige. Ich war nur… die Aufregung…“
„Verstehe.“ Ich kam näher und musterte ihn. Seine Wangen waren gerötet. „Geht’s dir gut?“
„Er ist wirklich aufgeregt“, sagte Alexej. Ich wandte mich ihm zu. „Und du bist da, um ihn zu beruhigen?“, sagte ich mehr als skeptisch. Alexej grinste. „Nein. Ich weide mich an seiner Unsicherheit“, konterte er und schlug Liam auf die Schulter. „Bleib ganz ruhig. Du machst schon alles richtig, und wenn nicht“, er bebte vor unterdrücktem Lachen, „springe ich eben für dich ein.“
„Warte lieber, bis du deine Shows bekommst“, sagte ich mit dem Gefühl, irgendeinen Witz verpasst und daraufhin einen nur halb passenden Kommentar gemacht zu haben. Alexej winkte uns zu und verließ den Raum. Ich wandte mich Liam zu, der wieder sehr blass war. Mitfühlend rieb ich ihm die Schulter. „Das wird super. Die Previews waren doch toll! Kein Grund zur Aufregung – das hast du selbst gesagt!“
„Ja. Stimmt.“
Ich beugte mich zu ihm und gab ihm einen leichten Kuss auf die Lippen. „Ich lasse dich jetzt allein, in Ordnung? Wir sehen uns auf der Bühne.“
„Ja. Bis gleich.“
Ich verließ die Garderobe und lehnte mich gegen die kühle Wand. Vom Ende des Ganges her warfen mir einige Kollegen prüfende Blicke zu. Ich hatte falsch gelegen – es war nicht bloß ein Gefühl. Es lag tatsächlich etwas Geheimnisvolles in der Luft.
Irgendetwas war im Gange – ich wusste nur nicht, was.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 11.12.2017, 21:27:40

lass mich raten - ein Heiratsantrag? coole Folge!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 12.12.2017, 20:26:55

Ich schließe mich der Vermutung an und hoffe, dass es nicht zu groß aufgezogen ist für Anouk. Bitte bitte lass uns noch dieses Jahr wissen, wie es weitergeht, das ist gerade richtig spannend.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 21.12.2017, 12:30:11

Der letzte Teil für dieses Jahr - viel Vergnügen.

Selbst für eine Premiere war das Publikum heute besonders frenetisch. Ich vermutete den ein oder anderen Fanclub in den Sitzreihen und genoss den Jubel, der nach jedem Song herüber schwappte. Ich glaubte, auch Liam nach und nach auftauen zu sehen, und jubelte ihm hinter der Bühne stumm zu, als er den ersten Akt mit einem phänomenalen letzten Ton beendete. Als er an mir vorbeiging, streifte er mich mit einem Lächeln, das durch und durch verschlagen wirkte, und ich lachte beinahe laut los, denn dieser feixende Vampir hatte rein gar nichts mehr mit Liam gemein – wenigstens während der ersten Pausenminuten. Als wir in Aufstellung für den zweiten Akt gingen, wirkte er schon wieder sehr beherrscht. „Hey, bis jetzt ist doch alles super gelaufen!“, wisperte ich ihm zu, ehe Arjen ihm zugrinste. „Viel Glück“, meinte er, und nicht wenige Kollegen schlossen sich an, auch Alexej.
„Viel Glück? Seit wann wünscht man sich das auch vor dem zweiten Akt? Und nur einem Darsteller?“
Um Alexejs Mundwinkel zuckte es. „Darf man nicht alten Schauspielritualen nachgehen?“, fragte er mit einer Unschuld, die nicht zu seinem Gesichtsausdruck passte. Da aber in diesem Augenblick das Orchester losspielte, konnte ich nicht weiter nachfragen.
Das Duett sang Liam heute besonders inbrünstig. Ich hatte das Gefühl eines plötzlichen Bruchs in seiner Rolle – hinter der Schminke und den Zähnen sah ich immer nur ihn, nicht den Vampir, wie es sonst war. Besonders, als Sarah seine Hand ergriff, war es mir, als sänge er mehr zu Anouk denn zu Sarah, so ungewohnt sanft und ernst. Und sobald er mich unter seinem Umhang ins Off geführt hatte, zog er sich wieder zurück und verfolgte anscheinend gespannt das Geschehen. Ein wenig ärgerlich, aber wegen der Premierenstimmung auch zu aufgekratzt, um wirklich wütend zu werden, wartete ich ungeduldig das Ende des Abends ab – ich hatte das eindeutige Gefühl, dem allgegenwärtigen Geheimnis immer näher zu kommen, und mein Magen machte eilige Sprünge, ohne dass ich wusste, ob und was mir bevorstand.
Vor der Tanzsaalszene gab es eine kleine Panne: ich stand bereist im roten Ballkleid, aber die roten Handschuhe waren unauffindbar.
„Ich schaue nach, ob sie irgendwo anders hingeraten sind“, wisperte Alina mir zu und verschwand – ohne wiederzukommen. Das Fehlen der Handschuhe wird schon keinen stören, dachte ich, ich hatte sie ohnehin nie richtig gemocht. Also lief ich mit nackten Armen in den Tanzsaal, ließ mich beißen, herumtragen, tanzte ein wenig, floh, wurde zum Vampir – und hatte es tatsächlich hinter mich gebracht. Im Zuschauerraum brandete Applaus auf, so laut und donnernd, dass ich grinsen musste. Ich warf meinen Kollegen einen begeisterten Blick zu, ganz kribbelig vor Erleichterung.
„Hier“, murmelte mir jemand zu und reichte mir von hinten ein Taschentuch.
„Was soll ich damit?“, fragte ich und starrte Arjen an, der sich an mir vorbeischob, um in die richtige Applaus-Ordnung zu kommen.
„Wisch dir das Blut mal ab.“
Ich sah an mir herunter – das meiste hatte ich schon leidlich abgewischt, aber einige unübersehbare Schlieren getrockneter Farbe zogen sich immer noch über mein Dekollete – und sicher auch um meine Lippen. Verdattert starrte ich ihn an. „Aber – wieso?“
Draußen kamen die ersten Darsteller auf, und er wurde ungeduldig. „Mach einfach. – Warte, hier“, er führte meine Hand mit dem Taschentuch zu meinem Kinn und schrubbte darüber, „und da.“ Er zeigte auf die Seite meines Halses. Zu irritiert, um weiter Widerstand zu leisten, folgte ich seinen Anweisungen, und als ich noch mit dem zerfledderten, nun rötlichen Tuch in der Hand überlegte, wohin ich es auf die Schnelle werfen sollte, nahm es mir auch schon jemand von den Bühnenarbeitern ab und warf es weg, und in letzter Sekunde lief ich aus dem Off auf die Bühne, um meinen Applaus entgegenzunehmen. Der fiel so triumphal aus, dass ich meine Verwirrung schlagartig vergaß und mit einem breiten Lächeln in einem tiefen Knicks versank, ehe ich den anderen Platz machte. Als Liam als letzter auf die Bühne trat, fiel ich in den frenetischen Applaus ein. Seine Hand drückte meine kurz, als wir in einer Reihe standen und uns verbeugten, mehrmals, ehe die üblichen Blumensträuße verschenkt wurden. Ich nahm meinen entgegen und war kurz damit beschäftigt, ihn mit so unter den Arm zu klemmen, dass ich trotzdem noch die Hände meiner Kollegen ergreifen konnte, und in diesen Sekunden der Unaufmerksamkeit trat das Ensemble gesammelt zurück und in den Hintergrund. Ich bemerkte es erst, als ich aufsah und mich ziemlich einsam fühlte – meine Blicke nach rechts und links bestätigten mir, dass ich tatsächlich ganz alleine auf der Bühne stand – allein, bis auf Liam, der gerade aus dem Off zurückkam, einen schwarzen Gegenstand in der Hand. Auf den zweiten Blick sah ich, dass es ein Mikrophon war, und mit erneuter Verspätung bemerkte ich, dass es im Zuschauersaal plötzlich sehr still war – wie auf ein geheimes Zeichen hin waren alle Besucher in Schweigen verfallen, das nicht ganz vollkommen war – ab und an hörte man ein Rascheln, ein Murmeln, und überall gespanntes Kichern. Ich starrte Liam an, der langsam auf mich zukam, und kam mir unbeholfen vor, wie ich da wie bestellt und nicht abgeholt mit den in Plastik eingepackten Blumen stand. Liam hob das Mikro, und ich sah, wie seine Hände zitterten, wie eine Schweißperle sich von seiner Schläfe löste und über seine Wange rann, wie seine Augen unruhig zu mir flackerten, und gleichzeitig spürte ich meine Füße, die nicht mehr fest mit dem Boden verankert schienen, und mein Herz, das einen eigentümlichen Rhythmus schlug – erst ganz langsam, dann immer schneller, und wieder langsam. Ich warf einen raschen Blick zum Ensemble, das sich ordentlich im Hintergrund aufgestellt hatte – Koukol winkte mir zu, und alle grinsten in gespannter Erwartung.
„Anouk.“ Liams Stimme lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Er stand viel näher, ich hatte nicht bemerkt, dass er sich genähert hatte. Seine Stimme klang brüchig.
„Was ist hier los?“, flüsterte ich aus dem Mundwinkel, aber er hob die zittrige Hand.
„Anouk, ich bin sehr nervös, bitte lass mich einfach reden, in Ordnung?“ Es klang schlapp. Ich nickte stumm, und Liams Brust spannte sich, als er einen tiefen Atemzug nahm.
„Anouk, wir sind nun schon über sechs Jahre zusammen, und jetzt, da wir gemeinsam in deinem Lieblingsmusical spielen, wollte ich die Gelegenheit nicht verstreichen lassen und dich fragen…“ Er fingerte in seiner Weste herum, zog etwas heraus – sein Gebiss – , murmelte unwirsch, steckte es zurück und zog beim zweiten Versuch eine kleine, schwarze Schatulle heraus. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Liam trat näher, sodass ich zu ihm aufsehen musste, und ließ das Kästchen aufschnappen, in dem ein Ring steckte.
„…ob du mich heiraten willst?“ Er sprach ganz leise und ohne das Mikro, aber im Zuschauerraum blieb es mucksmäuschenstill. Ich starrte ihn an und sah die Angst in seinen Augen, und plötzlich ergab alles einen Sinn – Alexejs Anmerkungen, sein vertrauliches Gespräch mit Liam, die Manöver meiner Kollegen… Ich musste mich mehrmals lautlos räuspern, ehe ich ein leises „Ja“ herausbrachte, und Liam sackte in sich zusammen und schloss mich in die Arme, und aus allen Richtungen brandete Applaus auf – das Orchester spielte irgendeine Schnulze, die ich im Moment nicht erkennen konnte. Sogar die angeblich verschwundenen Handschuhe machten jetzt Sinn, als Liam mir den Ring an den Finger schob, der mir wie angegossen passte.
„Hab ich angepasst, als du geschlafen hast“, flüsterte er mir ins Ohr und wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln. Dann kamen meine Kollegen, die sich gar nicht einigen konnten, wer uns zuerst in die Arme schloss.
„Ach, und schau mal-“ Liam drehte mich an den Schultern herum, sodass ich in den vom Saallicht erhellten Zuschauerraum blicken konnte. Ich musste zwei Mal hinsehen und mich verwirrt fragen, warum mir da so viele Menschen zuwinkten und –jubelten, ehe ich immer mehr von ihnen erkannte: ganz vorne, mit völlig aufgelöstem Gesicht, meine Mutter und ihr Freund – mein Vater – einige Verwandten – Freunde und Kollegen – Marius – Sarah – sogar Bertelin! Und eine Horde zumeist weiblicher Fans, die mehrere selbst gebastelte Pappherzen hochhielten – Liams und mein Fanclub.
„Sind das… nur Privatgäste?“, stammelte ich.
„Oh ja. Naja, nicht alle“, er wies auf den gefüllten Zuschauerraum, „so viele Leute kennen nicht mal wir beide zusammen… Aber deine Familie… meine… Freunde aus Deutschland und England… Kollegen… Fanclubs… da kommen schon einige zusammen! Außerdem können wir ja nicht allen die Premiere verweigern, schließlich müssen Tickets verkauft werden…“
Hinter der Bühne konnte ich kaum zur Ruhe kommen: Alina steckte mich in mein Abendkleid und richtete mir noch einmal meine Haare. Danach wurden mir schon die ersten Geschenke übergeben, Fotos wollten gemacht werden: Liam und ich posierten eine gefühlte Ewigkeit mit den Armen voller Blumen und Geschenke in allen möglichen Kombinationen mit unseren Kollegen. Ich wollte nach draußen zu meiner Familie, gleichzeitig genoss ich aber auch die Aufmerksamkeit und feierliche Stimmung meiner Kollegen. Die meisten von ihnen warfen sich ebenfalls in lockere bis schicke Kleidung, um an der Feier teilzunehmen.
„Wo geht es jetzt eigentlich weiter?“, fragte ich. „Da ich mich so in Schale werfen musste, wird ja bestimmt noch etwas folgen?“
„Oh ja“, sagte Liam, dessen Arm seit meinem Jawort wie festgeschweißt um meine Mitte lag, „Wir feiern hier!“
„Hier?“
„Ja, während des zweiten Aktes wurde das Foyer extra für uns hergerichtet.“
Wir schafften es, uns von unseren Kollegen zu lösen, und begaben uns ins Foyer. Dort waren mehrere Stehtische und ein Buffett angerichtet, alles dekoriert mit kleinen, dunkelroten Herzen, die einfach überall verstreut waren: auf den weißen Tischtüchern, zwischen den Gerichten, im Besteckkorb.
Ich hatte allerdings kaum Zeit, irgendetwas zu mir zu nehmen, denn es wurde ohne Unterlass gratuliert, und es waren sehr viele Leute da. Erst, als es schon tiefe Nacht war, gelang es Liam und mir, uns zurückzuziehen: wir schlichen uns in die Loge und schauten von oben auf die leere Bühne.
„Schöner hätte unsere Verlobung nicht gefeiert werden können“, sagte ich und schaute auf den Ring. Er war sehr schlicht, mit einem kleinen Stein in der Mitte.
„Dann ist mir die Überraschung gelungen?“
„Und wie!“, versicherte ich ihm und verschränkte meine Finger mit seinen. „Einen Antrag zu bekommen, wenn man seine Lieblingsrolle spielt… Wahnsinn! Wie lange hast du das schon geplant?“
„Seit einer Ewigkeit!“, lachte er. „Du bist ziemlich leicht hinters Licht zu führen. Hast du wirklich nichts gemerkt?“
„Erst in den letzten Tagen“, gab ich zu, etwas verschämt, tatsächlich so blind gewesen zu sein. „Aber ich dachte meistens, die Aufregung wäre wegen der Premiere.“
„Daran, dass Premiere ist, habe ich heute kaum gedacht.“ Er nahm meine Hand und drehte sie so, dass wir beide den Ring ansehen konnten.
„Aber warum denn?“, fragte ich leise. „Ich hätte doch niemals Nein gesagt.“
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 22.12.2017, 15:06:53

Ein toller, spannender, emotionaler und rührender Teil - wundervoll. Ich hab die ganze Zeit mitgefiebert. Es hat ja eigentlich nur der klassische Kniefall gefehlt ;) Ich freu mich sehr für die beiden und bin gespannt wie es im nächsten Jahr weitergeht. Danke, dass du uns weiterhin mit so tollen Fortsetzungen versorgst!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 05.01.2018, 15:16:38

Sorry, habe über die Feiertage das Antworten vergessen :-). Schöner Teil, ich freue mich schon über die Fortsetzung im neuen Jahr!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 27.01.2018, 13:00:01

Schön, dass die Entwicklung euch gefällt. Die nächsten Teile werden wohl die letzten sein, zumindest in dieser Geschichten-Reihe. Für Anouk geht mir langsam die Puste aus, und ich habe das Gefühl, schon alles erzählt zu haben. Eine Folgegeschichte, in der Anouk und Liam aber auch noch ihre Auftritte haben, gibt es schon; mal sehen, ob und wie ich sie einstelle. Bis dahin aber erst mal viel Spaß beim Lesen :)

Ich hielt die Augen fest geschlossen und versuchte, meine Aufregung im Zaum zu halten, indem ich mit der Handfläche unablässig über den weichen Samt des Garderobenvorhangs strich, während Annika, die freundlich-resolute Inhaberin des Brautmodengeschäftes, mit ruckenden Bewegungen die Korsage enger schnürte. In diesem Moment erschien mir der Unterschied zu einer normalen Kostümanprobe verschwindend gering.
„Alles klar, Frau Steger, dann mal los.“ Sie drapierte ein letztes Mal den Rock um meine Füße und hielt den Vorhang zur Seite, sodass ich aus der Kabine in den Innenraum des Geschäftes treten konnte. Das blasse Januarlicht strahlte die ganz in Beige und Weiß gehaltene Einrichtung an und blendete mich, während ich raschelnden Schrittes auf den runden Hocker zulief, darauf stieg und mich meiner Mutter präsentierte.
„Das wäre dann Modell vier“, verkündete Annika optimistisch. „Weite A-Linie, schulterfreie Korsage, bestickt mit echten Swarowski-Steinen; klassisch-elegant.“
Ich fand, ich hatte nun lange genug gewartet; mit einer leichten Drehung wandte ich mich dem Wandspiegel zu und betrachtete mich eingehend. Das erste, was mir auffiel, waren die großzügig angebrachten, viel zu glitzernden Steine.
„Nein“, sagte ich entschieden, „nein, nein. Zu überladen.“ Ich hob den Rock an und stieg vom Hocker. Meine Mutter lehnte sich zurück und blickte zur Zimmerdecke, als wäre dort das richtige Kleid zu finden.
„Ich denke, ich würde nun doch etwas schlichteres probieren“, schloss ich aus dieser vierten missglückten Anprobe.
„Etwas schlichtes, sicher. Ich denke, ich habe da etwas, das Ihnen gefallen wird“, erwiderte Annika in ihrer unendlich optimistischen Verkäuferinnen-Natur, während sie mich in die Kabine begleitete und ihrer Assistentin im Vorbeigehen Kleidernummern zuraunte, die sie ihr bringen sollte. Ich schloss erneut die Augen und ließ mich von Annikas geschickten Fingern aus dem Kleid schälen.
Es war Anfang Januar, und die Hochzeitsvorbereitungen liefen auf Hochtouren.
Während sich so dastand und von Stoffen und Bändern durchgerüttelt wurde, konnte ich wieder kaum fassen, wie schnell die Zeit vergangen war. Als hätte mit dem Antrag eine neue Zeitrechnung begonnen, war Vorstellung um Vorstellung an mir vorbeigerauscht, waren Menschen vorübergezogen, hatten Feste begonnen und geendet, und inmitten all dieser Hast hatten Liam und ich Gästelisten geschrieben, Einladungen ausgesucht, ein Datum festgelegt, passende Restaurants getestet, zwischen England und Deutschland gependelt und über die Zukunft gesprochen – Flitterwochen, Wohnsitz, Kinder.
Kinder… mein Magen krampfte sich zusammen, und mit einem leisen Zipp rutschte der Reißverschluss nach oben.
„Na, also!“, sagte Annika und musterte mich prüfend. „Ein bisschen eng, aber wenn du weiter den Bauch einziehst, dürfte es zum Ansehen passen.“ Sie hielt den Vorhang auf und riss mich erbarmungslos aus meinen gerade beginnenden Tagträumen von Stubenwägen, Schnullern und Windeln. Ich trat erneut auf den Hocker. Sofort fiel mir auf, wie angenehm leicht sich der Stoff des Kleides diesmal anfühlte, wie angenehm der Kragen an meinem Hals kitzelte. Ich sah in den Spiegel.
„Leichte A-Linie“, begann Annika leise ihre Litanei, „kurze Ärmel, Kellerfalten, U-Boot-Ausschnitt…“
Ich spürte, dass ich lächelte, über die kleinen, feinen Details, die dieses sonst langweilige Kleid zu einer perfekten Robe machten: die tiefen, Wellen schlagenden Falten, die sich zum Saum hin glätteten; der kleine, spitze Ausschnitt, der dem U-Boot-Kragen das Hochgeschlossene nahm, die kleinen Raffungen an der Taille. Keine Schnürung, bloß ein Reißverschluss und angenähte Perlenknöpfe. Ich drehte mich halb; der Rückenausschnitt war nicht zu tief.
„Sehr schön“, sagte ich kurz angebunden, weil meine Baby-Visionen nun von Hochzeits-Visionen abgelöst wurden, und zwar von der ganz bestimmten Szene, in der ich den Kirchengang hinab lief. In diesem Kleid bekam die Vorstellung einen besonderen Schliff.
„Ich hole mal den Haarschmuck“, sagte Annika mit einem wissenden Lächeln und reichte meiner Mutter im Vorbeigehen eine neue Packung Taschentücher. Ich hatte mich vehement gegen einen Schleier gewehrt, weil ich darin einfach altbacken aussah; stattdessen steckte Annika mir den favorisierten Haarschmuck ins Haar.
„Oh, Anouk!“, schluchzte meine Mutter vom Sofa aus und schnaubte laut in ein Taschentuch. „Du siehst einfach perfekt aus… Wenn Liam dich jetzt sehen könnte…“
„Ja“, sagte ich, schon angesteckt von ihren Tränen. „Ich denke, dieses Kleid werde ich nehmen“, wandte ich mich an Annika, die mir als letzten Schliff noch eine feine Perlenkette umlegte. Ich wandte mich erneut dem Spiegel zu, und wieder krümmte sich mein Magen in freudiger Erregung zusammen.

Als ich nach Hause kam, erwartete Liam mich ungeduldig auf dem Sofa sitzend. Zu Hause – das war nun nicht mehr nur unser Haus in London, sondern auch noch ein winziges Appartement in Stuttgart, kaum größer als eine Schuhschachtel und gerade ausreichend für uns zwei. Nach der Verlobung hatte nämlich relativ schnell festgestanden, dass wir mit einem Wohnsitz nicht mehr auskommen würden – Liam teilte sich nach der Vampire-Spielzeit mit einem Kollegen die Titelrolle in Jekyll & Hyde, während ich nur noch zwei Konzerte in Essen und Oberhausen gegeben hatte, ehe ich mich ganz unseren Zukunftsplänen widmete. Die Entscheidung war mir nicht schwer gefallen – nach den letzten aufregenden Jahren fühlte ich, dass eine Pause mehr als willkommen war, sollte sie auch länger ausfallen, als zunächst gedacht.
Als ich nun das Wohnzimmer betrat, sah Liam auf.
„Und, fündig geworden?“, fragte er. Ich setzte mich neben ihn.
„Ja!“, strahlte ich.
„Verrätst du mir, wie es aussieht?“
Ich lachte. „Keine Chance! Da bin ich altmodisch. Obwohl – die Farbe könnte ich dir vielleicht sagen.“
Er verdrehte die Augen. „Wie witzig.“ Er drückte mich an sich. Dann fiel sein Blick auf die Einkaufstüten, die halb unter den herabhängenden Jacken am Kleiderständer versteckt standen; nicht ganz zufällig. Misstrauisch beugte er sich vor.
„Was hast du denn da wieder gekauft?“, fragte er.
„Öhm, nichts besonderes. Nur das nötigste“, erwiderte ich und versteckte mich hastig hinter der Fernsehzeitschrift, als Liam hinüberging und nach der ersten, ebenfalls strategisch platzierten Schicht aus unschuldigen Alltagsdingen wie Äpfeln, neuen Geschirrtüchern und Küchenkrepp einen gelben Strampler und ein Doppelpack Spucktücher zog. Er seufzte.
„Wenn du so weitermachst“, sagte er und kam mit den Sachen herüber, „wirst du keine Babyparty mehr veranstalten können. Du hast ja schon alles. Oh nein, warte“, er schlug sich übertrieben erschrocken gegen den Kopf, „alles außer einem Baby!“
„Sehr freundlich, mich darauf hinzuweisen.“ Ich beugte mich zu ihm und faltete den Strampler auseinander. „Sieh es dir doch an!“, sagte ich, „so winzig! Und dieser kleine Bär hier drauf…“ Ich war hingerissen.
Er nahm mir das Teil wieder ab und legte es mit den Spucktüchern zu einem ordentlichen Stapel zusammen. „Ich bring’s rauf in die Truhe“, sagte er resigniert – die Truhe war das Synonym für die riesige, schon halb gefüllte Kiste an (um ehrlich zu sein) bisher noch recht unnötigen Babyutensilien: weder war ich schwanger noch stand dieses Ereignis unmittelbar bevor. Aber seit Liam und ich beschlossen hatten, nach unserer Hochzeit Ende März die ersten Versuche zu starten, hatte mich ein regelrechter Wahn gepackt: ich konnte nicht mehr an Säuglingskleidung vorbeigehen. Bei Einkäufen verschaffte ich mir regelmäßig einen Überblick über die Auswahl an Babynahrung. Ich kaufte ständig Anziehsachen, Tücher, Schnuller, Söckchen. Im Kopf stellte ich Listen und Pläne auf: ein Babybett, eine Wickelkommode, kleine Schränkchen – alles in Weiß, bitte, und wie würden wir wohl die Wände im leeren Gästezimmer in London streichen? Wollte ich lieber ein Mädchen oder einen Jungen? Würden wir ihn oder sie zweisprachig erziehen? Wie dachte Liam darüber? Und welche Namen gefielen mir? Liams Aufregung hatte sich nach dem Entschluss, tatsächlich Eltern werden zu wollen, schon nach einigen Tagen wieder so weit beruhigt, dass er dem Ganzen gelassen entgegensah, ich jedoch konnte meine Neugierde und Ängste über die Zeit einer möglichen Schwangerschaft kaum im Zaum halten. Und was, wenn es nicht klappen sollte?
„Du siehst aus, als ob du schon wieder über alles nachgrübelst.“ Liam stand auf, streckte sich und zog mich hoch. „Heute Abend nehme ich dich mit. Du brauchst dringend Abwechslung; ich werde der Crew sagen, sie sollen dir irgendwelche Aufgaben übertragen.“
„Ich bin doch ganz entspannt!“, protestierte ich nicht ganz wahrheitsgemäß. Liam ließ keine Widerrede zu. „Jekyll und Hyde“, sagte er bestimmt, „heute Abend. Da kommen bestimmt keine Grübeleien auf.“

Als ich dann am Abend im Zuschauerraum saß, etwas zu weit am Rand, sodass ich mich vorbeugen musste, um Liam richtig beobachten zu können, schweiften meine Gedanken nur selten ab – meistens dann, wenn Liam gerade nicht auf der Bühne stand. Liam – mein Verlobter. Bei dem Wort kribbelten meine Fingerspitzen, und der schmale Ring an meiner Linken schien mehrere verheißungsvolle Kilo zu wiegen. Ich dachte an mein Brautkleid, an die bevorstehende zweite Anprobe und die Hochzeitsfeier, die zwar schon so gut wie fertig geplant war, uns aber trotzdem immer wieder in Nervosität versetzte. Dann und wann geisterten die Echos von Kolleginnen und Freundinnen durch meinen Kopf, die zu Schauspielmüttern ganz eigene Meinungen hatten, obwohl kaum eine selber Kinder hatte: die einen rieten mir, noch zu warten, denn sobald das Kind da sei, sei die Karriere gegen einen Alltag aus Windeln und Spucke eingetauscht. Andere sagten, es habe schon viele gegeben, die beides geschafft hatten, und die dritten erwiderten, ja, aber zu welchem Preis? Verschrobene Sprösslinge, Einzelgänger, blass vom ständigen Spielen und Warten im Theater, Sonderlinge, die sich mit Tschechow, Schiller und sämtlichen Musicalstücken auskannten, aber vom normalen Alltag keinen Plan hatten. Ich hatte mir angewöhnt, bei solchen Kommentaren auf Durchzug zu schalten: ich hatte den festen Plan, ein Baby zu bekommen und dann zu sehen, wie es mir damit ging, wie ich würde arbeiten können. Denn das stand so fest für mich wie nichts anderes sonst: zu singen, zu spielen hatte ich gelernt; einen Ruf hatte ich mir aufgebaut; Theater, Bühnen und Musik würde es ewig geben, aber ein Baby, ein eigenes Kind, eine kleine Familie, das hatte nicht ewig Zeit.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 31.01.2018, 12:17:01

Das klingt ja wirklich schon sehr ernsthaft :-). Gefällt mir wieder gut. Ich hoffe, dass du uns noch die Hochzeit gönnst. Und auf eine Nachfolgegeschichte würde ich mich auch sehr freuen!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 01.02.2018, 12:52:40

Schade, dass du die Geschichte beenden möchtest, aber ich freue mich natürlich auf ein neues Projekt!
Der Teil gefällt mir wieder gut. Hochzeitsvorbereitungen und Kinderpläne, hach wie schön für die beiden. Anouk Einstellung zum Babywunsch ist toll, auch wenn man sich vorher kaum vorstellen kann, wie sehr so ein kleiner Mensch das eigene Leben umkrempelt, dann wird manches anders, schwerer und man kommt zu einigen Dingen nur, wenn das Kind schläft (inklusive Antworten zu neuen Teilen deiner Geschichte schreiben ;)) - aber was macht einen glücklicher als ein Kinderlachen? Ich bin gespannt, wie weit wir Anouk und Liam noch begleiten dürfen und in wieweit sie in der nächsten Geschichte erscheinen.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 05.03.2018, 15:32:13

Der nächste und wahrscheinlich vorletzte Teil (inkl. Deus ex machina - sorry!!)

28. März
Wenn ich die Augen schloss, konnte ich glatt vergessen, in unserer Mäuse-Wohnung zu sitzen, die durch die Ansammlung von Blumen, Geschenken, Kleidungsstücken und dem Extra-Tisch für Frisier- und Schminkutensilien noch gedrückter wirkte. So wie es roch und sich anfühlte, könnte ich auch in einer Garderobe oder einem Friseursalon sitzen – nach Puder, süßlichem Lippenstift, staubigem Lidschatten und einer Menge Haarspray.
Dass das ein Fehler war, wurde mir zwei Sekunden später bewusst, als die kalten Hände meiner Mutter sich besorgt abwechselnd auf meine Stirn und in meinen Nacken legten. Ich fuhr zusammen und riss die Augen auf.
„Mama!“, rief ich, und Alina, die heute für Frisur und Make-up der Braut verantwortlich war, stieß einen unterdrückten Tadel aus.
„Tut mir leid, tut mir leid!“ Sie zog schnell die Hände zurück. „Ich wollte nur… es sah so aus als ob irgendetwas ist! Bist du müde? Schwindlig?“
„Nein…“
„Schlecht? Willst du etwas trinken? Soll ich ein Fenster aufmachen?“
„Nein, wirklich, ich wollte nur kurz die Augen zumachen. Alles ist in Ordnung. Ehrlich. Bitte setz dich doch.“ Ich sah sie durch den Spiegel an, wie sie in heller Aufregung vor dem riesigen Spiegel stand, der auf der Schreibtischplatte gegen die Wand gelehnt stand. Im Hintergrund die bewundernswerte Kulisse: gegeneinander geschobene Sessel, ein überladener Wohnzimmertisch, und statt Vorhängen in Klarsichthüllen gewickelte Kleider und Anzüge. Ich seufzte leise, und wieder starrte meine Mutter misstrauisch herüber.
„Mama, mir fällt grade ein“, ich überschlug die Möglichkeiten, die mir blieben, um wenigstens für fünf Minuten Ruhe zu haben, „irgendwo muss dieses Strumpfband sein, ein blaues. Kannst du es für mich suchen?“
Alina flocht weiter still meine Haare, aber ihr Blick zuckte kurz zu mir.
„Wo hast du es denn hin getan?“, fragte meine Mutter mit leisem Tadel.
„Oh, vielleicht im Schlafzimmer? Da steht allerdings einiges rum, also Vorsicht!“ Ich sah ihr nach, wie sie im angrenzenden Zimmer verschwand, dann lehnte ich mich entspannt zurück und schloss selig die Augen.
„Dein Strumpfband ist hier, du sitzt drauf“, sagte Alina gedämpft.
„Ja, aber sie macht mich noch wahnsinnig“, erwiderte ich ebenso leise. „Wie sieht es aus, sind wir noch in der Zeit?“
„Alles in Ordnung. Ich bin gleich fertig. Bleib ganz entspannt.“
„Das bin ich ja“, sagte ich – eine überraschende Wahrheit: ich war vermutlich nie entspannter gewesen als an diesem Tag, dem Tag meiner Hochzeit. Das lag vielleicht, oder eher: sehr wahrscheinlich, an den besonderen Umständen, wie Liam es immer dramatisch flüsterte. Unwillkürlich musste ich lächeln und zurückdenken an den Tag Anfang Februar, an dem uns aufgegangen war, dass niemand, der so schusselig war wie ich zuweilen, seine Zukunft akkurat planen konnte.
Die Wahl meines Brautkleides lag gerade eine Woche zurück, als ich auf dem Klo saß und ganz schwindlig im Kopf wurde, als sich herausstellte, dass ich nicht unter einem hartnäckigen Magen-Darm-Virus oder nervositätsbedingtem Erbrechen litt, und es brauchte nicht einmal einen Arzt, um mir das zu sagen, sondern bloß zwei schmale, blaue Striche auf einem Plastiktest aus der Apotheke. In meinem Kopf schleuderten hoffnungslos Zahlen herum, ohne dass sie ein sinnvolles Ergebnis machten, und ich beschloss, die Frage nach dem Wie auf einen anderen Zeitpunkt zu verschieben und erst einmal zu entscheiden, wem ich es als erstes erzählen sollte: Liam, der gerade eine neue Lucy einprobte, meiner Mutter, die also bald Oma werden würde, Sarah als einer guten Freundin oder meiner Brautausstatterin, damit sie retten konnte, was noch zu retten war?
Schließlich machte ich mich auf den Weg ins Theater, weil ich fand, dass Liam von diesem Zwischenfall erfahren sollte.
Ich erwischte ihn während der Probe zu A dangerous game und blieb unentschlossen im hinteren Teil des Saals stehen, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und überlegte, wie er es aufnehmen würde und ob es eine gute Idee war, es ihm mitten in einer Probe zu erzählen. Aber da hatte er mich schon gesehen, und wenige Minuten später kam er auf mich zu.
„Was ist denn los?“, fragte er und fasste besorgt meine Hand.
„Liam“, sagte ich, „ich muss dir etwas sagen. Ich bin schwanger.“ Da war es heraus, schlicht und einfach, in einer Ecke des Theatersaals. Er starrte mich an.
„Bist du sicher?“
„Ich habe gerade den Test gemacht.“
„Aber ich verstehe nicht…“ Er blinzelte mehrmals. „Wann? Wie?“
„Ich hab es auch noch nicht raus“, erwiderte ich. Wir sahen uns ratlos an, und dann prusteten wir beide los und fielen uns in die Arme.
„Oh Mann“, stöhnte er, „ich kann es nicht glauben! Schwanger, Wahnsinn! Jetzt bin ich aber gespannt, worauf wir nicht geachtet haben…“
Im Nachhinein fügte sich alles sehr einfach zusammen: ich hatte Anfang des Jahres meine Antibaby-Pille abgesetzt, zur Vorbereitung auf unsere Babypläne. Weil ich sie in den letzten Jahren aber gewohnheitsmäßig nur einmal alle paar Monate pausiert hatte, um in meinen Engagements nicht durch lästige Frauenleiden gestört zu werden, war mir das Ausbleiben meiner Periode gar nicht komisch vorgekommen. Und die war ausgeblieben, weil Liam und ich, es fiel mir noch am selben Tag wie Schuppen von den Augen, ebenfalls am Jahresanfang im Ski-Urlaub eingeschneit gewesen waren und uns die Langweile mit ausgiebiger Zweisamkeit vertrieben hatten, ohne daran zu denken, dass ich ja nicht mehr verhütete.
„Wenn dich noch einmal jemand fragt, wie verpeilt du bist“, sagte meine Mutter daraufhin trocken, „dann erzähl diese Geschichte.“
In all dem Durcheinander war mir erst in den nächsten Tagen so richtig klar geworden, dass unser Herzenswunsch bereits jetzt in Erfüllung ging, und nach einer Welle leuchtender Glückseligkeit knallte ich sehr plötzlich auf den Boden der Tatsachen zurück: bisher war der Wunsch nach einem Baby so etwas wie ein Traum gewesen, den man immer wieder träumen konnte, in beliebiger Form und ganz nach meinen Vorstellungen, die ich drehen und wenden konnte, solange sie noch nicht wirklich eintraten. Jetzt war unser ganzer Plan zunichte: mein Brautkleid musste noch einmal geändert werden, an Flitterwochen in tropischen Gebieten war nicht mehr zu denken und wir mussten die Schwangerschaft in der Auswahl der Speisen einbeziehen – seitdem ich in einer übervorsichtigen werdende-Mütter-Broschüre gelesen hatte, wie gefährlich eigentlich jede Art von nicht selbst gekochten und überprüften Lebensmitteln war. Die Aufregung, die dadurch entstand, konnte sich erst nach ein paar weiteren Tagen legen.
„Liebling, ich kann dieses Ding nicht finden, dieses Strumpfband…“ Meine Mutter kam verwirrt und mit leeren Händen zurück, und ich landete in der Wirklichkeit.
„Oh entschuldige, habe ich dich geweckt?“
„Nein…“ Ich stellte fest, dass meine Frisur fertig war, und streckte mich. „Alles okay. Ich gehe jetzt auf’s Klo, aber es ist alles in Ordnung“, fügte ich nachdrücklich und eher gewohnheitsmäßig hinzu, denn meine Mutter fürchtete, die ganze Aufregung könnte mir schaden. „Und dann können wir langsam los.“

Die Zeit, bis ich vor der Kirche stand, kam mir sehr kurz vor – nachdem erst einmal alle fertig waren, glitt die Zeit in verschwommenen Wellen an mir vorbei. Erst jetzt, als ich ein letztes Mal mein Kleid glatt strich und meine Mutter schon zu allen Gästen in die Kirche gegangen war, kam ich wieder ganz zu mir. Ich spürte eine leichte Übelkeit, als die Aufregung mit ganzer Kraft auf mich einstürmte. Mein Vater stand geduldig in einigen Metern Abstand zu mir, die Hände in den Hosentaschen. Im Gegensatz zu meiner Mutter zeigte er sich kaum nervös. Ich lächelte ihm zu.
„Na, alles klar?“, fragte ich. „Bist du so weit, oder brauchst du noch etwas Zeit?“
„Jederzeit bereit“, sagte er und bot mir seinen Arm. „Ich bin die Ruhe selbst.“
„Ist mir auch schon aufgefallen.“
Er tätschelte mit der freien Hand meinen Arm. „Ich war dein halbes Leben von dir getrennt, da freue ich mich zu sehr über jedes kleine oder große Ereignis, das ich mit dir erleben darf, als dass da noch Platz für große Aufregung wäre.“ Er drückte mich, und jetzt sah ich doch, dass seine Fassung ins Wanken geriet. „Ich weiß nicht, ob dafür der richtige Zeitpunkt ist, aber ich will dir noch einmal sagen, wie leid mir alles tut…“
„Oh, Papa! Das haben wir doch hinter uns!“, rief ich, lauter als beabsichtigt, damit ich die Tränen irgendwie aus meiner Stimme verbannen konnte.
„Ich weiß, ich dachte nur…“
„Nein, nicht nötig, wirklich. Alles vergessen, schon lange. – Wollen wir dann?“
Er räusperte sich. „Okay, na gut.“
Ich trat an das Kirchenportal und winkte meiner Mutter zu, die dann ihrerseits das Zeichen gab, dass das Einzugslied gespielt wurde.
Während ich den Kirchengang hinablief, an einer Menge gut gefüllter Reihen entlang (Liam und ich kannten einfach zu viele Leute), musste ich kurz an unsere Schulzeit zurückdenken – als ich Liam noch für einen bescheuerten Angeber gehalten hatte und einfach nicht verstehen konnte, warum mein Vater glaubte, er sei mein Freund. Ich lächelte und umfasste den Brautstrauß fester, und dabei streifte meine Hand meinen Bauch, der – für die meisten noch nicht sicher -, ein Geheimnis barg, und mit der Gewissheit, einer neuen Zukunft entgegen zu stehen, ging ich langsam auf Liam zu.
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