Schön, dass du weiterliest
Hier der nächste Teil.
Einige Tage später, es war an einem Samstag, las ich das erste Mal von den städtischen Musicalwochen. Ich hatte bisher noch nie davon gehört und wunderte mich darüber, denn laut dem Artikel gab es sie schon seit einiger Zeit, und das sehr erfolgreich. Ich überflog den Artikel, dann las ich ihn noch einmal genauer, um ganz sicher zu gehen.
Gemeinsam mit der städtischen Musikschule wird auch dieses Jahr das erfolgreiche Projekt der Musicalwochen fortgesetzt. Hierfür werden ab dem 02.Mai (Dienstag) Darsteller zwischen 15 und 25 Jahren gesucht. Bewerben kann sich jeder, Erfahrungen in der Musikbranche sind nicht zwingend vorausgesetzt. Minderjährige sollten allerdings das Einverständnis ihrer Eltern mitbringen.
Auf Nachfragen der Redaktion, um welches Musical es sich dieses Jahr handele, konnte der Organisator der Veranstaltung, Oliver Pohl, bereits Auskunft geben: „Wir freuen uns sehr, auch dieses Jahr diese seit bereits 11 Jahren bestehende Tradition fortsetzen zu können. Besonders im letzten Jahr erzielten wir mit unserer Jugendproduktion von Chicago einen großen Erfolg. An den wollen wir anknüpfen. Daher fiel unsere Wahl auf das bekannte Broadway-Musical Wicked – Die Hexen von Oz. Es stellt uns vor eine große Herausforderung (…), der wir uns aber gemeinsam mit unseren Sängerinnen und Sängern stellen können.“ Ich warf einen Blick auf den Kalender. Der zweite Mai war bereits übernächste Woche. Ein wenig kopflos rief ich den Link auf, den die Zeitung neben dem Artikel abgedruckt hatte, und landete auf einer schlichten, aber ansprechend gestalteten Seite.
Musicalwochen, stand da in großen, geschwungenen Buchstaben. Ich überflog die Texte. Für das Casting wurden zwei Songs gefordert, laut der Seite würde eine Entscheidung bereits direkt nach dem Vorsingen getroffen werden. Wer es durch alle drei Durchgänge – das Casting, eine zweite engere Auswahl und ein Vorsingen ausgewählter Songs des Musicals – schaffte, war dabei. Ich druckte das Anmeldeformular aus und schickte Bertelin eine Mail mit dem Seitenlink.
Wir müssen dringend proben, schrieb ich.
Bertelin freute sich sehr über meine Entscheidung, bei dem Musical mitzumachen. Er setzte bereits für die nächste Woche vier zusätzliche Probestunden an, um mich auf das Casting vorzubereiten.
„Auf welche Rolle hast du es denn abgesehen?“, fragte er.
„Ich weiß nicht genau“, erwiderte ich. „Natürlich wäre Elphaba toll, aber… Ich freue mich, wenn ich es ins Ensemble schaffen sollte.“
Er schüttelte den Kopf. „Anouk, wann wirst du endlich anfangen, an dich zu glauben?“, fragte er, und es klang fast schon resigniert. Dann raffte er sich wieder auf. „Also, hast du schon Songs ausgesucht? Wenn nicht, ich habe hier einen ganzen Stapel, der sich eignen würde…“
Die Proben waren anstrengend. Ich setzte mich furchtbar unter Druck. Auch, weil meine Mutter dem ganzen sehr kritisch gegenüberstand.
„Was ist mit der Schule?“, fragte sie. „Für das Musical wird doch sicher viel geprobt?“
„Ja, aber das klappt schon“, versicherte ich ihr. „Es ist ja nicht mal gesagt, dass ich es überhaupt schaffe.“
Schließlich unterschrieb sie die Einverständniserklärung, aber man konnte ihr deutlich anmerken, dass sie meine Zuversicht nicht teilte. Ich hatte also einen doppelten Ansporn, ins Ensemble aufgenommen zu werden.
Der Tag des Castings kam schneller, als mir lieb war. Meine furchtbaren Zweifel meldeten sich wieder, auch wenn meine ausgewählten Songs –
Irgendwo wird immer getanzt aus
Mozart und mein sicherstes Lied,
Nur für mich – bombensicher saßen.
Das Casting fand in einem kleinen, etwas abgelegenen Theater statt. Am Kartenstand musste ich meinen Namen nennen, bekam einen kleinen Zettel in die Hand gedrückt und ein aufgesagtes „Viel Erfolg“ mit auf den Weg. Das Foyer, das direkt dahinter lag, war winzig klein und sehr voll. Und sehr laut. Jugendliche und junge Erwachsene aller Art tummelten sich zwischen abgestellten Taschen, zerknitterten Notenblättern, mitgebrachten Instrumenten. Viele saßen nur herum, mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen, andere gingen mit hektisch hin und her zuckenden Augen ihre Texte durch. Von überall her drangen Liedfetzen zu mir, am Fensterplatz rollten bereits Tränen. Die Luft war drückend und stickig. Aber das schlimmste war wohl das Mädchen, das sich neben der Garderobe einsang. Sie hatte eine Opernarie gewählt, ich erkannte sie wieder, und sie konnte so hoch singen, dass es beinahe schon unglaublich war. In jeder anderen Situation hätte ich ihr mit offenem Mund gelauscht, aber jetzt wollte ich sie einfach nur anschreien, endlich leise zu sein. Und damit war ich wohl nicht die einzige. Der Junge, neben dem noch ein paar Millimeter Bank frei waren, hatte Kopfhörer auf, aus denen irgendein schneller Beat drang. Um irgendetwas zu tun, steckte ich mir die Stöpsel meines Walkmans in die Ohren und hörte mir die letzten Aufnahmen von mir an, während ich gleichzeitig die Noten durchging. Es machte mich etwas ruhiger, auf meine Fehler zu lauschen und in die Texte zu kritzeln, wo ich auf was achten musste. Währenddessen ging die Tür zum Castingraum auf und zu, und eine gelangweilte Frau rief eine Nummer nach der anderen auf. Es gab viele, die weinten oder enttäuscht aussahen, aber auch beängstigend viele, die ihren Freunden oder Verwandten glücklich um den Hals fielen.
Irgendwann, als meine Nummer immer näher rückte, saß ich einfach nur noch da, starrte vor mich hin und dachte
Oje, oje, oje. Und versuchte, ruhig zu bleiben.
„Hey. Für wen singst du vor?“ Der Junge neben mir beugte sich vor. Er sah ganz nett aus. Und bewundernswert gelassen.
„Elphaba“, erwiderte ich. „Und du?“
„Fiyero.“ Er grinste. „Ich hoffe, ich werde genommen.“
„Ja, ich auch.“
„Nummer 137!“, rief die Frau. Ich sprang auf.
„Das bin ich.“
Oje, oje, oje… „Viel Glück. Ich drück’ dir die Daumen.“
„Danke.“ Ich schulterte meine Tasche und betrat den Castingraum. Es war ein sehr kleiner Theatersaal. Auf der ebenerdigen Bühne war ein Tisch aufgebaut, an dem fünf Menschen saßen, zwei Frauen und drei Männer. Einer war sehr rund, ein anderer ziemlich dünn und lang. Eine der Frauen guckte furchtbar streng.
„Hallo, Anouk“, sagte der runde Mann. Auf seinem Namensschild stand Walter, das passte. Und ganz rechts konnte ich Oliver Pohl erkennen, den Organisator von allem.
„Hallo“, sagte ich und stellte meine Tasche ab.
„Bist du sehr aufgeregt?“, fragte Walter. Ich zog es kurz in Erwägung, zu lügen, aber man sah mir die Nervosität wahrscheinlich zu deutlich an.
„Ja, sehr.“
„Völlig grundlos.“ Er lächelte. „Such dir einfach aus, welches Lied du vortragen möchtest, und wir werden dir eine Kritik geben.“
„Und zwar nicht so eine, wie Dieter Bohlen“, ergänzte die streng aussehende Frau. Ich musste grinsen. „Okay. Okay…“ Ich schüttelte meine Arme aus. „Ich singe
Irgendwo wird immer getanzt.“ Bertelin hatte gesagt, man sollte Risiken eingehen. Auch mal etwas singen, bei dem man vielleicht teilweise unsicher ist.
„Gut. Unser Pianist hat die Noten.“ Erst jetzt fiel mir der Mann auf, der etwas abseits an einem winzigen Klavier saß. „Sag Bescheid, wenn du so wie bist.“
„Bin ich.“
„Gut.“ Er nickte dem Pianisten zu, und er fing an zu spielen. Ich verpasste meinen Einsatz und stolperte über die ersten Zeilen.
„Oh nein, tut mir leid! So ein Mist.“ Ich merkte, dass ich knallrot wurde. „Darf ich noch mal anfangen?“
„Aber sicher. Keine Panik, Anouk.“
Der Pianist spielte wieder, und diesmal passte ich besser auf. Ich hatte trotzdem ein paar Holperer, einen kleinen Textfehler, der ihnen aber gar nicht entgehen konnte. Es war schwerer als sonst, sich auf das Lied einzulassen, vor allem, weil die Rolle, die es sang, so ganz anders war als ich. Aber nach dem Song konnte ich wieder jenes eigenartige Gefühl feststellen, dieses hineinstolpern in die Wirklichkeit. Als hätte ich geträumt. Oder wäre betrunken gewesen. Die Männer und Frauen vor mir tauschten Blicke, Gesten und stumme Wörter, dann nickten sie unisono.
„Wir würden gerne auch noch das andere Lied hören.“
Ich nickte. Der Pianist blätterte umständlich um und begann zu spielen. Ich fragte mich, ob er es eilig hatte. Er könnte mir ruhig ein Zeichen geben, wenn er anfing. Ich verhaspelte mich wieder direkt am Anfang, aber diesmal sang ich das Lied durch. Zwischen Eponines Zeilen fühlte ich mich wie immer sehr sicher, ich konnte ihre Gefühle spüren, ihre Verzweiflung. Ein Glück, dass ich dieses Lied ausgewählt hatte!
„Vielen Dank, Anouk.“ Diesmal war es Oliver Pohl, der sprach. „Ich kann nur für mich sprechen, aber ich schätze, meine Kollegen sehen es ähnlich: mir haben beide Lieder sehr gut gefallen. Es ist dir ziemlich gut gelungen, die Emotionen einzufangen.“
„Und auszudrücken“, ergänzte die Frau ganz links. „Deine Stimme ist sehr weich, aber ausdrucksstark, das gefällt mir.“ Sie sah die anderen an. „Ich würde gern mehr davon sehen.“
Die anderen nickten bekräftigend.
„Schön, Anouk, dann sehen wir uns morgen in zwei Wochen wieder.“ Er reichte mir einen neuen Zettel. „Wir hätten gerne noch ein neues Lied von dir, bitte keines von denen, die du heute vorgetragen hast.“
„Gut. Danke.“ Ich nahm meine Tasche und drückte das Blatt an mich. „Tschüss.“
„Wiedersehen, Anouk.“
Die Dame an der Tür rief bereits den nächsten auf, als ich an ihr vorbei ging. Der Junge von eben hielt mich zurück.
„Und?“
„Ich bin weiter.“
„Oh, toll! Wie sind die Leute da drin?“ Er sah besorgt aus.
„Ach, ganz nett.“ Ich war völlig durch den Wind. „Bis auf den Pianisten. Der ist schrecklich.“
„Mit so was hab’ ich Erfahrung“, entgegnete er grinsend. Ich hob die Hand zum Abschied, dann verließ ich das Theater. Draußen schien die Sonne, und meine Zukunft lag plötzlich vielversprechend vor mir.