
In den ersten paar Tagen war Liam zu nichts zu gebrauchen: abwechselnd starrte er schlecht gelaunt vor sich hin, dann wieder befiel ihn ein Hoch, dass ihn dazu antrieb, mich zu motivieren und mir gut zuzusprechen, und dann zog er sich wieder zurück. Ich stellte mir vor, wie es wäre, Elisabeth würde abgesagt, und nahm es ihm nicht übel. Ein paar Mal kam er noch mit zu den Proben, die ihn immer in gute Laune versetzten, aber seine Jobsuche konnte nicht lange warten – eigentlich gar nicht. Auch die Hauptrolle in Elisabeth machte mich nicht reich, und nun hatte ich nicht nur für mich, sondern auch für Liam aufzukommen. Und es wurde merklich kälter, was ansteigende Heizkosten bedeutete. An sich kein Problem, war ich doch den ganzen Tag auf der Probe – aber nun war Liam da. Ich begann, mir das Taxi am Abend zu sparen, auch wenn das bedeutete, zwanzig Minuten auf den nächsten Bus warten zu müssen. Liam rührte sein Auto kaum mehr an, sondern machte sich meistens zu Fuß auf den Weg. Wenn ich abends nach Hause kam, durchforsteten wir bis in die Nacht sämtliche Schauspielerkataloge und Internetseiten, die es gab. Seine Agentin schickte ihm einige Angebote, davon drei Werbefilme – Rollkragenpullis, OBI und ein Adventskalender – , die er alle schnaubend ablehnte. Ich ermunterte ihn dazu, sich für Musical Allstars – Christmas Special zu bewerben, eine kleine, kurze Tour quer durch Deutschland.
Während Liam sich also wieder in die nervösen Vorbereitungen des Vorsingens begab, war ich die meiste Zeit des Tages abwesend. Die Zeit raste, und schnell hatten wir Ende November, und die Probentermine für die Weihnachtszeit kamen heraus: neben meinem freien Tag, immer Montags, gab man uns Heiligabend und den Abend des 25. frei. Das Ensemble wichtelte untereinander, ich zog Helene Hofer und hatte nicht die geringste Ahnung, was ich der Kaisermutter schenken sollte. Hinzu kam, dass ich überhaupt noch keine Weihnachtsgeschenke angedacht hatte. Während andere Leute durch die Geschäfte jagten, saßen wir um die Probebühne herum und feilten an Choreographien und Songs. Ich brannte darauf, endlich das Bühnenbild zu sehen und die Kostüme – die Perücken! – aber bis dahin würde es noch einige Monate dauern. Stattdessen gelang es mir an einem Tag, worauf man als Schauspieler ja immer wartet: das erste Mal verließ mich mein Ich und wurde zu meiner Rolle. Es dauerte nicht lange – wir übten gerade die Irrenhausballade und gingen sie schon zum gefühlt hundertsten Male durch – , aber mir wurde ganz anders zumute. Ab Wirklich frei macht wahrscheinlich nur der Wahnsinn war ein ganz seltsames Gefühl in mir, bedrückend. Richtig bewusst wurde ich mir des Gefühls erst, als ich mich daran zurückerinnerte – ich hatte noch nie etwas vergleichbares verspürt, irgendwie traurig und düster, ganz niedergeschlagen, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich es niemals im echten Leben fühlen wollte. Depressionen musste sehr anstrengend sein. Es dauerte danach wieder einige Wochen, bis etwas vergleichbares geschah. Tatsächlich denken viele, dass Schauspieler bei jeder Vorstellung vollkommen verschmelzen mit der Rolle. Die Wahrheit ist, dass es ein großes Glück ist, wenn man eine ganze Vorstellung lang wirklich alles um sich herum vergisst. Es gibt tausend Dinge, die man beachten muss – den Takt, die Schrittfolge, die Auftritte, die Bewegungen, die Mimik und Gestik – letzteres spielt sich ein und variiert natürlich, aber eine vollkommene Verschmelzung ist nicht die Regel. Wenn man sie aber erfährt, und sind es nur Sekunden, ist es ein wunderbares und erschreckendes Gefühl zugleich.
Liam erfuhr recht schnell, dass er bei der Tournee mitwirken durfte. Er hatte kaum Zeit, sich zu orientieren, da gab man ihm schon die ersten Probentermine und Auftritte.
„Nun, immerhin hast du jetzt etwas“, sagte ich, als wir uns in meiner Pause in einer Bar trafen. Es war eisig kalt, der erste Schnee war gerade gefallen und die Weihnachtsbeleuchtung draußen leuchtete heimelig. „Dass es Stress pur wird, damit war ja zu rechnen.“
„Ja, ich weiß. Dass ist ja auch nicht das Problem.“ Er sah düster aus dem Fenster auf die in dicke Mäntel gepackte Gestalten. Immer, wenn jemand die Bar betrat, wehte die kalte Luft zu uns herüber.
„Was dann?“
„Ich weiß nicht genau.“ Er lehnte sich zurück und drehte an seiner Kaffeetasse. „Ich bin nicht zufrieden damit.“
„Aber du singst ein paar tolle Sachen!“, versuchte ich ihn zu ermutigen.
„Ja, schon“, entgegnete er gereizt. „Aber das hier… das ist nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Es ist nichts… richtiges. Nicht…“
„Nichts großes?“, vollendete ich seinen Satz, nachdem er abrupt abbrach. Er schwieg, aber sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.
„Du hast das Phantom gespielt“, sagte ich vorsichtig, aber das war vielleicht nicht das richtige. Es betonte zu sehr, was mal gewesen war.
„Aber nicht sehr erfolgreich.“ Er seufzte. „Jekyll war die Gelegenheit. Ich war gut. Es war nicht zu groß, aber beachtenswert. Es hätte eine tolle Produktion gegeben! Das Ensemble war auch gut. Außerdem…“ Er zögerte kurz, dann sah er mich an. „Außerdem würde ich gerne länger bleiben. Bei dir. Ich vermisse dich.“
Ich senkte den Blick und starrte auf meine Hände, denn was hätten Tränen jetzt genützt?
„Ich weiß“, antwortete ich, als ich mich wieder gefasst hatte. „Ich vermisse dich auch. Elisabeth… ist eine ziemlich große Sache, weißt du?“
Er ergriff meine Hand und hielt sie über dem Tisch fest. „Elisabeth ist genau das richtige für dich!“, entgegnete er, diesmal sehr entschlossen und beinahe mahnend. „Ich war so gern auf den Proben und habe dir zugesehen. Es gibt nichts, das besser zu dir passen würde im Moment. Das Publikum wird dich lieben.“
Ich musste lächeln. Wie kam es, dass er nun mich aufbauen musste – wo er es doch viel nötiger hatte?
„Danke“, sagte ich. Und dann seufzte ich, als ich einen Blick auf die Uhr warf. „Liam, ich muss dringend los.“ Ich wollte aufstehen, aber er hielt mich zurück und ließ mich erst gehen, nachdem er mir einen langen Abschiedskuss gegeben hatte.
Als ich später am Abend nach Hause kam, brannte das Licht im Wohnzimmer, und umgeben von halb gepackten Taschen lag Liam auf der Couch und schlief tief und fest. Auf dem Tisch lagen verstreut mehrere Liedtexte. Ich nahm leise einige und sah sie mir an. Totale Finsternis, Dies ist die Stunde, Sterne… Na also, dachte ich bei mir, so schlecht sieht es gar nicht aus für ihn. Und dann entdeckte ich noch etwas, ein wenig versteckt unter alten Verträgen und mehreren Ausschreibungen. Die Schreiben fielen mir nur auf, weil sie in Englisch verfasst und an einigen Stellen von Liam mit Fragezeichen und Unterstreichungen versehen waren: Auditions für londoner Musicalproduktionen. Ein Stellengesuch für einen Dozenten an einer englischen Musikhochschule. Mein Herz schlug plötzlich schneller, und ich warf einen raschen Blick auf Liam. Er schlief immer noch, und so leise ich konnte schob ich alles wieder so zurück, wie es zuvor gelegen hatte. Dann weckte ich ihn.
„Geh ins Bett, Liam“, sagte ich leise und küsste ihn. „Ich komme gleich nach.“
Im Bad lauschte ich darauf, wie er aufräumte; ich hörte das Rascheln der Papiere. Mit klopfendem Herzen saß ich auf dem Badewannenrand. Konnte es sein, dass Liam zurück wollte? Dass er sich nach seiner Heimat sehnte? Wie lange hatte er seine Familie, seine Heimatstadt nicht mehr gesehen? Würde ich es so lange aushalten? Vermutlich nicht. Ich erinnerte mich an unser Gespräch heute Mittag – „Außerdem würde ich gerne länger bleiben. Bei dir. Ich vermisse dich.“ Liam brachte ein großes Opfer, um bei mir sein zu können – zumindest im selben Land. Ich fühlte mich schuldig, als ich mich fragte und mir eingestand, dass ich es nicht schaffen würde, mit ihm in ein anderes Land zu ziehen und zurückzustecken, um ihn in seiner Arbeit zu unterstützen.