Mich trägt mein Traum

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armandine
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 13.11.2016, 12:08:13

Interessanter Teil. Ein bisschen arrogant kommt Anouk schon rüber in Berzug auf den Freund ihrer Mutter, finde ich. Ihn nicht mit Namen anzureden, weil man den Namen komisch findet - hm. Das Wiedersehen mit Bertelin finde ich dagegen super. Und natürlich ist es auch schön, dass sie jetzt weiß, wo sie hingehört. Da bin ich ja gespannt auf neue Vorsingen in London.

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 26.11.2016, 18:40:59

Heute ein etwas kürzerer Teil als sonst, viel Spaß trotzdem!

Ich saß in meinem Zimmer, vor einem Schreibtisch voller Papierstapel, und studierte Audition Ausschreibungen, die eben frisch ausgedruckt waren: Viktoria hatte ganze Arbeit geleistet. Einige hatte ich bereits auf den undankbaren linken Stapel gelegt (links für nichts für mich), aber es waren auch einige interessante Sachen dabei: die Weihnachtskonzert-Reihe des West End, für die ich mich schon einmal interessiert hatte, hatte verschiedene Darsteller angefragt, darunter auch mich, und ich hatte den Zettel bereits mit einem großen grünen Haken versehen: meine Zusage hatten sie. Gerade las ich mich in die Ausschreibungen für den bald anstehenden Castwechsel bei Les Misérables ein: Viktoria hatte mir Fantine und Cosette angestrichen. Mit aufgeschlagenem Wörterbuch ging ich die Texte durch.

Fantine: Female, 20-29
poor factory girl, struggling to support her fatherless daughter; later is a pauper, a prostitute, a consumptive and a ghost; earthy and poignant; although is finally defeated by circumstances she should appear to be strong and a survivor; puts up a valiant fight against the horrors of her life; belt up to C, sings to E flat.
Ethnicity: All Ethnicities

Cosette: Female, 18-25
Fantine’'s daughter (first seen as and played by a child); delicate, elegant, vulnerable and beautiful; falls in love with and later marries Marius; soprano (to high C) but a light, young floating” sound, without heavy vibrato.
Ethnicity: All Ethnicities

Ich war eigentlich kein großer Fan von Cosette; es war eine jener undankbaren Musicalrollen, die zwar oft von tollen Stimmen gesungen wurden, charaktermäßig aber völlig uninteressant waren. Obwohl die Anforderungen hier besser zu mir passten, hatte ich doch ein very heavy vibrato, und ich mochte Fantine einfach lieber. Ich dachte, dass ich Sierra Boggess auch eher als Cosette eingeschätzt hätte, aber sie hatte schon Fantine gespielt und es war toll gewesen, also strich ich Cosette beherzt durch und machte einen Schlängel neben den ersten Text. Rechter Stapel.
Nach etwa zwei Stunden konzentrierten Arbeitens hatte sich nicht nur mein Wortschatz erweitert, sondern auch der rechte Stapel: neben den Konzerten und Les Misérables würde ich für Johanna in einer auf wenige Wochen reduzierte Inszenierung von Sweeney Todd im Februar, einen Ensembleersatz von Phantom of the Opera und Eliza Doolittle in Mayfair Lady vorsingen. Die meisten Rollen waren groß und ich unterdrückte einen ängstlichen Impuls: ich war jetzt so weit, dass ich ohne mich dumm zu fühlen für solche Shows vorsingen konnte. Mit fester Entschlossenheit und großer Vorfreude scannte ich die Papiere wieder ein und schickte sie mitsamt einer kurzen Mail an Viktoria, damit sie mich für die Auditions anmeldete. Dann warf ich einen Blick auf die Uhr. Viel Zeit hatte ich nicht mehr, ehe ich mit Marius im Tonstudio verabredet war, aber ein wenig konnte ich doch noch üben. Meine Mutter und ihr Freund waren beide außer Haus, weshalb ich gar nicht erst den Weg zur Musikschule antreten musste.

Die nächsten zwei Wochen in Deutschland glitten träge an mir vorbei. Die Arbeit an der CD ging viel zu leicht von der Hand, und meinen Besuch bei Linda musste ich auf unbestimmte Zeit verschieben: sie war zu beschäftigt mit Proben. Die meiste Zeit verbrachte ich mit Bertelin in der Musikschule, wo wir gemeinsam mit einigen Schülern probten oder er sich meine Songvorschläge für die Auditions anhörte, lobte oder kritisierte. Als Liam anrief und mir von dem Haus vorschwärmte, wollte ich noch dringender zurück. Daran konnte auch die Bedrückung meiner Mutter nichts ändern, die sich mehrere Male besorgt über meine „Auswanderungspläne“, wie sie es nannte, äußerte. Ich antwortete immer gleich: „Ich bin nicht aus der Welt, Mama. Aber ich fühle mich in London zu Hause. Vielleicht kommen wir ja irgendwann zurück, aber jetzt möchte ich auch nicht mehr darüber reden.“ Als bei meiner Abreise dann trotzdem Tränen bei ihr flossen, fühlte ich den Anflug eines schlechten Gewissens, wehrte mich aber rasch dagegen: ich hatte meine Wahl getroffen, und ich fühlte mich gut dabei. Ich lebte mein Leben, nicht ihres. Als ich im Flieger saß und beim Start in den Sitz gedrückt wurde, schloss ich vor Erleichterung die Augen: es ging endlich nach Hause.
Zurück in London, absolvierte ich einen Casting-Marathon. Eine Zusage für die Weihnachtskonzerte erhielt ich nach dem ersten Song, der offenbar nur obligatorischer Art war: man hatte mich nach einer Zusage schon fest eingeplant. Die anderen Auditions verliefen mehr oder weniger erfolgreich: Mayfair Lady sagte mir schon nach der ersten Runde ab, weil ich durch den Umstand, dass Englisch nicht meine Muttersprache war, nicht in der Lage sei, dem Akzent der Eliza gerecht zu werden. Sie wollten ein „britisches Original“. Ich war etwas enttäuscht, aber die anderen Auditions waren vielversprechender: beim Phantom kam ich eine Runde weiter; man ermutigte mich, auch einen Song für Christine Daae einzustudieren, was mich zwar in helle Aufregung versetzte, aber nicht deutlich machte, was ich damit eigentlich genau erreichen könnte; das Vorsingen für Fantine verlief ebenfalls gut, auch wenn ich den Eindruck hatte, der Rolle noch nicht gerecht zu werden. In beiden Fällen hieß es: „Wir melden uns“, also blieb mir vorerst nichts anderes übrig als mich in Geduld zu üben. Außerdem stand ja noch die Hausbesichtigung an… Liam und ich machten uns an einem Samstag auf den Weg. Das Haus lag nicht weit von unserer derzeitigen Bleibe entfernt, wir machten einen ausgedehnten Spaziergang und waren da. Schon von außen sprach es mich an: die beinahe quadratische Fassade war weiß, mit blauen Fensterrahmen und einer blauen Eingangstüre, die Ruperts Frau öffnete, als wir klingelten.
„Da seit ihr ja!“, sagte sie erfreut und ließ uns eintreten. „Nun, Anouk, ich bin gespannt, ob dir unser Haus so gut gefällt wie Liam.“ Sie bedeutete uns, ihr zu folgen, und führte uns durch die Räume: wir betraten das Haus durch einen großen, quadratischen Eingangsbereich, der durch die Garage in der vorderen, rechten und ein Badezimmer in der hinteren linken Ecke schön symmetrisch begrenzt wurde. Das Bad war groß und weiß; die Kacheln hatten eine feine, grüne Borte und ich dachte, hier macht sich unser Badvorleger gut. Vom Flur aus ging es direkt ins Wohnzimmer, vorbei an einer freistehenden Wendeltreppe, die wie eine hölzerne Säule aus dem Boden wuchs und sich nach oben auf eine zurückgebaute Galerie schraubte. „Im Nebenraum befindet sich die Küche“, sagte Ruperts Frau, „und hier ist das Wohnzimmer.“ Sie nannte ein paar Zahlen, die gar nicht nötig waren; auch so war erkennbar, dass der Raum geradezu luxuriöse Ausmaße hatte: er erstreckte sich über die gesamte Längsseite des Hauses. Die Küche war ebenfalls sehr groß; Küche und Eingangsbereich waren jeweils halb so lang und breit wie das Wohnzimmer. Wir stiegen die Galerie hinauf, wo wir einen langen, schmalen und etwas düsteren Flur hinabschauten. Vor uns reihte sich Tür an Tür, ein bisschen so, wie ich mir immer mittelalterliche Zimmerfluchten in alten Burgen vorgestellt hatte. Insgesamt gab es weitere fünf Zimmer, allesamt etwas kleiner als die riesigen Räume im Erdgeschoss, darunter ein kleines Bad, drei Schlafzimmer und einen Raum, der bisher als Musikzimmer genutzt worden war. Während der ganzen Besichtigung zogen Bilder vor meinem inneren Auge her: wo unser Bett stehen könnte und der Schrank, wie gut sich eine helle Couch vor den großen Fenstern machen würde und als was wir das Musikzimmer nutzen könnten.
„Diesen Raum hier nutzen wir als Gästezimmer“, sagte Ruperts Frau gerade, als wir in dem zweiten Schlafzimmer standen, „aber es kann ja auch anderweitig genutzt werden. Als Büro zum Beispiel.“
„Oder Kinderzimmer“, schlug Liam vor. Ich warf ihm einen raschen, erstaunten Seitenblick zu, aber er äußerte sich nicht weiter dazu, also tat ich es auch nicht und bewahrte die Erinnerung an seine Worte sorgsam auf, um später darauf zu sprechen zu kommen.
Als wir wieder ins Wohnzimmer zurückkehrten, sahen Liam und ich uns lange an.
„Wir nehmen es“, sagte ich irgendwann. „Oder?“
„Auf jeden Fall“, stimmte Liam zu, und mit einem Händedruck und einer Umarmung besiegelten wir den freundschaftlichen Kaufvertrag.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 27.11.2016, 13:38:31

Ein kurzer, aber trotzdem schöner und ereignisreicher Teil.
Mein erster Gedanke bei Les Mis war ehrlich gesagt die Rolle der Eponine, aber mal sehen, was daraus wird. Ich hoffe, sie hat Erfolg mit einer neuen Anstellung. Das mit dem Haus klingt großartig! Ich würde es auch nehmen, so wie du es beschrieben hast XD Da kann man glatt auf die beiden neidisch werden, dass sie sich etwas aufbauen können. Allerdings ist es auch recht mutig, da man als Darsteller ja nie weiß, wo es weitergehen wird. Ich würde mich dann nicht trauen, ein Haus zu kaufen. Es freut mich jedoch sehr für die beiden - und ich bin gespannt, wohin der Einwurf mit dem Kinderzimmer noch führen wird!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 29.11.2016, 20:36:24

Mir gefällt der Teil sehr gut, das mit dem Haus auch und vor allem bin ich auf das neue Engagement gespannt!

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 10.12.2016, 11:38:58

Hier ist der nächste Teil:

Wir begannen mit dem Umzug, sobald Rupert und seine Frau ausgezogen waren. Da die Räume des Hauses größere Maße hatten als die unserer ersten Wohnung, mussten wir einiges an neuen Möbeln besorgen. Wir fanden einige schöne Stücke in einem Second hand-Laden, darunter ein großes Sofa, das gut zu dem hellblauen Teppich im Wohnzimmer passte, der den ganzen Raum ausfüllte. Meine Mutter kam für ein paar Tage zu Besuch, und während Liam arbeitete, hängte sie mit mir Gardinen auf, richtete die Küche ein und half mir mit kleineren Arbeiten, die keine Männerhand erforderten. Mit Hilfe von Liams Freunden, Eltern und Bekannten schafften wir es, uns innerhalb einer Woche einzurichten. Wir ließen das Gästezimmer unbenutzt; für ein Kinderzimmer gab es keinen Grund, und falls wir einmal Übernachtungsbesuch haben sollten, konnte dafür immer noch die Couch aushelfen. Stattdessen überlegten wir, was wir mit dem ehemaligen Musikzimmer anfangen sollten. Erst schlug Liam vor, es tatsächlich in ein kleines Büro umzuwandeln, aber ich schlug den Vorschlag aus; als ich im Scherz meinte, wir könnten ja einen Probenraum errichten, verstrickten wir uns in die unmöglichsten Fantasien und unternahmen schließlich den Versuch, eine eigene, kleine Heimbühne zu schaffen: wir legten den Boden mit schwarzem Linoleum aus, das mit täuschend echt wirkendem Holzmuster bedruckt war. Gemeinsam strichen wir die Wände dunkelblau und teilten die Seiten des Raumes durch Drahtseile in kleine Nebenkammern ab; verhängt wurde alles mit schwarzem Tuch, das wir relativ günstig bei der Versteigerung alter Theaterrequisiten ergattert hatten. Der Raum war recht düster, aber er erfüllte seinen Zweck: hinter den Vorhängen lagerten wir unsere über die Jahre angesammelten Erinnerungsstücke – alte Kostümteile, Requisiten, Maskenstücke; außerdem war endlich Platz für die zahllosen Notenhefte und Textbücher. Wir tauften den Raum „Studio“ und fühlten uns sehr professionell und künstlerisch, wenn wir darin probten. Und ich hatte bald allen Grund zu proben: sowohl in Les Misérables als auch in Phantom of the Opera wurden mir Rollen angeboten – ersteres hätte mich gern als Fantine, beim Phantom sollte ich das Cover der Christine übernehmen und ansonsten im Ensemble spielen. Es war eine schwere Entscheidung, war doch beides so vielversprechend! Nach einem kurzen, aber intensiven Hin und Her entschied ich mich, dem Ensemble von Les Misérables beizutreten. Ich entschloss mich dazu aus mehreren Gründen. Der erste und naheliegendste lautete, dass es sich bei Fantine um die Erstbesetzung, bei Christine jedoch „nur“ um das Cover handelte. Außerdem hatte ich Christine gerade erst gespielt, und weil es keine gute Erfahrung und dazu noch ihr älteres Ich, das schon alles erlebt hatte, gewesen war, fühlte ich, dass ich noch nicht bereit war für diese Rolle. Zwar hatte ich kurz Sorge, dass ich mir damit eine große Chance nahm, aber andersherum wäre es genau so gewesen. Des Weiteren hatte ich von der sehr familiären und warmen Atmosphäre gehört, die bei Les Misérables herrschte. Das konnten bloß Gerüchte sein, sicher, aber ich fühlte mich zu dieser Produktion einfach mehr hingezogen: es war, nach meinen ganzen typisch weiblichen, eleganten zwar auch eine dramatische Rolle, aber ein anderer Typ Frau: arm, zerrissen, verzweifelt. Fantine hatte nicht Elisabeths Ruhm, Sarahs Jugend oder Christines Eleganz, sie war schlicht und klein und nur der winzige Teil eines großen Ganzes, das zu spielen mich reizte.
Es war nun Ende November, und am 10. Dezember würde der Castwechsel stattfinden. Das waren noch rund drei Wochen, von denen ich zwei zum Proben hatte. Neben Fantine würde es auch noch eine neue Cosette, einen Javert und einige Änderungen im Ensemble geben. Ich erhielt meinen Probenplan kurz nach der Zusage und fand, dass er recht überschaubar war. Da Javert und das gesamte Ensemble einen deutlich größeren Teil des Stückes einnahmen als Fantine, wurde darauf mehr Zeit verwendet. Ich fand das nicht schlimm; ich kannte Fantines Parts größten Teils auch auf Englisch auswendig, und in den Rest würde ich mich ebenfalls schnell einarbeiten. Die restliche freie Zeit, stellte ich erfreut fest, würde ich mit Weihnachtsvorbereitungen verbringen können. London hatte sich in den letzten Tagen in eine andere Welt verwandelt, und das Winter Wonderland, eine alljährliche Attraktion, lag im Hyde Park und somit direkt vor unserer Haustüre. Mir stand eine aufregende Zeit bevor!

In der Nacht nach einem „Probentag“, den ich für mich in unserem Studio abgehalten hatte, wo ich Fantines Songs auf dem Diktiergerät aufnahm und mich auf meine gesangliche Qualität prüfte, wachte ich plötzlich auf. Als hätte mir jemand ins Gesicht geschlagen, war ich wach, ganz wach, und konnte nicht mehr einschlafen. Ich tastete nach Liam, aber er schlief ruhig, sein Arm neben meinem Kissen; er hatte mich nicht geweckt. Ich spähte nach dem Wecker – es war vier Uhr in der Früh. Ich lag da, mit klopfendem Herzen, und als ich es nicht mehr aushielt, stand ich leise auf, zog mir einen Pulli über und verließ das Schlafzimmer. Von der Galerie aus sah das Wohnzimmer, durch dessen gewaltige Fenster das Licht einer Straßenlaterne fiel, fremd und seltsam aus, wie von einer anderen Welt, und der Weihnachtsschmuck, den ich vor einigen Tagen aufgehängt hatte, glitzerte hier und da. Ich stieg die Holztreppe hinunter und setzte mich auf unser ausladendes Sofa, viel zu groß für zwei Personen, und starrte in den Raum. Starke Gefühle wallten in mir auf, aber ich wusste nicht, wie sie zu benennen waren – mein Herz klopfte schnell, aber es war keine Angst, mein Bauch kribbelte, aber es war keine Aufregung, und hinter meinen Augen brannte es, aber ich war nicht traurig. Ich muss schlafen, dachte ich, morgen fangen meine Proben an… Geh zurück ins Bett! Aber ich blieb sitzen und lauschte der Stille, die absolut schien, und als ich abermals den verheißungsvollen Weihnachtsschmuck und meine Texthefte auf dem Tisch sah, wusste ich plötzlich, was ich spürte: es war Glück und Freude, und ein benebelndes Gefühl der Vollkommenheit.

Als ich am nächsten Tag das Queen’s Theatre erreichte, standen vor der Bühnentür einige Darsteller und rauchten. Als ich sie sah, verlangsamte ich meinen Schritt, weil ich schnell abschätzen wollte, ob ich jemanden von ihnen erkennen würde, aber sie bemerkten mich ihrerseits, und ein junger Mann mit schulterlangem, blondem Haar kam auf mich zu und schnippte dabei seine Zigarette weg. „Hey“, sagte er, „bist du Anouk Steger?“ Er sprach meinen Namen wie die meisten Engländer unglaublich bemüht und dennoch so falsch aus, dass ich lächeln musste. „Ja, bin ich“, erwiderte ich, und ehe ich ihm auch nur die Hand hinstrecken konnte, hatte er schon einen Arm um mich gelegt. „Ich bin Mike, Grantaire auf der Bühne. Hier sind Matt“, ein hochgewachsener, schlaksiger Kerl aus dem ABC Café, „Jeremy“, ein verwegen aussehender Typ, der nur Enjolras sein konnte, „und da kommen gerade Isabel und Clare, zwei lovely ladies.“ Er zwinkerte ihnen zu, und alle begannen, mich herzlich zu umarmen und zu begrüßen, und Isabel schlug vor, mir direkt die Räumlichkeiten zu zeigen und die anderen ihrem „ungesunden Rauch“ zu überlassen. Ich willigte dankend ein; es war schneidend kalt und erste feine Flocken fielen hin und wieder auf meine Schultern, wo sie sofort schmolzen.
Isabel zeigte mir meine Garderobe, wo ich nur schnell meine Tasche abstellte, dann die anderen Bereiche des Theaters. Als ich meine Kostüme und vor allem die beiden Perücken sah, musste ich unwillkürlich nachgrübeln, wie ich wohl mit kurzen Haaren aussähe und ob die Langhaar-Perücke überhaupt nötig sei, weil mein Haar ebenfalls ein dunkles Blond hatte und inzwischen recht lang geworden war. Für dieses Stück hatte ich keine auslandende Garderobe; es gab gerade mal zwei Kleider, die Arbeitertracht und das weiße Totenkleid, und ich empfand auch das als erleichternde Abwechslung: die ständigen, raschen und vorsichtigen Kostümwechsel der Christine waren im Endeffekt zwar hübsch anzusehen, aber das Tragen der Roben war doch auch sehr einengend gewesen. Außerdem hatte ich noch einen kurzen Auftritt mit dem Ensemble in Paris/ Look down, für welchen ich ein sehr abgerissenes Kostüm inklusive weitem Schal trug, in welchem man mich nicht erkennen würde.
Während der ganzen Führung plauderte Isabel mit mir über den Probenablauf, der sich nicht sehr anstrengend anhörte, weil ich zwar einen wichtigen, aber nicht den größten Part innehatte; weit mehr Gesprächsinhalt boten allerdings das Leben hinter den Kulissen und die Doppelshows am Wochenende.
„Demnächst wollen wir in der freien Zeit zwischen den Shows Plätzchen backen“, verriet sie mir, „du bist natürlich herzlich zum Mitmachen eingeladen. Ach, und demnächst haben wir einen Mini-Auftritt in einem Krankenhaus, wir singen da Weihnachtslieder für die Kinderstation, du bist auch dabei. Ach ja, und ich habe schon gehört, dass du bei dem West End Christmas-Concert dabei bist?“ Ich nickte; daran hatte ich bisher kaum einen Gedanken verschwendet, aber jetzt fiel mir ein, dass auch dazu bald die Proben beginnen mussten.
„Unser Marius – also, Leon heißt er, singt auch mit. Am 24. spielen wir nur am Nachmittag, aber wir wollen anschließend noch Do they know it’s Christmas time singen.“ Sie rollte mit den Augen. „Als gäbe es nicht genug andere Weihnachtssongs, die man chorisch aufbereiten kann… Wie auch immer“, sie hielt kurz inne und führte mich in eine Art Lagerraum, in dem gerade die Kulissen der Barrikaden standen, „das klingt sehr viel, besonders für die Weihnachtszeit, aber es ist meistens sehr lustig.“ Sie lächelte mich an. „Jetzt habe ich so viel geredet – hast du noch Fragen?“
„Nein, im Moment nicht.“ Ich sah mich um. Vom Zuschauerraum erklang Stimmengemurmel, ab und zu ein lautes Lachen und das Klimpern eines Pianos.
„Sie machen sich fertig für die Probe“, erklärte Isabel, als sie mein Lauschen bemerkte. „Ich bin schon gespannt auf die Neuen!“ Sie zwinkerte mir zu. „Und bevor ich es vergesse: irgendwann diese Woche haben die Neuen, also auch du, einen Show Watch. Um alles mal live und in Farbe zu sehen.“
„Darf ich eine Begleitung mitnehmen?“, fragte ich. Die Show mit Liam zu sehen wäre doch schon, dachte ich – wir hatten schon lange keinen gemeinsamen Theaterbesuch mehr gemacht.
„Ich weiß nicht“, gab Isabel zu, „am besten, da fragst du gleich nach. Und jetzt sollten wir zu den anderen gehen, ich stell sie dir vor!“
Ich folgte ihr, immer noch ein bisschen aufgeregt, aber auch voll freudiger Erwartung auf diesen ersten Probentag.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 10.12.2016, 17:13:08

Na da geht es ja mit großen Schritten weiter und es klingt alles echt gut! Schön, dass sich Anouk schnell im neuen Haus ein gelebt hat und glücklich ist. Auch die neue Rolle ist prima - das Ensemble scheint wirklich sehr nett zu sein. Ich bin gespannt, ob das alles so bleibt und wie sie Weihnachten in ihrer neuen Heimat verbringt.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 10.12.2016, 19:56:15

Schöner Teil! Wenn ich etwas anmerken darf: Die Fantines sind immer auch auf der Barrikade dabei. Der Legende nach hat sich mal eine in London zwischen ihren beiden Auftritten am Anfang und am Ende der Show so betrunken, dass sie den Auftritt verpasst hat. Seitdem muss die Fantine mit auf die Barrikade, damit sie was zu tun hat ;-). Aber die Entscheidung für Les Mis kann ich nachvollziehen, Erstbesetzung ist immer netter als Cover.

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 03.08.2017, 20:42:33

Nicht zu fassen, dass ich acht Monate nichts mehr geschrieben habe! Tatsächlich habe ich heute zum ersten Mal wieder etwas Neues über Anouk abgetippt. Ich hoffe, ihr lest noch mit...
Durch die lange Pause habe ich etwas den Faden verloren und beginne mit einem kleinen Zeitsprung. Seht es mir nach!

2 Monate später

Schnee fiel in geradezu unglaublich dicken und dichten Flocken, als ich Sainsbury’s verließ und auf die Straße trat. Ich hatte nicht einmal eine halbe Stunde in dem kleinen Supermarkt verbracht, doch die Straße war schon nicht mehr wiederzuerkennen: wie in den Nachrichten versprochen, öffnete der seit Tagen von schweren Wolken verhangene Himmel seine Schleusen – und sorgte sowohl für schöne Touristenfotos als auch für ein – ebenfalls versprochenes – Verkehrschaos. Ich schlängelte mich durch die Flut von Passanten, die in gewohnt gelassener Manier Witze über das Wetter rissen und es dann in einem Pub aussaßen, und meine Hand, die die Einkaufstüte trug, wurde langsam taub. Auf dem fünfminütigen Heimweg fiel mein Blick unweigerlich in die Earl’s Court Road; irgendwo in einer dieser dicht an dicht liegenden Wohnungen bibberte vermutlich ein in mehrere Decken gehülltes Pärchen, oder vielleicht eine einzelne Person oder gar eine Kleinfamilie…, zwischen maroden Heizkörpern und undichten Fenstern vor sich hin. Ich spürte Mitleid, gefolgt von einer starken Erleichterung: wir hatten es warm und gemütlich! Ich legte einen kurzen Zwischenstopp in der Apotheke ein und kaufte Aspirin, und die anschließende erneute Kälte auf meiner bloßen Hand war noch einmal schlimmer. Eilig stapfte ich nach Hause. Wie schön unsere Fenster im Dämmerlicht leuchteten! Wäre es wärmer, wäre ich gern stehen geblieben, nur um dieses Bild der Behaglichkeit auf mich wirken zu lassen; jetzt aber zählte erst einmal eines: hinein in die Wärme! Ich zog meinen Hausschlüssel aus der Jackentasche und schlüpfte nach drinnen; heftig stampfend löste ich den Schnee von meinen Schuhen, der rasch auf dem Boden zu einer dreckigen Pfütze schmolz. Rasch trat ich die Schuhe mit den Fersen ab und warf meine immer nasser werdende Jacke über den Garderobenhaken, dann schleppte ich die Tüte in die Küche. Auf dem kurzen Weg durch das Wohnzimmer hörte ich Schnipsel einer Dauer-Nachrichtensendung: anscheinend hatte es andere Teile Londons schon vor Stunden und weitaus schlimmer erwischt: es war von Sturmböen, Stromausfall und Verkehrsstillstand die Rede. Ich lauschte, während ich schnell alles wegräumte, und ging dann ins Wohnzimmer.
„Sieht aus, als würden wir noch mal davon kommen“, sagte ich und gab Liam zur Begrüßung einen Kuss und die Aspirin. „Wie geht es dem Bein?“
Wir richteten beide unsere Augen auf diesen unförmigen, dick eingepackten und schön weiß leuchtenden Gisklumpen, der da auf dem Tisch lag und anscheinend ein Teil von Liams Bein war: sein Bein.
„Die Aspirin sind willkommen“, entgegnete er und verzog das Gesicht. „Kannst du mir ein Glas Wasser bringen?“
„Aber sicher.“ Ich stand auf und ging zurück, um das Gewünschte zu holen. Dabei lachte und seufzte ich gleichermaßen stumm in mich hinein. Liam war es gelungen, beim Aussteigen aus dem Flugzeug so ungünstig aufzutreten, umzuknicken und zu fallen, dass er sein Bein glattweg gebrochen hatte. Ich hatte ihm erst kaum glauben wollen, als er mir, noch am Boden und mit zusammengebissenen Zähnen versicherte, das Bein sei „durch.“ Zum Einen, weil sein Sturz nur halb so dramatisch ausgesehen hatte, als er tatsächlich war; zum Anderen, weil ich mit ihm auf Heimatbesuch in Deutschland war, und zwar zu Weihnachten. Aus den angestrebten besinnlichen Feiern in verschiedenen familiären Wohnzimmern wurde ein enges Beisammensitzen und Papierknüllen im Krankenhaus. Inzwischen waren wir wieder in London, Liam kurierte sein Bein und sein Ego und ich genoss es insgeheim, ihn mal für eine Weile ganz für mich zu haben. Zwar musste ich nachts auf ihn verzichten, da er zurzeit unmöglich die Treppenstufen hinauf kam, aber ansonsten war es toll, nicht den ganzen Tag allein zu sein.
Ich reichte Liam sein Wasser und er nahm die Tabletten. Eine Weile sahen wir noch Bilder aus verschiedenen Teilen Londons an, die eigentlich alle gleich aussahen (weiß, grieselig, ungemütlich), dann schaltete Liam den Fernseher aus und legte seufzend den Kopf zurück.
„Ich bin nicht der Typ für dieses Rumsitzen“, murrte er.
„Tja, dann hättest du wohl besser aufpassen sollen, wo du hintrittst“, feixte ich und lehnte mich an ihn. „Wenn noch mal ein Platz im Parkett frei bleibt, schaff’ ich dich rüber, dann hast du etwas Abwechslung.“
„Und dich vierundzwanzig Stunden um mich rum?“ Er riss dramatisch die Augen auf, und ich gab ihm einen Knuff. „Benimm dich! Denk dran: du bist mir völlig ausgeliefert.“
„Wie Recht du hast.“
„Und um das mal auszunutzen: was sollte eigentlich damals die Bemerkung mit dem Kinderzimmer?“
„Hm?“ Er blinzelte mich fragend an.
„Bei der Besichtigung hier hast du das Gästezimmer als Kinderzimmer vorgeschlagen.“ Ich zog eine Schachtel Schokolinsen heran und riss sie auf. „Wolltest du damit irgendetwas andeuten?“
„Eigentlich nicht“, erwiderte er und bediente sich ebenfalls an dem Süßkram. „Ich finde, meine Aussage war ganz deutlich.“
„Tatsächlich?“
Er seufzte übertrieben. „Weißt du, Anouk, Männer sind nicht so hintenrum wie Frauen. Wenn ich sage, das könnte mal ein Kinderzimmer werden, dann heißt das genau das: der Raum könnte ja mal ein Kinderzimmer werden. Da ist nichts mystisches dran, weißt du.“
„Ja, aber um ein Kinderzimmer draus zu machen, bräuchten wir erst mal, na ja, Kinder.“
„Natürlich“, sagte er, und seinem Ton war deutlich anzuhören, dass für ihn alles sonnenklar war.
„Wäre da nicht die sinnvollere erste Bemerkung gewesen: wir werden Kinder haben?“
„Impliziert meine Aussage das nicht schon?“
Ich knuffte ihn wieder. „Du nervst. – Also, können wir mal richtig darüber reden? Ich habe den Eindruck, dass du… na ja, dass du denkst, wir werden Kinder kriegen.“
„Und ich habe den Eindruck, dass du in deiner Anouk-haften Weise mal wieder seit diesem Tag darüber nachdenkst und erst jetzt mit der Sprache herausrückst.“
Mein Gesicht wurde warm, aber ich ließ mir nichts anmerken. „Schon möglich“, sagte ich. (Er hatte natürlich vollkommen Recht. Aber warum, warum hatte er das Thema nicht wieder angeschnitten?) Schweigend sah ich ihn an, und er seufzte erneut. „Anouk, ich sehe schon, wie du denkst: du denkst, ich hätte für uns beschlossen, dass wir mal Kinder haben. Tatsache ist, dass ich es mir durchaus vorstellen könnte, du in diesem Falle aber die, hm, Hauptleidtragende wärest, also habe ich diese Bemerkung einfach mal in den Raum geworfen und gewartet, wie du reagierst. Natürlich so, wie erwartet.“ Er lachte. Ich war verblüfft.
„Also… ein bisschen hintenrum war das ja schon… Und… hm. Könntest du dir nur vorstellen, Kinder zu haben, oder willst du es gern?“
„Ich will dich nicht unter Druck setzen.“
„Sag’s einfach.“
Er zögerte kurz. „Also, ich hätte schon sehr, sehr gerne Kinder. Oder eines, um mal klein anzufangen.“
„Aah…“ Ich schwieg. So war das also. In recht schneller Geschwindigkeit gingen mir einige Gedanken durch den Kopf.
„Kinder sind… nicht sehr förderlich in unserer Branche. Und ich bin erst siebenundzwanzig.“
„Wir sind ja auch noch nicht verheiratet.“
„Verheiratet?“, echote ich, als er einfach so umstandslos auf das nächste große Thema zu sprechen kam.
„Ich dachte immer, das würdest du gerne…“, murmelte er. Mein Herz raste. „Ist das jetzt ein Antrag?“
„Nein!“
„Oh…“
Es folgte erneut ein peinliches Schweigen. Liam schien ein Licht aufzugehen.
„Oh Mann. Oh Gott, Anouk, tut mir leid…ich wollte nicht… Es sollte nicht so wirken!“
„Schon gut.“ Ich wurde den Eindruck nicht los, dass unsere Unterhaltung immer absurder wurde.
„Um das noch mal zusammenzufassen: du wünscht dir eine Familie, und du denkst, wir sollten heiraten. Vielleicht sogar vor dem Kind.“
„Möglich ist alles“, sagte er weise, „aber ich fand die altmodische Reihenfolge schon immer schön. Das wirkt so verbindlich.“
„Verbindlich, soso.“ Ich grinste. „Denkst du, ich werf’ dir ein Kind hin und ziehe dann in die weite Welt hinaus?“
„Nein, natürlich nicht… ist nur so mein Denken… wir müssen ja nicht heiraten… Was sagst du denn zu alldem?“
Ich dachte nach. „Heiraten… warum nicht? Ich finde das gut. Und Kinder…“ Ich verstummte. Liam hatte natürlich Recht: ich hatte oft über das Szenario nachgedacht, ein Baby zu bekommen. Erst war ich erschrocken gewesen: diese Verantwortung, und wie würde es danach im Showgeschäft für mich aussehen? Andererseits konnte ich mit Fug und Recht behaupten, eine Größe in meiner Branche geworden zu sein, die man nicht so einfach nach einem Jahr vergessen würde. Und trotz Berücksichtigung meines manchmal unsteten Lebens war ein eigenartiges Ziehen in mir erwacht. Es saß irgendwo zwischen Brustbein und Bauchnabel und schien die Beschaffenheit eines defekten Aufzuges zu haben: beim Anblick von Kinderwagen, Babys und Schwangeren raste er ungestoppt abwärts, polterte in meinen Magen und hinterließ nebenbei auch noch ein heilloses Durcheinander in meinem Kopf. Ich konnte mir das nur so erklären: Liams Vorschlag hatte etwas für sich.
„Ich glaub, ein Kind wär’ schön“, nuschelte ich dann etwas unbeholfen. Liam schien meine Unsicherheit zu spüren. Er zog mich näher an sich und drückte seine Lippen auf meinen Scheitel. „Wir haben ja noch Zeit“, sagte er. „Aber es ist schön, dass wir mal darüber geredet haben.“

Trotz des Schneesturms nahm der Theaterbetrieb seinen gewohnten Lauf, und am Abend konnte ich mein rastloses Denken gegen Fantine eintauschen und im Ensemble mit der Masse gehen, ohne viel zu denken. Seit meiner Premiere hatte ich mich gut eingespielt. Auch auf meine Kritiken konnte ich stolz sein; einzig die vielen kleinen, spitzen Bemerkungen, warum eine Deutsche bei so vielen einheimischen Talenten besetzt worden sei, lagen mir noch etwas schwer im Magen. Aber so war es wohl überall: wie oft hatte es in Deutschland nicht ähnliche Bemerkungen über Niederländer, Österreicher, Amerikaner und andere ausländische Besetzungen gegeben… Außerdem war ich gern im Ensemble, das ich für die nächste Zeit um nichts in der Welt verlassen wollte. – Auch nicht für ein Baby? Ich seufzte, als mir der Gedanke nach dem Schlussapplaus wieder kam. Wir haben Zeit, wiederholte ich Liams Worte für mich, aber überzeugen konnte es mich nicht.
„Hey, du warst dramatisch heute! Alles okay?“ Isabel hatte ein Gespür für die wahren Gefühle, die in die gespielten mit einflossen.
„Keine Ahnung“, antwortete ich, aber schon in der nächsten Sekunde entschlüpften mir die Worte: „Liam und ich, wir denken über ein Baby nach.“
„Ein eigenes?“
Ich lachte. „Ja. Also, eines, das ich bekomme.“
„Schon kapiert. Und du…?“
Ich hängte mein Kostüm weg. „Ich finde die Idee… gut“, antwortete ich etwas lahm. „Ich bin nur etwas in Sorge, wie ich ein Baby mit der Karriere vereinbaren kann.“
„Deine Karriere wird wohl nicht platzen, nur weil du mal für eine Weile nur Mutter sein möchtest“, erwiderte sie. „Ich denke, bei Anfängern oder dem Durchschnittsdarsteller ist das was anderes, aber du… So wie ich weiß, seit ihr doch beide bekannt und gut im Geschäft. Auch wenn Liam im Moment nur unterrichtet, hat er doch auch damit einen soliden Job.“
„Jaah, schon…“ Ich seufzte und ließ das Thema fallen. „Wie ist es, gehen wir noch irgendwo was essen?“
Ich hatte die äußerst angenehme Gewohnheit aufgenommen, mit ein paar Ensemblemitgliedern nach der Show noch einen Pub oder eine Bar zu besuchen und etwas zu essen.
„Klar!“, sagte Isabel, „warte, ich schau mal, wer noch mit will…“
Und im Laufe des Abends vergaß ich meine Grübeleien fürs Erste.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 05.08.2017, 12:17:22

Hui es geht weiter - wie schön.
Ich hab geahnt, dass das Thema Kinder nochmal irgendwann zur Sprache kommt. Es scheint Anouk ja plötzlich nicht loszulassen. Ich bin sehr gespannt, wie dieser Handlungsstrang weitergeht. Immerhin haben sie ja Liams Eltern in der Nähe als Unterstützung falls es dann soweit ist, das ist gerade in den ersten Monaten so viel wert!
Lass uns nicht wieder acht Monate warten, sonst könnte das Baby der beiden ja fast in der Zwischenzeit herangewachsen sein ;)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 13.08.2017, 19:16:08

Ich freue mich auch über den neuen und interessanten Teil! Lass uns nicht wieder so lange warten!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Musical_passion » 16.08.2017, 16:41:12

Wow, habe gerade in die ersten Teile reingelesen und bin jetzt schon hin und weg!
Da hab ich ja jetzt den perfekten Lesestoff fürs kommende Wochenende, vielen Dank :-)

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 20.08.2017, 19:15:49

Schön dass ihr noch mitlest und schön, dass es eine(n) neue(n) Mitleser(in) gibt :)
Nein, acht Monate wird es bestimmt nicht mehr dauern...

Das extreme Winterwetter dauerte an, länger, als ich es mir hätte vorstellen können: zum Theater zu kommen war inzwischen eine Qual. Nicht nur, dass der schon einige Tage alte Schnee durch die rapide abgefallenen Temperaturen zu einem steinharten, rutschigen Hindernis geworden war – auch die Kälte machte mir zu schaffen. Ich hatte es gern warm und gemütlich und war empfindlich gegen alle Temperaturen unter zehn Grad; durch die eisigen Böen, die immer wieder durch die Häuserzeilen wehten, fühlte sich die Luft in London geradezu arktisch an. Die zwanzig Minuten, die ich am Nachmittag zur Haltestelle laufen musste, fühlten sich wie eine mehrstündige Reise an; in der anschließenden Fahrt bis Piccadilly Circus konnte ich mich zwar wieder aufwärmen, musste aber auch die Enge und den Geruch nach U-Bahn, Menschen und nass-kalten Winterjacken in Kauf nehmen. Während ich mich an einem besonders kalten Tag nach einer Nacht weiterer Unwetter an die Haltestange klammerte, dachte ich sehnsüchtig an unser Auto, das wegen Liams Bein schon eine ganze Weile untätig herumstand. Lautlos seufzte ich und nahm mir zum wiederholten Male vor, endlich den Führerschein zu machen – was gar nicht so einfach war: unser Aufenthalt in London sah für die nächste Zeit keine Unterbrechung vor, und da wir unseren Wohnsitz dorthin verlegt hatten, wäre es am sinnvollsten, den Führerschein hier zu machen; andererseits traute ich es mir nicht zu, in einer nach wie vor irgendwie fremden Sprache die Verkehrsregeln zu lernen – die hier ja auch noch mal ein wenig anders waren als in Deutschland. Abermals unterdrückte ich ein Seufzen. In ungefähr einer Woche würde Liam wieder fahren dürfen. Eine Woche Bahn und Kälte, es gab wahrscheinlich Schlimmeres.
Ich ließ mich von der Menschenmenge aus dem Zug treiben und hinauf zu Piccadilly, von wo aus es zum Glück nur noch Sekunden bis zum Theater waren. Heute standen nur die hartnäckigsten Raucher an der Bühnentüre, sie trugen dicke Jacken über den dünnen Kostümen. Ich schlüpfte rasch an ihnen vorbei ins Theaterinnere und war froh, als ich meine Garderobe einigermaßen warm anfinden konnte. Nachdem ich meine dicken Sachen ausgezogen hatte, sah ich wie immer zuerst meine Post durch; neben Autogrammwünschen und etwaiger Fanpost ließ ich auch alles, was meinen Job betraf, ins Theater schicken. Das Meiste ging ohnehin über meine Agentin, die sich häufig schon vor Eintreffen der Post telefonisch mit mir in Verbindung setzte. In den letzten Wochen hatte es immer mal Angebote gegeben, allesamt aus Deutschland, die ich abgesagt hatte: sie würden sich mit meinem Engagement hier überschneiden, und außerdem waren sie nicht so vielversprechend wie meine Rolle in Les Mis. Auch heute wartete immerhin ein A4-Umschlag auf mich. Ich ließ mich auf mein Sofa fallen, riss das Kuvert auf und zog mehrere Zettel heraus: ein Flyer, ein Ausschreibungsblatt und ein förmliches Schreiben. Der knallrote Schriftzug zwischen dem spitzzahnigen Gebiss sprang mir sofort ins Auge, ebenso wie das Firmenzeichen über dem Anschreiben: Stage Entertainment Germany. Ich zog die Brauen hoch und las, und während mir klar wurde, um was es sich handelte, versuchte ich, mein Herzklopfen zu ignorieren: offenbar lud man mich zur Audition für Tanz der Vampire – die Jubiläumstournee ein, um für die Rolle der Sarah vorzusingen. Alles in allem klang es allerdings, als sei das Vorsingen nur eine obligatorische Farce; das Schreiben klang durchweg positiv. Ich faltete das Schreiben zusammen und schob es zu den anderen Umschlägen, und auch meine aufgeregten Gedanken ordnete ich neu: ich hatte eine Doppelshow vor mir, die nächsten drei Tage aber frei. Erst dann, nahm ich mir vor, würde ich mir über dieses Angebot Gedanken machen.

Am nächsten Morgen wartete strahlender Sonnenschein vor den Fenstern. Als ich gähnend und fröstelnd die Treppe nach unten stieg, schwang sich Liam gerade umständlich in eine sitzende Position.
„Morgen“, murmelte ich und reichte ihm seine Krücken, die er nur unwillig benutzte. Ich ging ihm voraus in die Küche, um Frühstück zu machen. Während die Kaffeemaschine gluckerte, räumte ich den kleinen Esstisch, der viel zu oft als unnötige Ablage für allerlei Kram benutzt wurde, auf; dabei stach mir etwas ins Auge: der gleiche Flyer, den ich bekommen hatte, zusammen mit der Auditionausschreibung und einer Mail von Liams Agentin.
„Hey, das habe ich auch bekommen!“ Ich nahm den Flyer und überflog die Mail. Offenbar hatte Liam, anders als ich, nur die Information über die Audition von seiner Agentin bekommen. „Willst du da etwa hin?“
Liam ließ sich auf einen Stuhl fallen und rieb sich ungeduldig das Bein. „Ich bin nicht sicher“, erwiderte er. „Wieso, du etwa?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Na ja… warte.“ Ich eilte zur Garderobe und zog mein Schreiben aus der Tasche, um es Liam zu zeigen. Der las es mit gerunzelter Stirn.
„Wieso machen sie dir so ein direktes Angebot?“, fragte er gespielt gekränkt.
„Ich bin halt begehrt.“ Ich schenkte ihm Kaffee ein. „Hey, wäre es nicht cool, wenn wir da zusammen hingehen?“
„Ähm… ja, schon, aber… Na ja, du bist dann so gut wie genommen, schätze ich, aber ich war schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr auf der Bühne, weder hier noch in Deutschland. Meine Chancen sind also verschwindend gering.“
„Unsinn!“ Ich sah ihn an. „Du hast die richtige Stimme, bist groß und mit diesen langen Haaren bestimmt super-sexy.“
Er lachte. „Jaah, und wenn sie mich sehen, werden sie das Borchert-Seibert-Ammann-Karussel natürlich sofort anhalten und mich einsteigen lassen“, sagte er sarkastisch. „Verrückt, dass sie dich überhaupt anfragen. Hast du mir vielleicht irgenwelche niederländischen, italienischen oder spanischen Wurzeln verheimlicht?“
Diesmal lachte ich. „Du klingst aber ganz schön verbittert.“
„Na ja, Stage ist ja auch ziemlich abgesackt.“
„Aber verantwortlich für die größten Musicals in Deutschland.“
„Du meinst wohl, für die teuersten?“
Ich verdrehte die Augen. „Lass uns jetzt nicht darüber streiten. – Hör zu, ich rufe gleich mal Viktoria an und bespreche das mit ihr. Und dann können wir das diskutieren. In Ordnung?“
„In Ordnung.“ Er schielte auf den Flyer und klappte ihn auf. „Mann“, meinte er, „ich glaube, du hast Recht… ich wär’ ein echt scharfer Graf…“

Viktoria war alles andere als begeistert, als ich ihr von dem Angebot erzählte.
„Und du ziehst wirklich in Erwägung, da hinzugehen?“, fragte sie unüberhörbar skeptisch.
„Ich bin noch nicht sicher“, antwortete ich, etwas verwirrt durch ihren Ton. „Du weißt ja, Tanz der Vampire bedeutet mir viel.“
„Schon, aber…“ Sie seufzte. „Anouk, ist das nicht inzwischen unter deinem Niveau?“
„Unter meinem Niveau?“, echote ich fragend.
„Sarah ist eine nette Rolle, mehr aber auch nicht. Die meisten Leute stehen auf die Männer der Show, besonders auf einen, und das weißt du auch. Willst du wirklich dieses, nun ja, schmückende Beiwerk sein? Du spielst am West End, meine Güte! Dir stehen alle Türen offen, hier wie dort. Willst du dafür Fantine aufgeben?“
„Mein Vertrag läuft nur bis April“, entgegnete ich angriffslustig, gekränkt durch ihren mangelnden Enthusiasmus.
„Du weißt selber, dass du gute Aussichten auf eine Verlängerung hast. Außerdem – wenn du jetzt in England aufhörst und nach Deutschland kommst – für eine begrenzte Spielzeit von zwei Monaten – und dann wieder zurückkehrst… wie stehen dann deine Chancen?“
Ich schmollte.
„Als deine Agentin rate ich dir ganz klar von der Rolle ab, das muss ich ehrlich sagen.“
„Und wenn ich es trotzdem mache?“ Ich klang wie ein rebellierender Teenager, deshalb setzte ich rasch hinzu: „Ich meine, nur mal angenommen?“
„Ich weiß nicht, Anouk. Aber wenn du gegen meinen Rat handelst und einen Misserfolg erlebst, wirft das auch ein schlechtes Licht auf meine Agentur, verstehst du?“
„Aber…“… es geht doch hier um mich!, wollte ich rufen, verkniff es mir aber. „Okay“, sagte ich. „Ich werde noch darüber nachdenken.“
„Das dachte ich mir“, seufzte sie. „Ich werde es auch. Und vorsichtshalber“, sie klang resigniert, „werde ich mich auch schon mal nach Projekten im neuen Jahr umsehen…“
Ich musste grinsen: sie kannte mich, trotz aller Mahnungen, inzwischen mehr als gut: sie wusste, dass ich es nicht bei „darüber nachdenken“ bewenden ließ.
„Danke, Viktoria!“
Sie legte mit einem Brummen auf.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 03.09.2017, 20:33:05

Ach sieh an. Da hatte ich gerade das Gefühl, sie hat sich in London eingelebt. Ich fände es ehrlich gesagt besser, wenn sie dort bleibt oder nur ein kurzes Gastspiel gibt bei TdV, weil ich es schade finden würde, wenn es bei den beiden zu Problemen kommen würde, wo doch gerade alles so gut läuft. Danke für den schnellen neuen Teil, das finde ich super!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 09.10.2017, 18:08:56

Entschuldigt den kurzen und etwas nichtssagenden Teil, der nächste wird besser :lala:

Während der englische Winter langsam zu einem nasskalten Vor-Frühling wechselte, die Straßen wieder schneefrei wurden und die Tage allmählich länger, stellten Liam und ich unser gerade zur Ruhe gekommenes Leben in London auf den Kopf. Alle Ereignisse zogen so schnell und wechselhaft an uns vorüber, dass wir erst wieder zu Atem kommen konnten, als alles vorüber und geregelt war – und da war es bereits Ende Februar.
Es hatte damit begonnen, dass ich gegen alle Einwände nach Deutschland geflogen war. Der Aufenthalt hatte nicht mehr als zwölf Stunden gedauert, und ich hatte von meinem Heimatland nicht mehr als ein muffeliges Hotelzimmer, einen Auditionraum und ein kleines Büro gesehen. Wie ich es mir gedacht hatte, handelte es sich um ein eher unnötiges Vorsingen: die Jury, der ich zuvor einige Aufnahmen hatte zukommen lassen, wollte lediglich einen frei gewählten Song hören, ehe sie schon zu vertraglichen Dingen kam. Mir war dabei nicht ganz wohl; es war nach wie vor ungewohnt, eine Rolle so direkt und ohne die üblichen Auditions angeboten zu bekommen. Love never dies war ein großes Abenteuer gewesen, zu schön, um wahr zu sein oder sich gar zu wiederholen. Nun aber schien es Routine zu werden, zu den „Großen“ zu gehören. Manchmal kam mir das immer noch ungeheuerlich vor.
Zu meiner Überraschung zeigte sich Viktoria zugänglicher, als sie es am Telefon gewesen war.
„Also, drei Monate Vampire in Stuttgart, Juli bis September. Das macht nach Les Miz zwei Monate Leerlauf, abzüglich Proben… anderthalb. In der Zeit werden wir uns um die Zeit danach kümmern. Ich nehme an, dass du einiges in Deutschland finden wirst, aber ich denke, London wäre dir lieber?“
So ging es unaufhörlich. Ich nickte dazu, ohne richtig hinzuhören, weil ich einfach nur sehr glücklich war, dieses Engagement bekommen zu haben. Ich hatte dabei nicht das Gefühl, mich herabzusetzen oder unter meinem Niveau zu singen; abgesehen davon, dass Sarah gesanglich durchaus eine anspruchsvolle Rolle war, zählte für mich einzig das Gefühl, künstlerisch erfüllt zu sein. Vielleicht sagte sich das leichter, wenn man finanziell abgesichert war; ich wusste es nicht. Aber ich wusste, dass ich nicht Partien singen wollte, die meinem Status gerecht wurden, obwohl sie mir vielleicht nicht zusagten. Ich wollte mich ausprobieren, Neues wagen, etwas, das ich mich früher viel zu selten getraut hatte.

Sowie mein Vertrag unter Dach und Fach und Liams Bein wieder einsatzfähig war, ging es für ihn nach Deutschland, um sich für die Rolle des Grafen zu bewerben. Insgeheim glaubte ich kaum, dass er eine Chance hatte, zumindest nicht auf die Erstbesetzung, da es sich um eine Jubiläumsproduktion handelte und sie die Hauptrollen sicher schon vorher festgesetzt hatten, so wie sie es bei mir getan hatten. Andererseits handelte es sich bei der Auswahl des Alfreds um einen unbekannten Darsteller aus Schweden, sodass ich absolut nicht einschätzen konnte, wie man entscheiden würde. Ich hatte Liam bei den Vorbereitungen geholfen und hatte ihn noch nie als so gut wahrgenommen: nicht nur stimmlich passte sein weicher Bariton zu der Rolle, auch seine Größe und die Eleganz, mit der er sich schon immer hatte bewegen können würden ihm sicherlich zupass kommen.
Nach den Auditions vergingen einige Tage, die im Nachhinein am besten mit „die Ruhe vor dem Sturm“ bezeichnet werden konnten: jeder ging seiner Arbeit nach, Liam machte sich zwar große Hoffnungen, schien sich aber sicher zu sein, nicht genommen zu werden; der Schock war darum umso größer, als eines regnerischen Nachmittags das Telefon klingelte und Liam, der gerade von der Arbeit kam, pitschnass abnahm und das Rollenangebot fassungslos entgegennahm.

So standen also die Dinge: Liam und ich würden für drei Monate als Graf von Krolock und Sarah auf der Bühne stehen. Noch in der selben Nacht, nachdem er die feste Zusage hatte, planten wir das weitere Vorgehen.
„Ich denke, wir sollten uns für die Zeit eine Wohnung nehmen“, überlegte Liam. „Ein Hotel wäre vielleicht etwas zu beengt, meinst du nicht?“
„Ich weiß nicht.“ Ich streckte mich und spielte mit dem Zipfel meiner Bettdecke. Obwohl es spät war und ich eine Vorstellung gespielt hatte, war an Schlaf nicht zu denken. „Wahrscheinlich. Was machen wir mit unserer Wohnung? Vermieten?“
Liam verzog das Gesicht. „Ungern, ehrlich gesagt. Bestimmt kann sich jemand darum kümmern, während wir weg sind…“
Wir schwiegen eine Weile.
„Ein bisschen komisch finde ich das schon“, sagte ich nach einigen Minuten und sah ihn an. „So als Paar zu spielen.“
Er lachte. „Ist das eine deiner vielen Sorgen?“
„Nein, ich habe das nur noch nie gemacht. Ich meine, die Fans werden vielleicht irgendwelche… Privatismen in bestimmte Handlungen hineinlesen, die gar nicht da sind.“
Er hob eine Braue. „Heißt das, du findest mich nicht anziehend, verführerisch und sehr romantisch?“
Diesmal war es an mir zu lachen. „Oh doch“, erwiderte ich und küsste ihn. „Krolocks finde ich immer anziehend, verführerisch und ein bisschen romantisch.“
Hätte ich an diesem Abend schon die komplette Castliste in der Hand gehabt, hätte ich meine Worte vielleicht etwas sorgsamer gewählt. Erst, als Viktoria mir die Liste des vollständigen Ensembles mailte, dämmerte mir, dass dieses Engagement nicht so traumhaft schön und luftig-leicht werden würde, wie ich es mir zugegebenermaßen schon seit einigen Wochen in den rosigsten Farben ausmalte. Als Nightmare solo und alternierender Krolock war nämlich niemand anderes angegeben, als Alexej Ivanow.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 10.10.2017, 11:51:29

Oy, das kann ja heiter werden :-). Aber schön, dass sie mal was zusammen machen, obwohl ich mir das auch nicht ganz einfach vorstelle. Und was macht Liams Schule solange?

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 10.10.2017, 20:34:27

Ich mag den Teil. Ich freue mich immer wenn es weitergeht, schaffe jedoch nicht immer zu antworten, lese aber fleißig mit. Bitte bald weiter.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 19.10.2017, 17:46:19

Schön, dass es euch gefällt :)

Was machte Alexej Ivanow ausgerechnet jetzt im Vampir-Ensemble? Ich stellte mir diese Frage wohl an die hundert Mal, ohne eine passende Antwort zu finden. Dazwischen war ich im Begriff einige sehr dumme Dinge zu tun, meine Agentin anzurufen, zum Beispiel, oder Liam; ich war sogar versucht, die Mail sowohl in meinem als auch in seinem Mailaccount zu löschen, um einer Konfrontation vorerst aus dem Weg gehen zu können. Erst, als die erste Panik abebbte, konnte ich wieder klarer denken.
Diese ganze Geschichte mit Alexej war schon ein paar Jahre her, und es handelte sich um einen einmaligen Ausrutscher zu einer Zeit, in der Liam und ich uns in einer etwas schwierigen Phase befanden. Inzwischen dachte keiner von uns mehr daran, wir hatten wieder zueinander gefunden und unser eigenes Leben aufgebaut – wir hatten sogar schon über Heiraten und Kinder gesprochen! Womöglich würde Liam mit dem Namen Alexej Ivanow gar nichts anfangen können. Und gesehen hatte er ihn bei den Auditions auch nicht, zumindest hatte er nichts erwähnt – was entweder bedeutete, dass er ihn nicht erkannt hatte, oder dass Alexej auf anderen Wegen in das Ensemble gefunden hatte.
Ich beschloss also, allem seinen Lauf zu lassen und Liams Reaktion abzuwarten. Ein Gespräch im Voraus zu planen würde – das wusste ich aus eigener Erfahrung – zu nichts führen. Und wenn er nichts bemerkte, warum sollte ich die Vorfreude auf die Produktion trüben?
Trotzdem war ich in sehr angespannter Stimmung, als ich am Nachmittag seinen Schlüssel in der Haustüre hörte. Um Gelassenheit vorzutäuschen, setzte ich mich auf das Sofa und gab vor, in einer Illustrierten zu blättern.
„Hallo, Schatz!“, rief er, offenbar in bester Laune, noch vom Hausflur aus.
„Ach, Hallo!“, erwiderte ich, als hätte ich ihn gar nicht bemerkt (und kam mir im selben Moment albern vor). Der überschwängliche Kuss, den er mir auf die Stirn drückte, ließ mich meine Vorsicht für einen Moment vergessen.
„Ist irgendetwas Besonderes passiert?“
„Ach, nichts Besonderes. Nur, dass ich Graf von Krolock spiele, ich nach dem Engagement die Möglichkeit habe, wieder weiter an der Schule zu unterrichten, wenn ich will und… ach ja:“ Er strahlte mich an. „Nicht zu vergessen, dass wir gemeinsam auf der Bühne stehen, zum ersten Mal!“
Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. „Klingt, als wäre dir das gerade erst klar geworden?“
„Ich muss zugeben, ich musste erst mal eine Nacht drüber schlafen und es ein paar Kollegen erzählen, ehe ich es so richtig verstehen konnte.“ Er verstand in der Küche und wenig später hörte ich die Kaffeemaschine blubbern. Der unwiderstehliche Drang, etwas Unvernünftiges zu tun, nur um in profanen Angelegenheiten Sicherheit zu haben, kam in mir auf, und ich zögerte nicht mehr als zwei Sekunden, ehe ich beherzt rief: „Hast du auch schon die Castliste gelesen? Sie ist heute mit der Mail gekommen.“
„Oh, ja.“ Seine Antwort klang unbekümmert. „Sicher, aber es war kaum jemand dabei, den ich kannte.“
„Ja, die meisten sind mit Neulingen besetzt“, antwortete ich und warf erleichtert die Zeitung beiseite. Ein Blick auf die Uhr sagte ohnehin, dass ich mich auf den Weg ins Theater machen sollte.
„Bis auf einige Namen im Ensemble kenne ich niemanden.“ Liam kam ins Wohnzimmer, gerade als ich im Flur in meine Jacke schlüpfte. Ich erstarrte.
„Ach, äh, ja? Und… wen?“
„Ach, zwei Holländer, die ich vom Phantom kenne, einer war, glaube ich, ein Rauol-Cover.“ Er lehnte sich an den Türrahmen. „Bevor du deine Derniere hast, will ich auf jeden Fall noch mal eine Vorstellung sehen.“
Ich lächelte ihm matt zu. „Ich besorge dir ein Ticket“, entgegnete ich, ehe wir uns verabschiedeten.
Auf der Straße atmete ich kurz tief durch. Das war doch leichter, als ich dachte. Liam schien keine Ahnung zu haben, wer da im Ensemble war; und so, wie er die beiden „Bekannten“ aus dem Ensemble beschrieben hatte, keimte in mir die Hoffnung, dass er ein bisher ungeahnt schlechtes Namensgedächtnis hatte. Ich schüttelte mich leicht und damit alle Sorgen und Ängste ab, ehe ich beschwingten Schrittes zur Subway-Station ging. Bis zum Probenbeginn war es noch lange hin. Also bestand gar keine Eile, sich einen Notfallplan zurecht zu legen. Das konnte ich nach meiner Derniere immer noch machen.

In meinem Bestreben, unangenehmen Konfrontationen möglichst lange aus dem Weg zu gehen, hatte ich mal wieder die Tatsache übersehen, dass die Zeit ein unberechenbares Phänomen ist: mal rennt sie, mal schleicht sie, und wenn man viel zu tun hat, macht sie geradezu große Sprünge.
Nach meiner Derniere bei Les Misérables blieben uns noch eineinhalb Monate in London, um eigene Angelegenheiten zu klären. Liam, der noch einen Monat an der Schule arbeiten würde, richtete es ein, dass ich ein- bis zwei Mal in der Woche Workshops geben konnte. Zwei Mal reiste ich im Voraus für einige Tage nach Deutschland, wo für meine Kostüme Maß genommen sowie beim Zahnarzt ein Abdruck für mein Vampirgebiss gemacht wurde; außerdem besichtigte ich kurz die für uns vorgeschlagenen Wohnungen. Wir entschieden uns recht schnell und unkompliziert für eine kleine Erdgeschosswohnung nahe der Stadt, die möbliert vermietet wurde. Wir stellten beide keine allzu großen Ansprüche an unsere Unterkunft, da wir London als unsere eigentliche Heimat ansahen und Tanz der Vampire nur eine Art Gastauftritt für uns darstellte.
Auch Liam reiste aus gleichen Gründen, aber an anderen Terminen für ein paar Tage nach Deutschland, hatte aber anscheinend keine verstörende oder anderweitig negative Begegnung, sodass ich den Gedanken auf das bevorstehende Aufeinandertreffen zwischen meiner Beziehung, meiner Affäre und mir erneut erfolgreich beiseite schob.
Was meine Zukunft betraf, begab ich mich erneut auf unsichere Pfade, indem ich entschied, keine feste Verpflichtung wie eine Konzertreihe einzugehen. Falls der Fall einer Vertragsverlängerung oder eines anderen verlockenden Engagements in Deutschland eintreten sollte, wollte ich mich trotz meiner Wohnsitzverlegung nicht im Vorhinein dagegen sperren.
So reisten wir an einem wechselhaften Tag von London nach Stuttgart, wo wir nur einen Tag vor Probenbeginn aufschlugen. Ich hatte so lange wie möglich in London bleiben wollen und Liam auch, sodass wir unsere Abreise auf den letztmöglichen Tag geschoben hatten. Der Probenplan lag uns schon vor; Liam und ich würden nach zwei Wochen Proben ein Put-In haben und anschließend nur noch mit dem ganzen Ensemble proben. Da ich die Show bereits gespielt hatte und kaum mit Änderungen rechnete, machte ich mir keine großen Gedanken; Liam sah der kurzen Probenzeit in Angesicht seiner großen Rolle schon ein wenig bedenklich entgegen. So konnte ich ihm auch am ersten Probentag seine Nervosität anmerken, auch wenn andere das bestimmt nicht taten: er spielte die Rolle des gelassenen Darstellers so gekonnt, dass ich vor einigen Jahren vermutlich noch selbst darauf hereingefallen wäre. Als wir das Gebäude, in dem sich die Probebühne befand, betraten, hängte ich mich bei ihm ein, seine Worte vom letzten Abend noch im Ohr: „Ich habe ziemlich lange nicht mehr als Darsteller gearbeitet… ich hoffe, ich mache mich nicht lächerlich.“ Es war humorvoll formuliert, aber ich hatte die Sorge zwischen den Zeilen gelesen. Über all dem konnte ich meine eigene Angespanntheit ein wenig vergessen.
Wir waren weit vor der Probenzeit da, gemäß der alten Schauspielregel Zu spät ist gefeuert, pünktlich ist zu spät, zu früh ist richtig, und wurden vom Regieassistenten begrüßt. Er hieß Antoine, sah so jungenhaft aus, dass ich mir ein liebevolles Lächeln verkneifen musste und hatte einen hinreißenden Akzent, der ihn als Franzosen auswies.
„Sie werden wohl ein wenig warten müssen“, sagte er, während er uns voran ging, „ein Teil der Proben haben sich in die Länge gezogen. Ich zeige Ihnen solange, wo Sie Ihre Sachen aufbewahren und die Probenkostüme finden können.“ Wir kamen an einer schweren, eisernen Doppeltüre vorbei, hinter der dumpf ein tiefer Gesang und vertraute Melodien erklangen. Antoine wies im Vorbeigehen darauf. „Alexej probt noch sein Cover, er ist ja auch ein Graf. Aber er wird die Bühne gleich für Sie bereit machen.“ Er lächelte Liam über die Schulter zu. Der blieb kurz stehen. Ich bemerkte es erst, als ich schon einige Meter war und seine Stimme zu mir klang.
„Alexej?“
Ich drehte mich um. Liam kratzte sich am Kopf. „Alexej…“, murmelte er wieder, sah mich kurz an und schüttelte dann den Kopf, als schmunzelte er über sich selbst. Als er aufholte, legte er im Gehen den Arm um mich, aber ich spürte es kaum: mich überrann es heiß und kalt, während der richtige Augenblick, ihn aufzuklären, kam und ging. Es war offensichtlich, dass er den Namen Alexej mit jenem „Nebenbuhler“ assoziiert hatte und im Glauben, sich zu irren, über sich selbst lachen musste. Hatte er wirklich keine Ahnung? Anscheinend nicht. Ich beobachtete ihn, während er den Probenumhang umband und ich mich ebenfalls umzog. Wahrscheinlich hielt er einen solchen Zufall ebenso wie ich für einfach unmöglich. Dass es leider ziemlich wirklich war, konnte ich einfach nicht über die Lippen bringen. Wie auch? Sollte ich einfach sagen: „Ach, übrigens, Alexej ist dieser Typ, mit dem ich mal geschlafen habe, aber kein Problem!“? Nach zwei Monaten, in denen ich dazu Zeit gehabt – und es immer wieder vehement aufgeschoben hatte - , hatte ich die Chance, alles auf humane Weise zu klären, verspielt. Zu allem Überfluss konnte ich überhaupt nicht einschätzen, wie Liam reagieren würde: eifersüchtig, wütend, gekränkt? Oder würde er es gelassen nehmen?
„Jetzt siehst du aber nervös aus.“ Liam riss mich aus meinen Gedanken und hielt mir die Hand hin. „Komm, wir gehen schon mal. Ich würde mein Cover gern begutachten, damit ich weiß, was ich besser machen kann.“ Er zwinkerte mir zu, und ich folgte ihm mit klopfendem Herzen.
Was ich rette, geht zu Grund
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 20.10.2017, 01:58:16

Das könnte ja recht unangenehm werden. Aber irgendwie verstehe ich auch, dass sie es nicht angesprochen hat. Ich hoffe nur, es wird nicht allzu schlimm...

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 27.10.2017, 18:08:24

Danke für deine Reaktion :) Hier die Antwort:

Wir wurden durch einige Teammitgliedern in Vampir-Shirts so leise wie möglich eingelassen. Auf der Probebühne wurden gerade Anweisungen und Vorschläge ausgetauscht, und wir schoben uns leise in die hinterste der locker aufgestellten Stuhlreihen. Ich starrte umher, begrüßte lautlos einige Ensemblemitglieder und beobachtete aus dem Augenwinkel Liam.
„Okay, und noch mal den letzten Teil. Ruhe bitte!“ Die durchdringende Stimme der Sprechenden irgendwo weiter vorne ließ mich zusammenfahren und sorgte augenblicklich für Ruhe. Zeitgleich mit dem Klavier begann Alexej, ein letztes Drittel der Gier anzustimmen, und ich konnte geradezu sehen, wie die Zahnräder hinter Liams Stirn klickend ineinander griffen und ihm passend zu Alexejs Namen ein Gesicht, eine Geschichte und ein paar unangenehme Gefühle eingaben. Ich beobachtete, wie seine Lippen den Namen des Sängers formten, ehe er mich so schnell ansah, dass ich nicht mehr rechtzeitig wegschauen konnte. Die Schuld schien mir auf dem Gesicht zu stehen.
„Ist das…?“
Ich griff nach seiner Hand. „Ja…“
Er musterte mich. „Du siehst aus, als wüsstest du schon länger mehr als ich.“
Ich musste nicht antworten. Er wieder nach vorne und beobachtete mit schmalen Augen Alexej.
„Liam“, flüsterte ich, „es tut mir wirklich leid… Ich wusste nicht, wie ich mit dir darüber reden sollte. Und eigentlich gibt es ja gar nichts zu reden. Es wird gar keine Probleme geben.“ Ich drückte seine Hand, um meine Worte zu bekräftigen. Vorne endete das Lied und ein kleiner Tumult kam auf, als alle Darsteller sich erhoben oder in ihren Texten blätterten. Liam lächelte mir zu. „Natürlich nicht“, sagte er ruhig. „Warum sollte es Probleme geben? Ivanow weiß inzwischen sicher genau, wem du… zugetan bist.“
Ich starrte ihn an. Natürlich war ich mehr als froh, dass der erwartete Konflikt ausblieb. Andererseits gab es mehrere Kleinigkeiten, die mich an seiner Reaktion beunruhigten: die Tatsache zum Beispiel, dass er Alexej beim Nachnamen nannte, meines Erachtens nach ein untrügliches Zeichen von gefühlter und gezeigter Überlegenheit sowie Herabsetzung des Anderen; seine etwas zu ausgeprägte Lockerheit und das Lächeln, das fast etwas grimmig-entschlossen wirkte.
Da wir beschlossen hatten, unsere Beziehung während der Proben nicht offen auszuleben, lösten wir unsere Hände voneinander und begaben und, brav hintereinander hergehend, in den vorderen Hallenbereich. Hier konnte ich sehen, dass mehrere Platten glänzenden Tanzbodens aneinander zu einer langen und recht tiefen Probebühne gelegt waren; an den Rändern waren einige nicht allzu sperrige Kulissenteile wie zwei Betten, die große und die kleine Badewanne, einige Särge sowie mehrere kleinere Möbelstücke gelagert. Die Traversen, die sich durch den Lagerhallencharakter der Räumlichkeiten ohnehin überall fanden, waren teilweise mit verschiedener Technik wie Lautsprechern und Scheinwerfern ausgestattet. Offenbar wurde die Halle für mehrere Zwecke verwendet; der vordere Teil mit der Bühne, den Kulissen, dem Klavier und den Stuhlreihen bildete den eigentlichen Proben- und Vorbereitungsraum; von dort aus konnte ich die hintere Hallenhälfte gut überblicken, in der sich ein langer Tisch, Schneidereiutensilien und einige Kostümteile befanden.
Liam begrüßte zwei Ensemblemitglieder (diejenigen, die er von seiner Zeit als Phantom kannte), und ich kam über diverse Begrüßungen ebenfalls ins Gespräch: zunächst mit einer Tänzerin, die schon zu meiner Zeit als Sarah den weiblichen Nightmare-Part getanzt hatte, anschließend mit dem Alfreddarsteller Arjen und dem Sarah-Cover Elena, eine nette Halb-Spanierin, so zierlich und klein, dass sie wahrscheinlich gleich zwei Mal unter Liams weiten Umhang passen würde. Neben meinem London-Aufenthalt waren natürlich die bisherigen Proben ein wichtiges Gesprächsthema; besonders Arjen konnte die Abläufe sehr pointiert nacherzählen und das Ganze durch seinen ulkigen Akzent noch abrunden. Ich erfuhr so rasch, welche Schneiderin ungeschickt mit den Nadeln war, wie viel es über den naiven Regieassistenten tatsächlich zu lachen gab und dass das Ensemble noch in der Kennenlernphase steckte, sich aber immer mehr einer angenehmen Vertrautheit näherte.
„Wie lange probt ihr denn schon?“, erkundigte ich mich.
„Seit ungefähr zwei Wochen“, antwortete Arjen. „Wir haben ziemlich wacklig begonnen, die Hälfte Erst- die andere Hälfte Zweitbesetzung proben lassen, jetzt sind wir erst richtig komplett mit euch und noch ein paar anderen. Es läuft aber ganz gut.“
„Ja, ich bin schon gespannt auf den echten Grafen!“ Elena warf mir ein schelmisches Grinsen zu. „Liam habe ich mal als Phantom gehört, irgendwie war es ja wohl nicht so toll für die meisten, aber ich habe ihn geliebt. Nimm es mir nicht übel wenn ich hoffe, dass du recht viele Off-Termine hast!“ Sie sagte das alles in einer so zwanglosen, schelmischen Art, dass ich es ihr gar nicht übel nehmen konnte. Ich wurde sogar ein wenig übermütig:
„Ach, ist Alexej denn nicht zu deiner Zufriedenheit?“
„Oh, doch, er ist toll. Aber du hast doch auch schon mit ihm gespielt?“
„Oh, äh, ja, stimmt…“
„Habt ihr euch schon begrüßt?“ Sie hob den Arm und winkte in die Menge.
„Nein…“, murmelte ich, „und es ist auch gar nicht… Aah…“ Mein Protest ging in Elenas Heiterkeit unter, und Alexej bahnte sich seinen Weg durch das schnatternde Ensemble.
„Hallo, Anouk“, sagte er, als er bei uns stand und hielt mir die Hand hin.
„Ah, hallo, Alexej“, murmelte ich und erwiderte den höflichen Gruß. Elena lobte ihn für seinen Auftritt gerade, und er dankte ihr herzlich, ehe er sich mir wieder zuwandte.
„Tja, was für eine Überraschung, nicht war?“ Um seinen Mund lag ein halb gequälter, halb ironischer Zug.
„Ja, das ist es“, antwortete ich, und gleichzeitig tauchte wie aus dem Nichts Liam neben mir auf.
„Alle ganz nett bisher“, murmelte er mir halblaut zu, und dann, als hätte er ihn erst jetzt bemerkt, begrüßte er Alexej. „Ach, Ivanow… Alexej!“ Nach dieser seltsamen Männerart nannte er ihn erneut beim Nachnamen, und ich spürte, wie sein Körper sich straffte, als er sich zu seiner ganzen Bühnengröße aufrichtete. „Was für eine Überraschung!“ Er reichte ihm gelassen die Hand.
„Ja“, sagte Alexej, „ich sagte auch gerade zu Anouk, ein ziemlicher Zufall, dass wir uns hier erneut treffen.“
„Ich meinte eigentlich eher, dass Sie… dass du die Zweitbesetzung spielst… Warst du damals in Berlin nicht Erstbesetzung? Und in Russland?“
„Ja, so war es. Dort war ich es vor kurzem erneut, für… es muss tatsächlich über ein Jahr gewesen sein!“
„Fantastisch! In Deutschland standest du also all die Jahre nicht mehr auf der Bühne?“
„Ebenso wenig wie du, nehme ich an.“
„Richtig. Anouk und ich“, er drückte mich kurz, aber unübersehbar an sich, „haben unseren Wohnsitz nach London ausgedehnt. Sicherlich hast du von ihren Engagements gelesen – sie waren ja auch nicht gerade klein! Ich habe ihre Karriere unterstützt und an einer Akademie für Musik und Schauspiel gelehrt.“
„Das ist sehr rücksichtsvoll.“ Der ironische Zug um Alexejs Lippen vertiefte sich. „Nicht jeden erfüllt die Bühne allein.“
„Oh, ich konnte sehr viele nützliche Erfahrungen sammeln, durch das Unterrichten. – Hast du in all der Zeit bloß den Krolock gegeben?“
„Durch eine Konzerttour habe ich dieses Engagement einige Male unterbrochen.“
„Na ja, trotzdem… ist das denn erfüllend? Als Darsteller?“
„Es hat mich auf jeden Fall sehr gut vorbereitet. Es war zum Glück gar nicht nötig, viel zu proben, ich kannte ja alle Abläufe schon und musste nur… wie sagt man – integriert werden.“ Er winkte ab. „Reine Routine, diese Rolle ist mir schon in Fleisch und Blut übergegangen. – Ah, da vorne ist Elena, ich muss noch etwas mit ihr absprechen…“ Er nickte uns zu, einen Ausdruck tiefer Belustigung im Gesicht, und verschwand im Gedränge hinter uns.
Ich hatte diesen Wortwechsel schweigend beobachtet und darüber nachgedacht, dass ich Männern nie ein solch subtiles Ränkespiel zugetraut hätte. Beide, Alexej und Liam, hatten mit einer Gewandtheit geplaudert, dass es für Außenstehende, die nicht genau hinhörten und –sahen, wie eine angeregte Unterhaltung zwischen zwei Kollegen gewirkt haben musste.
Liam wandte sich mir zu. Ich sah ihn an. „Touché“, stellte ich fest. Er blickte in die Richtung, in die Alexej verschwunden war. „Ja“, gab er unbekümmert zu, „aber es ist ja auch erst der erste Tag… Ich schätze, wenn wir uns erst mal warmgelaufen haben, kann das sehr interessant werden.“
„Liam, bitte“, wechselte ich auf die ernste Spur, „du hast ihm doch gerade zu verstehen gegeben, was du von ihm hältst. Willst du es nicht darauf beruhen lassen?“
„Nicht nach dem letzten Kommentar“, murmelte er. „Nur noch integriert werden… ha! Nach jahrelanger Routine ist das keine Kunst. Ich werde ihm zeigen, was einen Künstler wirklich ausmacht: rasche Auffassungsgabe, Spontaneität und Anpassungsfähigkeit!“
Die hilflose Erwiderung, zu der ich ansetzte, ging in einer Durchsage unter, die erst für Ruhe sorgte und dann den weiteren Tagesplan erläuterte. So hatte ich keine Gelegenheit mehr, Liam noch einmal zu bitten, sich in dieser längst vergangenen Angelegenheit zurückzuhalten. Alexej jedenfalls hatte den Eindruck gemacht, dass ihn Liams Feindseligkeit nicht besonders bekümmerte, sondern eher amüsierte. Liams wirkliche Einstellung zu dem Thema konnte ich allerdings noch nicht richtig einschätzen…
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 28.10.2017, 13:44:59

Schöne neue Teile mit unerwarteten Entwicklungen. Ich bin sehr gespannt wie es mit den dreien weitergeht!
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~


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