Mich trägt mein Traum

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 07.11.2015, 13:22:26

Schön, dass ihr den Teil als realistisch anseht - ich hatte mich tatsächlich an den 3 Musketieren orientiert, wusste aber nicht, ob ich mit meinen Beschreibungen richtig liege. Danke für die Rückmeldungen :) Und weiter geht's!

In den ersten paar Tagen war Liam zu nichts zu gebrauchen: abwechselnd starrte er schlecht gelaunt vor sich hin, dann wieder befiel ihn ein Hoch, dass ihn dazu antrieb, mich zu motivieren und mir gut zuzusprechen, und dann zog er sich wieder zurück. Ich stellte mir vor, wie es wäre, Elisabeth würde abgesagt, und nahm es ihm nicht übel. Ein paar Mal kam er noch mit zu den Proben, die ihn immer in gute Laune versetzten, aber seine Jobsuche konnte nicht lange warten – eigentlich gar nicht. Auch die Hauptrolle in Elisabeth machte mich nicht reich, und nun hatte ich nicht nur für mich, sondern auch für Liam aufzukommen. Und es wurde merklich kälter, was ansteigende Heizkosten bedeutete. An sich kein Problem, war ich doch den ganzen Tag auf der Probe – aber nun war Liam da. Ich begann, mir das Taxi am Abend zu sparen, auch wenn das bedeutete, zwanzig Minuten auf den nächsten Bus warten zu müssen. Liam rührte sein Auto kaum mehr an, sondern machte sich meistens zu Fuß auf den Weg. Wenn ich abends nach Hause kam, durchforsteten wir bis in die Nacht sämtliche Schauspielerkataloge und Internetseiten, die es gab. Seine Agentin schickte ihm einige Angebote, davon drei Werbefilme – Rollkragenpullis, OBI und ein Adventskalender – , die er alle schnaubend ablehnte. Ich ermunterte ihn dazu, sich für Musical Allstars – Christmas Special zu bewerben, eine kleine, kurze Tour quer durch Deutschland.
Während Liam sich also wieder in die nervösen Vorbereitungen des Vorsingens begab, war ich die meiste Zeit des Tages abwesend. Die Zeit raste, und schnell hatten wir Ende November, und die Probentermine für die Weihnachtszeit kamen heraus: neben meinem freien Tag, immer Montags, gab man uns Heiligabend und den Abend des 25. frei. Das Ensemble wichtelte untereinander, ich zog Helene Hofer und hatte nicht die geringste Ahnung, was ich der Kaisermutter schenken sollte. Hinzu kam, dass ich überhaupt noch keine Weihnachtsgeschenke angedacht hatte. Während andere Leute durch die Geschäfte jagten, saßen wir um die Probebühne herum und feilten an Choreographien und Songs. Ich brannte darauf, endlich das Bühnenbild zu sehen und die Kostüme – die Perücken! – aber bis dahin würde es noch einige Monate dauern. Stattdessen gelang es mir an einem Tag, worauf man als Schauspieler ja immer wartet: das erste Mal verließ mich mein Ich und wurde zu meiner Rolle. Es dauerte nicht lange – wir übten gerade die Irrenhausballade und gingen sie schon zum gefühlt hundertsten Male durch – , aber mir wurde ganz anders zumute. Ab Wirklich frei macht wahrscheinlich nur der Wahnsinn war ein ganz seltsames Gefühl in mir, bedrückend. Richtig bewusst wurde ich mir des Gefühls erst, als ich mich daran zurückerinnerte – ich hatte noch nie etwas vergleichbares verspürt, irgendwie traurig und düster, ganz niedergeschlagen, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich es niemals im echten Leben fühlen wollte. Depressionen musste sehr anstrengend sein. Es dauerte danach wieder einige Wochen, bis etwas vergleichbares geschah. Tatsächlich denken viele, dass Schauspieler bei jeder Vorstellung vollkommen verschmelzen mit der Rolle. Die Wahrheit ist, dass es ein großes Glück ist, wenn man eine ganze Vorstellung lang wirklich alles um sich herum vergisst. Es gibt tausend Dinge, die man beachten muss – den Takt, die Schrittfolge, die Auftritte, die Bewegungen, die Mimik und Gestik – letzteres spielt sich ein und variiert natürlich, aber eine vollkommene Verschmelzung ist nicht die Regel. Wenn man sie aber erfährt, und sind es nur Sekunden, ist es ein wunderbares und erschreckendes Gefühl zugleich.

Liam erfuhr recht schnell, dass er bei der Tournee mitwirken durfte. Er hatte kaum Zeit, sich zu orientieren, da gab man ihm schon die ersten Probentermine und Auftritte.
„Nun, immerhin hast du jetzt etwas“, sagte ich, als wir uns in meiner Pause in einer Bar trafen. Es war eisig kalt, der erste Schnee war gerade gefallen und die Weihnachtsbeleuchtung draußen leuchtete heimelig. „Dass es Stress pur wird, damit war ja zu rechnen.“
„Ja, ich weiß. Dass ist ja auch nicht das Problem.“ Er sah düster aus dem Fenster auf die in dicke Mäntel gepackte Gestalten. Immer, wenn jemand die Bar betrat, wehte die kalte Luft zu uns herüber.
„Was dann?“
„Ich weiß nicht genau.“ Er lehnte sich zurück und drehte an seiner Kaffeetasse. „Ich bin nicht zufrieden damit.“
„Aber du singst ein paar tolle Sachen!“, versuchte ich ihn zu ermutigen.
„Ja, schon“, entgegnete er gereizt. „Aber das hier… das ist nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Es ist nichts… richtiges. Nicht…“
„Nichts großes?“, vollendete ich seinen Satz, nachdem er abrupt abbrach. Er schwieg, aber sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.
„Du hast das Phantom gespielt“, sagte ich vorsichtig, aber das war vielleicht nicht das richtige. Es betonte zu sehr, was mal gewesen war.
„Aber nicht sehr erfolgreich.“ Er seufzte. „Jekyll war die Gelegenheit. Ich war gut. Es war nicht zu groß, aber beachtenswert. Es hätte eine tolle Produktion gegeben! Das Ensemble war auch gut. Außerdem…“ Er zögerte kurz, dann sah er mich an. „Außerdem würde ich gerne länger bleiben. Bei dir. Ich vermisse dich.“
Ich senkte den Blick und starrte auf meine Hände, denn was hätten Tränen jetzt genützt?
„Ich weiß“, antwortete ich, als ich mich wieder gefasst hatte. „Ich vermisse dich auch. Elisabeth… ist eine ziemlich große Sache, weißt du?“
Er ergriff meine Hand und hielt sie über dem Tisch fest. „Elisabeth ist genau das richtige für dich!“, entgegnete er, diesmal sehr entschlossen und beinahe mahnend. „Ich war so gern auf den Proben und habe dir zugesehen. Es gibt nichts, das besser zu dir passen würde im Moment. Das Publikum wird dich lieben.“
Ich musste lächeln. Wie kam es, dass er nun mich aufbauen musste – wo er es doch viel nötiger hatte?
„Danke“, sagte ich. Und dann seufzte ich, als ich einen Blick auf die Uhr warf. „Liam, ich muss dringend los.“ Ich wollte aufstehen, aber er hielt mich zurück und ließ mich erst gehen, nachdem er mir einen langen Abschiedskuss gegeben hatte.
Als ich später am Abend nach Hause kam, brannte das Licht im Wohnzimmer, und umgeben von halb gepackten Taschen lag Liam auf der Couch und schlief tief und fest. Auf dem Tisch lagen verstreut mehrere Liedtexte. Ich nahm leise einige und sah sie mir an. Totale Finsternis, Dies ist die Stunde, Sterne… Na also, dachte ich bei mir, so schlecht sieht es gar nicht aus für ihn. Und dann entdeckte ich noch etwas, ein wenig versteckt unter alten Verträgen und mehreren Ausschreibungen. Die Schreiben fielen mir nur auf, weil sie in Englisch verfasst und an einigen Stellen von Liam mit Fragezeichen und Unterstreichungen versehen waren: Auditions für londoner Musicalproduktionen. Ein Stellengesuch für einen Dozenten an einer englischen Musikhochschule. Mein Herz schlug plötzlich schneller, und ich warf einen raschen Blick auf Liam. Er schlief immer noch, und so leise ich konnte schob ich alles wieder so zurück, wie es zuvor gelegen hatte. Dann weckte ich ihn.
„Geh ins Bett, Liam“, sagte ich leise und küsste ihn. „Ich komme gleich nach.“
Im Bad lauschte ich darauf, wie er aufräumte; ich hörte das Rascheln der Papiere. Mit klopfendem Herzen saß ich auf dem Badewannenrand. Konnte es sein, dass Liam zurück wollte? Dass er sich nach seiner Heimat sehnte? Wie lange hatte er seine Familie, seine Heimatstadt nicht mehr gesehen? Würde ich es so lange aushalten? Vermutlich nicht. Ich erinnerte mich an unser Gespräch heute Mittag – „Außerdem würde ich gerne länger bleiben. Bei dir. Ich vermisse dich.“ Liam brachte ein großes Opfer, um bei mir sein zu können – zumindest im selben Land. Ich fühlte mich schuldig, als ich mich fragte und mir eingestand, dass ich es nicht schaffen würde, mit ihm in ein anderes Land zu ziehen und zurückzustecken, um ihn in seiner Arbeit zu unterstützen.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 07.11.2015, 16:39:04

Juhu, es geht weiter - das freut mich!
Der erste Teil ist etwas durcheinander, da kann ich leider nicht ganz auseinanderhalten, was wann passiert. Außerdem kommen mir die Proben sehr lang vor. Eigentlich sind meist nur 6 Wochen eingeplant, vielleicht auch mal 8. Aber wenn es Monate dauern soll, bis sie das Bühnenbild sieht, während sie schon bei den Proben sind, klingt das nach einer zu langen Zeit.
Der zweite Teil ist wieder sehr relistisch. Ich hatte ganz vergessen, dass Liam aus England kommt. Ich bin sehr gespannt, was passiert und ob die beiden die kommende Zeit gemeinsam meistern werden.
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 09.11.2015, 12:39:33

Jetzt muss ich mal ein bisschen Kritik anbringen: Ich arbeite in der Branche, und von dem Gehalt einer Elisabeth-Erstbesetzung kann man locker zwei Personen durchfüttern, das würde sich selbst bei einer noch nicht so bekannten Darstellerin nicht unter 3000 Euro bewegen, eher noch - je nach Verhandlungsgeschick - deutlich darüber. Und ich meine netto.

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 13.11.2015, 17:29:01

armandine hat geschrieben:Jetzt muss ich mal ein bisschen Kritik anbringen: Ich arbeite in der Branche, und von dem Gehalt einer Elisabeth-Erstbesetzung kann man locker zwei Personen durchfüttern, das würde sich selbst bei einer noch nicht so bekannten Darstellerin nicht unter 3000 Euro bewegen, eher noch - je nach Verhandlungsgeschick - deutlich darüber. Und ich meine netto.

Ups, das wusste ich nicht... Ich dachte, wenn man nicht superberühmt ist, ist man in dieser Branche stets unterbezahlt. Danke, dass du das korrigierst!
Mit diesem Teil geht es weiter, inklusive Zeitsprung - die Proben sind tatsächlich zu lang geraten, ich habe da irgendwie was durcheinander geworfen...

Februar im neuen Jahr
Ich war frisch erkältet, und heute stand die erste Pressekonferenz an. Das war ja klar. Nervös zupfte ich an meinem Ärmelsaum herum. Julian, Elias und Karl waren mit von der Partie. Es war eigentlich keine große Sache: die Produzenten würden ein wenig über die Produktion und den Probenstand plaudern, wir würden versuchen müssen, Fragen zu beantworten ohne unsere Schweigepflichten zu verletzen und dann das unvermeidliche Ich gehör nur mir singen. Dank einem halben Röhrchen Anginetten Voice war ich zwar noch gut bei Stimme, trotzdem ziemlich aufgeregt. Ich hatte den Song noch nie live gesungen, wenn es darauf ankam, und das Video würde natürlich zu Werbezwecken genutzt werden. Stell dich nicht so an, Anouk. Du hast Love never dies glasklar geschafft, als du noch Schülerin warst. Da wirst du nun wohl auch diesen lappigen Song hinkriegen!
Die Interviews waren einfach und die Fragen größtenteils einfallslos und leicht: Sind Sie schon aufgeregt? Wie stehen Sie Ihrer neuen Aufgabe gegenüber? Werden Sie die ganze Spielzeit dabei bleiben? Auch der Song lief reibungslos, nur gegen Ende ging meine Nase zu, was dem Schlusston seine Intensität und Höhe nahm, aber ich war trotzdem zufrieden, und die Produzenten ebenfalls.
Der erste Meilenstein war geschafft. Ich fühlte mich sehr erleichtert, und das anstehende Treffen mit meiner Mutter, das mir zuvor so unrealistisch und in weiter Ferne erschienen war, machte mir nun Freude.
„Das hattest du auf der Konferenz an?“, war ihre erste Frage, als wir uns sahen.
„Natürlich nicht. Ich habe mich umgezogen“, antwortete ich belustigt. „Wenn du wissen willst, wie ich aussah, warte bis spätestens morgen – dann ist das Video sowieso draußen.“ Wir schlenderten los – wir waren verabredet zu einem Einkaufsbummel. Seit Weihnachten hatten wir uns nur sehr selten gesehen, und es sollte ein ausgiebiger Mutter-Tochter-Tag werden.
„Wie geht es mit den Proben voran?“, fragte sie.
„Och, ganz gut. In drei Wochen beziehen wir endlich das Theater, und dann dauert es nicht mehr lange bis zur Orchesterprobe und zum Fitting.“
Früher hätte sie mich sprachlos angesehen, aber jetzt waren ihr diese Begriffe sehr vertraut. „Bleibt es dabei, dass ich zur zweiten Preview komme?“
„Klar, alles schon abgeklärt. Und Premierenkarten darf ich mir auch bald sichern. Allerdings habe ich Linda versprochen, sie einzuladen, und Liam würde auch gern eine abgeben.“
„Kein Problem, ich zahle selber. Wie geht es Liam übrigens?“ Wir bogen in eine Boutique ab.
„Ganz gut, denke ich.“ Die Weihnachts-Tournee hatte ihm neue Möglichkeiten eröffnet – durch Unterhaltungen und Ratschläge untereinander hatte er einige wertvolle Auditiontermine von seinen Kollegen erfahren, und nach mehreren Absagen war er nun im Ensemble von Jesus Christ Superstar in Bielefeld. Die Erleichterung war für uns beide sehr groß gewesen.
„Er ist immer noch nicht zufrieden, aber er hat einen Job.“ Ich schob einige Kleiderbügel hin und her, ohne mir etwas richtig anzusehen. Mir brannte plötzlich etwas auf der Zunge, von dem ich nicht wusste, ob ich es aussprechen sollte.
„Ach, jeder hat mal ein Tief. Liam wird noch mal ganz groß rauskommen“, sagte meine Mutter. Wir verließen den Laden wieder und gingen langsam weiter.
„Manchmal glaube ich, er würde lieber aus Deutschland rauskommen“, murmelte ich. Sie sah mich von der Seite an. „Was soll das heißen?“
Ich zögerte erst, aber dann erzählte ich ihr von dem Abend, der nun schon drei Monate zurücklag, und den ich mich nie getraut hatte anzusprechen.
Meine Mutter hörte mir aufmerksam zu.
„Meinst du, er fährt irgendwann zurück?“, fragte ich ängstlich.
„Ich weiß nicht“, erwiderte sie. „Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen. Ihr seid nun schon so lange zusammen, und nie hat es auch nur den Ansatz eines Streites gegeben“ – hier musste ich mir ein Lachen verkneifen, „Ich glaube, Liam würde für dich für immer hier bleiben.“
„Ja, aber ich kann mir nicht vorstellen, im Gegenzug nach England zu ziehen“, erwiderte ich ehrlich.
„Das ist doch auch verständlich. Liam nimmt solche Trennungen vielleicht einfach leichter. Warum besucht ihr seine Familie nicht mal gemeinsam?“
„Das versuchen wir ja ständig. Aber im Moment ist es ganz schön schwer, terminlich auf einen Nenner zu kommen.“
„Verstehe.“ Sie hakte sich bei mir unter. „Ich bin sicher, dass du dir da keine Sorgen machen musst, Liebling. Du wirst sehen, irgendwann wird sich auch hierfür eine Lösung finden. Ich verstehe nur nicht, warum du nicht mit Liam darüber gesprochen hast…“

Ich kam völlig erschöpft von der Probe nach Hause. Das Ensemble wurde langsam ungeduldig, die Probenzeit zog sich nun schon so lange hin, und die Termine häuften sich: nächste Woche Kostümanprobe und Make-up-Fitting, darauf die Woche die Reise nach Wien und Pressefotos. Danach offizielle Fotos für das Programmheft. Dann eine weitere Pressekonferenz, und dann Hauptproben und Previews. Der morgige Montag würde vermutlich der letzte freie Tag sein, den ich unbeschwert genießen konnte… Ich schloss meinen Briefkasten auf und nahm alle Briefe heraus. Auf dem Weg nach oben sah ich sie kurz durch – Versicherung, Werbung, Sparkasse und – eine handgeschriebene Adresse ohne Absender. Ich erkannte die Schrift trotzdem sofort. Stirnrunzelnd schloss ich auf und riss den Brief auf, kaum dass ich im Zimmer stand. Darin lag ein einzelner Zettel:
Morgen 18.30 Uhr im Victorian.
Liam

Ich musste lächeln, das erste Mal seit vielen Tagen. Ich hatte nicht gewusst, dass Liam herkommen wollte. – Natürlich nicht, es sollte eine Überraschung sein. Plötzlich aufgeregt machte ich mich bettfertig, und bevor ich mich schlafen legte, lehnte ich den Zettel gegen die Kaffeemaschine.
Den nächsten Tag verbrachte ich mit wundervollem Nichtstun. Ich fühlte mich schon seit einigen Wochen niedergeschlagen und erschöpft, wie ich es zuvor nie gefühlt hatte, und ließ alle Bücher über Elisabeth geschlossen. Am Abend, als ich im Victorian ankam, erwartete Liam mich mit einem kleinen Strauss Mohnblumen, die ich so sehr mochte. Wir unterhielten uns über alles, was uns über den anderen entgangen war, über die Proben, über die Kollegen, einfach über alles, und es war ein unbeschwerter Abend, bis mir wie aus dem Nichts die englischen Ausschreibungen einfielen. Das verdarb mir die Laune.
„Du bist auf einmal so still.“ Liam sah mich über den Rand seines Weinglases an. Ich strich nervös über das Tischtuch.
„Ja“, antwortete ich zögernd, „es… gibt da etwas, was mich beschäftigt. Schon lange.“
Er stellte das Glas ab und sah mich gespannt an.
„Kurz vor deiner Tournee… da habe ich etwas gefunden. Durch Zufall… mehrere Auditions und Stellengesuche aus London. Und ich, na ja, ich habe mich gefragt, ob du nicht zurückwillst. Und ob ich dich daran hindere.“ Ein Blütenblatt fiel ab und sah wie ein Blutfleck auf dem Tischtuch aus, und ich musste kurz an Tanz der Vampire denken.
„Ich habe mit dem Gedanken gespielt“, antwortete Liam, und ich war erleichtert, dass er so ehrlich war. „Ich denke, dass ich in London noch einmal andere Möglichkeiten habe… weitere Möglichkeiten. Ich komme aus England und habe dort meine frühere Gesangsausbildung bekommen… ich hätte also gute Chancen.“ Er schwieg kurz. „Aber… ich sehe, wie glücklich du im Moment bist und wie erfolgreich. Es wäre vermutlich eher schlecht, wenn ich jetzt gehe, oder?“
„Es wäre immer schlecht!“, sagte ich und biss mir auf die Zunge. „Tut mir leid. Ich wollte damit nicht sagen, dass du gar nicht gehen sollst. Ich… weiß nur nicht, ob ich mitkommen wollen würde.“
„Ich weiß.“ Er lächelte mich an, und es war ein ehrliches, aufmunterndes Lächeln. „Reicht es dir, wenn ich dir versichere, dass ich fürs erste hier bleibe, mir fleißig Engagements suche und dich deinem Erfolg überlasse? Und dir rechtzeitig bescheid gebe, wenn es mich wieder nach Hause zieht?“
Ich lächelte zurück und nahm seine Hand. „Ja. Das reicht mir vollkommen!“
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 14.11.2015, 14:50:08

Ach wie schön, da bin ich aber erleichtert!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 14.11.2015, 17:27:00

Ein schöner Teil. Tatsächlich mal sehr ereignislos, aber toll.
Kurze Frage: Wenn Liam JCS in Bielefeld spielt, ist das dann so ne Produktion im Stadttheater, die nur wenige Termine hat oder Long-run? Bei ersterem könnte er die Zeit, die er nicht dort sein muss (sind ja oft nur vereinzelte Termine) bei Anouk verbringen, oder?
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 29.11.2015, 12:58:06

@Gaefa Es soll eher ein Long-run sein.
Hier ist der nächste Teil. Ich habe das Gefühl, dass ich im Moment sehr ereignislos und lieblos-schnell schreibe, im Sinne von sehr gerafften Abläufen. Das wird sich aber bald ändern, ich habe schon so viel für Anouks Zukunft geplant und geschrieben, dass ich gar nicht weiß, wie ich die Gegenwart füllen soll.


Endlich konnten wir das Theater beziehen. Ich freute mich, endlich auf der richtigen Bühne spielen zu können. Es bedeutete zwar wieder mehr Arbeit, denn die bisher gelernten Schritte und Bewegungen mussten an die Bühne angepasst werden, aber die letzten Wochen hatten sich hingezogen. Ich freute mich darauf, neue Herausforderungen zu meistern. Außerdem ging es bald nach Wien, und ich freute mich schon auf die Reise.
Als erstes bezog ich meine Garderobe, indem ich sie wie üblich einrichtete mit Kosmetik und persönlichen Gegenständen. Wenig später versammelte sich das gesamte Ensemble auf der Bühne, und über den Lärm der Bühnenarbeiten stimmte uns eine kurze Begrüßung im Theater und ein neuer Probenplan auf unser neues Heim ein. Zu meiner Freude erfuhr ich, dass Leerläufe einzelner Darsteller zur ersten Anprobe der Kostüme genutzt würden. Zuerst hieß es für mich allerdings: proben!
Nach einem ersten, recht unkoordinierten Durchlauf von „Rastlose Jahre“ bekamen wir genauere Anweisungen zum Staging: wer stand wo? Wann drehte sich das Bühnenelement in welche Richtung? Ich empfand diese Probe als sehr langatmig, denn es war eine der wenigen Szenen, in denen ich selbst keine große Aufgabe zu erfüllen hatte. Am Anfang fiel es mir noch schwer, mich auf die drehbaren Bühnenelemente zu konzentrieren, und manchmal trat ich daneben und stolperte. Schnell spielten wir uns aber ein, und bald verinnerlichte ich meine neuen Schritte und fühlte mich ein wenig gelangweilt. Immer wieder wurden die Damen hinter mir angehalten, ihre Bewegungen synchronisiert, der Gesang aufpoliert. Bis 11.30 Uhr dauerte das ganze, und ich empfand das als viel zu lange Zeit für eine so kurze Sequenz. Eine Pause vom Nichtstun gab es für mich schließlich: während man sich eingehend mit „Die Schatten werden länger Reprise“ beschäftigte, hatte ich Zeit, zur Kostümanprobe zu gehen. Ich traf meinen Dresser Mike, der ein wahres Wunder war: ein Mann, der den kompletten Überblick über all meine Kostüme hatte, war dafür zuständig, dass ich immer im richtigen Kleid steckte, immer die rechte Perücke trug, das ganze schnell wechselte und Schäden an Kostümen eigenhändig und in Sekundenschnelle ausbesserte.
„Also, Anouk, dann schauen wir mal… Hier, siehst du, das ist deine Stange.“ Er führte mich zu einer vollgepackten Kleiderstange. Auf dem Regal darüber trugen Schaumstoffköpfe meine Perücken, sechs an der Zahl. Alles war nummeriert und mit Zetteln versehen.
„Womit fangen wir an? Am besten mit der ersten Szene, richtig?“ Er zog das entsprechende Kleid heraus. „Du ziehst jedes Kleid über und wir schauen, was es auszubessern gibt und wie du dich bewegen kannst. Dann die passenden Perücken, okay?“
Ich nickte begeistert – das war doch mal eine abwechslungsreiche Aufgabe! Trotzdem wurde es anstrengender, als ich dachte – das ständige Umziehen nervte auf Dauer, und Mike nahm mit raschen, aber ruhigen Bewegungen meine Maße, machte sich Notizen, steckte Stoffe ab und half mir bei Knöpfen, Schnüren und Verschlüssen. Übrigens waren die Kostüme nur halb so angenehm zu tragen, wie sie aussahen – die meisten Kleider waren schwer, steif und kratzig.
„Na, da muss ja nicht viel geändert werden“, stellte Mike erleichtert fest. „Ein bisschen den Saum kürzen, und um die Taille bist du schmaler als deine Vorgängerin. Ich überlege, ob ich bei dem Morgenrock einen breiteren Seidengürtel anbringe, der wurde dich noch einmal eindrucksvoll verschmälern… Hm…“ Er zog mehrere Tücher und Stoffe aus einer langen, schmalen Schublade und bat mich, den Mantel aus „Mach auf, mein Engel“ noch einmal überzuwerfen.
Nach der Anprobe ging es nach einer kleinen Pause für alle weiter: „Wie du Reprise“ stellte mich vor neue, angenehme Herausforderungen. Es fiel mir zuerst schwer, synchron mit meinem „Vater“ zu singen, wo ich doch seine Lippenbewegungen nicht sah, aber wir einigten uns schnell darauf, wer wann anatmete und bald saß auch diese Szene relativ gut. Danach wurde einem Leerlauf meinerseits vorgebeugt, indem ich zum Make-up-Fitting geschickt wurde, während man „Wenn ich dein Spiegel wär’“ probte.
Hier wurden die Perücken noch einmal genauer angepasst. Ich fühlte mich ein wenig überfordert, als mehrere Hände gleichzeitig an mir herumzupften und –malten: Jessica knotete mein Haar, stülpte Haarnetze über, klebte Perücken, kämmte und flocht, während Maike verschiedene Pudertöne mit meinem Teint abglich, Lidschatten auftrug und wieder abwischte, Rougetöne verglich… Nach einer Stunde brannte mein Gesicht und mein Kopf ebenfalls. Ich fühlte mich müde und von den ungleichmäßigen Proben ganz durcheinander – erst probten wir etwas fröhliches, dann wieder etwas trauriges… Der Tag war furchtbar lang und anstrengend für mich, und am Abend kam es mir vor, als sei ich schon ewig im Theater. Ich fiel totmüde ins Bett, und mein letzter Gedanke war, dass die Reise nach Wien ganz schön stressig werden würde.

Ich hatte mich nicht getäuscht – die Reise war stressig, ganz besonders die Vorbereitungen. Neben persönlichem Kofferpacken mussten auch noch die nötigen Kostüme eingepackt werden – das waren eine Tod-Garnitur in Weiß, eine Franz-Joseph-Uniform und das Winterhalter-Kleid, dazu passende Perücke, Schuhe, Handschuhe, Schmuck, Bordüren… Das Ganze machte einen unglaublichen Aufwand aus, und wir würden zwei Tage Proben versäumen, was so kurz vor der Premiere nicht gerade wenig war: am Freitagmorgen ging es los, pünktlich um acht Uhr morgens; wir wurden um vierzehn Uhr am Schloss Schönbrunn erwartet, wo wir als erstes einen Fototermin hatten, und zwar eine Stunde; anschließend eine Pressekonferenz. Am nächsten Tag hatten wir alle drei einen Termin für Interviews mit einem bekannten Musicalmagazin, anschließend besichtigten wir das Sisi-Museum – und dann ging es wieder nach Hause. Viel Zeit für Sightseeing blieb nicht.
Als wir endlich im Flugzeug saßen, hatte ich schlechte Laune: tatsächlich hatten wir uns länger am Düsseldorfer Flughafen aufgehalten, als unser Flug dauern würde, was ich für reine Zeitverschwendung hielt. Ich war müde und erschöpft, weil ich schlecht geschlafen hatte, aber im Flugzeug fand ich keine Ruhe, und als wir wieder landeten, hatte ich Kopfschmerzen. Ich sehnte mich eigentlich nur noch nach etwas Ruhe und einem hübschen, bequemen Hotelbett, einer warmen Dusche vielleicht – aber es war schon nach zwölf. Wir jagten zu Schloss Schönbrunn. Das, was ich von Wien aus dem Fenster sehen konnte, war nicht sehr beeindruckend.
„Das habe ich mir aber anders vorgestellt!“, sagte ich, als wir an bunt zusammengewürfelten Häuserreihen vorbeifuhren. Julian lächelte. „Ja, auf den ersten Blick scheint Wien nicht so schön, wie alle sagen. Aber warte, bis du an den richtigen Orten bist!“
Am Schloss angekommen, schlüpften wir in unsere Kostüme – nun, schlüpfen ist vielleicht nicht die richtige Vorgehensweise beim Winterhalterkleid, es ist eher ein sich-behängen-Lassen. Wir posierten ganz klassisch auf der Treppe, abgegrenzt von den Touristenmassen, und dann noch ein paar Mal vor dem Garten. Erst hatte ich in der noch kühlen Frühlingsluft gefröstelt, aber nun schwitzte ich in dem schweren Kleid, und unter der schweren Perücke hämmerte mein Kopf immer mehr. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, und in der anschließenden, kurzen Führung durch die Gärten hellte sich meine Stimmung wieder etwas mehr auf. Trotzdem fühlte ich mich wie von einer Zwangsjacke befreit, als ich das schwere Kleid abnehmen konnte – ein Gefühl, das ich mir für die Rolle unbedingt merken musste!
Die Pressekonferenz verlangte nach meinem letzten Rest Konzentration, und sie endete später, als wir gedacht hatten. Lukas und Maximilian fragten, ob ich sie in ein Café begleiten wollte, aber ich lehnte ab – ich wollte einfach nur ins Bett!
Eine große Rolle bedeutete also nicht nur Stolz und Rampenlicht, sondern auch Müdigkeit, Kopfschmerzen und lange Tage.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 01.12.2015, 06:22:13

Wieder ein schöner Teil mit einer wichtigen Erkenntnis für Anouk. Ich mag auch die angeblich ereignislosen Teile und bin sehr gespannt, was noch kommt!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 01.12.2015, 11:07:27

Den Teil finde ich auch recht realistisch und gut gelungen! Hoffentlich hat sie bis zur Premiere wieder ihren Spaß an der Sache gefunden!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 13.12.2015, 13:00:20

Danke für eure Rückmeldungen! Weiter geht es:

Am nächsten Tag besuchten wir gemeinsam das Sisi-Museum. Ich empfand die Hofburg als eindrucksvoll, als ich vor der gebogenen Außenfassade stand; die wartenden Fiaker und die imposante Statue versetzten mich unwillkürlich in eine frühere Zeit; aber der Innenhof war ernüchternd: die kastenartig aneinandergereihten Hausfassaden machten den Eindruck, sich in einem steinernen Schuhkarton zu befinden, und die penibel in der gleichen Höhe und Reihenfolge angebrachten Fenster wirkten kalt und nüchtern. Trotz des großen Platzes kam ein Gefühl der Beengung auf, das durch die Besuchermassen noch verstärkt wurde.
Unsere Führung begann mit einem Rundgang durch die Silberkammer, die mich eher langweilte: nach den ersten Schaukästen hatte ich genug davon, reich verziertes Porzellan und Silberbesteck zu sehen – es diente uns nicht wirklich zur Rollenfindung. Ich beobachtete Julian, der mit gespieltem Interesse die Vitrinen ablief und ständig gähnte, und Max, der immer wieder auf seine Armbanduhr starrte.
Viel interessanter war da schon das eigentliche Sisi-Museum! Ich war keine Museen-Gängerin, aber dieses überzeugte mich davon, dass es tatsächlich noch innovative Ideen im Bereich Geschichtsaufzeichnungen gab: jeder Abschnitt in Sisis Leben war ein eigener Raum gewidmet und dementsprechend betitelt, „Der Tod“ zum Beispiel oder „Das Attentat“.
Die meiste Zeit hielt ich mich in einem eher verstörenden Raum auf, der Sisis Depressionen in ihren späteren Jahren behandelte: er war nicht sehr groß, eher eine runde Kammer. In der Mitte stand, eingesperrt in eine runde Vitrine, eine pechschwarze Schaumstofffigur Elisabeths. Es war sehr düster, über die dunklen Wände huschten animierte Blitze und Zitate, die von tiefer Trauer und Todessehnsucht sprachen. Ich blieb lange stehen, las die Gedichte und ließ die Stimmung auf mich wirken. Als wir zum Ende des Museums kamen, wäre ich am liebsten noch einmal umgekehrt und von vorne losgewandert: das Museum hinterließ einen so plastischen und realen Eindruck Sisis, dass ich mich erfrischt und voller Ideen fühlte. Das letzte, das wir sahen, waren unter anderem die Feile, mit der Lucheni Elisabeth ermordete, und ihre Totenmaske. Ich konnte darin keine Ähnlichkeit mit der Elisabeth finden, die auf den Bildern so frisch und zart aussah; das Gesicht wirkte aufgequollen und breit.
Die anschließende Besichtigung der Kaiserappartements befreite uns alle von den düsteren Eindrücken und ließ und staunen und lachen: einen solchen Prunk hatten wir noch nie gesehen, und darin zu wohnen kam mir eher schwierig vor. Unwillkürlich sah ich mich selbst vor meinem inneren Auge, tollpatschig, wie ich manchmal war, am gedeckten Tisch mit filigranen Gläsern und Gäbelchen. Hätte ich damals dort gesessen, dachte ich, könnte man heute eingerahmte Scherben bestaunen.
Der Besuch hatte länger gedauert, als er sich angefühlt hatte, und wir mussten uns beeilen, um rechtzeitig zum Abflug bereit zu sein. Auf dem Rückweg dachte ich lange über Sisi und meine bisherige Rollenauslegung nach und kam zu dem Schluss, dass ich sie zu weich gespielt hatte. Besonders „Boote in der Nacht“ kam mir nun verbesserungswürdig vor – ich nahm mir vor, hier weniger mitleidig als vielmehr gleichgültig und schroff aufzutreten. Ich wusste auch, dass meine „Totenklage“ den Ansprüchen keineswegs gerecht wurde – was aber eher daran lag, dass ich irgendeine Hemmung zu überwinden hatte, die mich daran hinderte, die Trauer voll nachzustellen. – Nein, es war eigentlich nicht irgendeine Hemmung. Ich wusste, dass ich mich davor fürchtete, gerade diese Stelle zu sehr an mich heran zu lassen. Ich spielte noch, ich fühlte nicht. Was wäre vergleichbar mit dem Verlust des Sohnes? Ich wusste nicht, was es hieß, Mutter zu sein, aber wenn ich mir andersherum vorstellte, meine Mutter zu verlieren – es mir richtig vorstellte, vom Anblick der Leiche bis hin zur Beerdigung – kamen mir schon die Tränen.
„Alles okay?“ Julian sah mich mit hochgezogenen Brauen an. Ich wischte mir verlegen über die Augen. „Klar. Ich dachte nur gerade über eine Szene nach.“
Er lächelte schwach. „Verstehe.“
Natürlich tat er das. Ich wusste nicht, was, aber auch Julian schien irgendein neuer Eindruck zu schaffen zu machen. Ich konnte es kaum mehr abwarten, weiterzuproben und die vielen kleinen Veränderungen auszumachen, die dieser Besuch bewirkt hatte.

„Und danke.“ Der Regisseur hob die Hand und bedeutete uns in einer inzwischen gewohnten Geste, und am Bühnenrand aufzustellen. Es war Montagmittag, die erste Probe nach unserer Reise, und wir standen kurz vor den ersten Durchläufen. Wir warteten ab, bis er seine Notizen vervollständigt hatte.
„Anouk – ich habe im Skript stehen, dass du dich ab Anfang zweiter Strophe setzt. Das hast du nicht gemacht.“
„Ich weiß. Ich habe darüber nachgedacht und denke nicht, dass Elisabeth in einem Moment wie diesem Schwäche gezeigt hätte. Franz Joseph setzt sich, weil er inzwischen ziemlich resigniert ist und Sisi zeigen will, dass er nicht weiß, was er noch tun soll, aber Sisi ist ihm zu dieser Zeit ja völlig überlegen. In ihren Aufeinandertreffen war sie zwar immer freundlich, aber eben auch Herrin ihrer Ehe. Deshalb bin ich stehen geblieben, um diese Gleichgültigkeit zu zeigen, wollte gegen Ende aber noch einmal einen Anflug von Trauer zeigen, der aber nicht Franz Joseph, sondern eher der Gesamtsituation gilt…“ Ich wurde zum Ende meiner Erklärung zögerlicher, weil es mir schwer fiel, mein Vorhaben in Worte zu fassen. Maximilian lachte.
„Nettes Bild hast du von deinem Mann!“
„Immerhin hast du dich auch nie von deiner liebevollsten Seite gezeigt!“, neckte ich zurück.
„Ich schreibe mir das so auf“, warf der Regisseur ein, „wenn du es so machen willst, mach es. Es klingt plausibel, und es kam so rüber, wie du beabsichtigt hast. Das ist gut.“ Er nickte kurz. „Achte nur darauf, dass du den Schirm benutzt.“
Ich schwenkte den Schirm hin und her. „Ja, ich habe ihn vergessen.“
Er nickte wieder kurz. „Gut, also, von mir aus steht diese Szene. Wir haben auch die Ensembleszenen choreographiert, ich würde aber gerne noch ein paar Einzelproben einschieben: Wenn ich dein Spiegel wär’, Totenklage, Bellaria und Irrenhaus.“ Er kritzelte irgendetwas und teilte uns unsere Probenzeiten mit. Ich wurde nervös – wir wollten direkt mit der Totenklage beginnen und den anderen Pause gönnen. Trotzdem schauten einige der Ensemblemitglieder zu, und ich fühlte mich etwas unbehaglich. Aber bei Boote in der Nacht hatte ich mich im Einklang mit meiner Rolle gefühlt, und ich wusste, dass der Regisseur ungeduldig wurde, was die Totenklage anging. Also kehrte ich dem spärlichen Publikum den Rücken zu und erinnerte mich an den Raum im Museum zurück und an die Vorstellung, meine Mutter zu verlieren, und dann rutschte ich plötzlich in die Rolle. Der Vorgang ist schwer zu beschreiben, eigentlich gar nicht; es ist ein plötzlicher Wechsel, in dem man nicht mehr Herr seiner eigenen Gefühle ist. Als der Gong der Totenglocke ertönte, kamen mir schon die Tränen, und mir wurde schwer ums Herz.
Nach der Szene konnte ich einen Rest Unwohlsein nicht ganz abschütteln. Der Regisseur schien aber endlich zufrieden.
„Das war gut, das war sehr gut. Jetzt musst du nur darauf achten, es für dich persönlich nicht zu schwer und zu ernst zu nehmen. Guck auch, dass du bei Stimme bleibst, wenn du zu viel weinst, kann man dich unter Umständen schlechter verstehen.“
Ich nickte seine Anweisungen und Ratschläge ab und begab mich in eine kurze Zwischenpause, um mich auf das Irrenhaus vorzubereiten.

Am Dienstagnachmittag standen endlich alle Szenen. Bis zur Premiere war es nur noch ein Katzensprung, und morgen würden wir mit den Durchläufen anfangen. Ich war aufgeregt und erleichtert zu gleich: die langen Phasen der Probenzeit waren endlich zu Ende, und morgen würde ich zum ersten Mal ein ganzes tragisches Leben nachleben. Ich wusste noch nicht, wie das sein würde; ich hoffte aber, es tatsächlich nicht zu schwer zu nehmen.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 13.12.2015, 20:15:23

Ein wunderbarer Teil!
Gibt es das Museum wirklich? Warst du da schonmal? Ich kenn mit mich Elisabeth nicht so aus. Aber toll, wie du beschrieben hast, dass alle drei neue Impulse von der Reise mitgebracht haben. Einzig die Reaktion des Regisseurs am Ende ist ein wenig nüchtern ausgefallen, aber das soll vielleicht genau so sein.
Ich bin sehr auf den ersten kompletten Durchgang und dann auch die Premiere gespannt!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 15.12.2015, 14:28:51

Ja, das Museum gibt es wirklich. Und mir gefällt die Idee der Härte für Elisabeth, ich fand immer, dass sie eine ziemlich harte und egoistische Frau war.

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 03.01.2016, 22:28:04

Ja, das Museum ist wirklich toll. Ich hab versucht, es aus der Erinnerung sehr genau aufzuschreiben, es hat mich sehr beeindruckt.
Hier ist der neue Teil:

Der erste Durchlauf ist immer so etwas wie eine erste Premiere: der Regisseur unterbricht nur in den allergrößten Notfällen, also nur dann, wenn es wirklich schlecht läuft. Ich wusste, dass wir alle mehr als gut vorbereitet waren, aber manchmal war gute Vorbereitung auch das größte Hindernis. Ich stand hinter der Bühne. Es war still, nur im Hintergrund waren noch Stimmen zu hören. Ich steckte im Kleinmädchenkostüm, und meine Zöpfe kratzten ein bisschen am Hals. Ich war aufgeregt und ganz kribbelig, weil ich hier warten musste. Die anderen Darsteller zogen leise an mir vorbei, um sich in Position zu begeben; in Momenten wie diesen sah man allen alles an: man hörte ihr Herz klopfen, ihre bewusste, tiefe Atmung, man sah ihnen an, was sie dachten, obwohl ihre Mienen verschlossen und in sich gekehrt waren. Über allem lag eine feierliche, ruhige Stimmung, die nur an Premierentagen einen Hauch Unruhe mit sich zog.
Ich merkte, dass ich noch Schwierigkeiten hatte, in den ersten Auftritten sicher in meiner Rolle zu sein – es fiel mir leichter, mich in die tragischen Momente fallen zu lassen als ein kleines, unbedarftes Mädchen zu spielen, aber „Schwarzer Prinz“ brachte mich in meiner Rolle ein gutes Stück weiter. Hinter der Bühne war die Vorbereitung dieser eigentlich sehr romantischen Szene das unromantischste, das ich je erlebt hatte: während die Zuschauer sich der Illusion hingaben, Elisabeth fiele dem Tod direkt in die kräftigen Arme, wurschtelten Julian und ich uns zurecht, indem er mich auf den Arm nahm und versuchte, gleichzeitig mit Haar und Kleid zurechtzukommen. Ich fand es auch gar nicht bequem, getragen zu werden, manchmal hing mein Arm verdreht oder er hielt mich so, dass ich glaubte, jeden Moment zu fallen. Doch der Moment danach belohnte meinen Aufwand: in „Schwarzer Prinz“ konnte ich mich das erste Mal in eine Todessehnsucht fallen lassen – so etwas wie das erste Verliebtsein in einer dunklen Umkehrung. Die Kreativen hatten sich schnell geeinigt, nicht auf das neuere Rondo „Kein Kommen ohne Geh’n“ zurück zu greifen. Es offenbarte die Gefühle des Tods zu früh, zu eindeutig und vor allem: zu kitschig. Ich war sehr froh drum. Ich liebte meinen Part in diesem Lied ganz besonders – nicht, weil er nur mir allein zukam, sondern weil er ein wichtiger Hinweis auf Elisabeths frühes Seelenleiden war. Nicht alle wussten, dass Sisi schon in früherem Alter schrecklich verliebt war, und dass der Angebetete wegen unzureichenden Standes – er war Soldat – versetzt wurde und wenig später starb. Schon da waren Anflüge von Melancholie und Trauer erkennbar, die aber niemand berücksichtigte.
Ich merkte, dass das Stück mich mitnahm. Manchmal fühlte ich mich unwirklich, wie im Traum, und wenn ich hinter der Bühne zurückblickte, sah ich die gerade gespielte Szene nicht selten aus fremder Sicht – der des Publikums vorzugsweise. Ich würde mich selbst zu gern spielen sehen, aber andererseits wusste ich, dass diese Selbstbeobachtung meistens eher dazu diente, Fehler zu entdecken, die nicht da waren und außerdem peinlich war.
Ich fühlte mich auch ganz großartig beim Finale des ersten Aktes, sehr hoheitsvoll. Dass mein verfluchter Fächer mir durch zuviel Schwung aus der Hand flog, schmälerte meine Anmut allerdings. In der Handhabung mancher Requisiten musste ich mir noch den letzten Schliff geben; wenigstens hielt ich meinen Schirm nicht mehr wie einen Degen von mir, wenn ich ihn schlichtweg vergaß.
Es gab nur eine kurze Unterbrechung zwischen den beiden Akten. Wir machten sofort weiter. Dieser Teil des Musicals war anspruchsvoller und anstrengender; nach der Irrenhausszene war ich meistens völlig in der Rolle versunken und spürte den ersten Anflug dieses seltsamen, rastlosen und gleichzeitig schweren Gefühls. Ein wenig Übelkeit war manchmal auch dabei. Der letzte Song, „Der Schleier fällt“, war immer wie ein Befreiungsschlag. Alles glitt von Elisabeth ab, und ich gab mir Mühe, auch alles von mir abgleiten zu lassen und ihre Gelassenheit zu übernehmen, aber es fiel mir heute schwer. Ich versuchte, mich auf die anschließende Kritik zu konzentrieren, aber ich war sehr müde und hatte starke Kopfschmerzen. Die Scheinwerfer hatten uns fast drei Stunden lang mit voller Kraft beschienen, das Orchester war laut, die Perücken schwer, die Kleider eng. Wir schwitzten alle furchtbar, und mein Gesicht juckte. Ich wollte gern die Schminke abwaschen und mir kräftig die Augen reiben, die sich ganz sandig anfühlten – kein Wunder, ich hatte echte Tränen vergossen. Meine Hände klebten – Bühnenböden waren selten sauber. Aber ich tat nichts von alldem. Ich saß nur da, rollte meine Wasserflasche zwischen den Händen, machte mir Notizen, wenn es um mich ging und konzentrierte mich ansonsten darauf, nicht einfach einzuschlafen. Gott sei Dank gab es keine großen Mängel. Ein paar zu laute Auf- und Abtritte, ein paar Textfehler, Kleinigkeiten. Trotzdem dauerte es, bis ich aus dem Theater kam. Die Kostüme mussten ordentlich weggehängt, die Perücken überprüft, die Technik abgelegt werden. Ich wusch mir endlich das Gesicht ab. Als ich nach Hause kam, war es weit nach Mitternacht. Ich schrubbte nachlässig zwei-, dreimal über meine Zähne, löste nicht mal mein zusammengeknotetes, plattgedrücktes Haar, fiel einfach hundemüde und schon wieder todunglücklich ins Bett. Und trotz des hämmernden Schmerzes hinter den Schläfen schlief ich sofort ein.

Ich musste dringend zusehen, dass ich nicht zusammenklappte. Elisabeth war schwieriger, als ich dachte. Vielleicht war ich auch in Bezug der Rollentrennung einfach nur eine Null, obwohl es mir bisher noch nie passiert war, dass ich an meinen gespielten Emotionen so lange herumgekaut hatte. In meiner freien Zeit, die nun dank der abendlichen Proben mehr Raum in meinem Alltag hatte, nahm ich an einem Yogakurs teil. In der Ausbildung hatte ich eisern die verschiedenen Asanas praktiziert, um in Form und konzentriert zu bleiben. Das war aber nun schon eine Weile her, und in den ersten Stunden war ich furchtbar genervt von der Geduld der anderen Teilnehmer und der erforderlichen Langsamkeit. Dann aber gelang es mir, abzuschalten und ruhiger zu werden. Ich ging gelassener an die Proben, sogar an die Generalprobe.
„Auf dass alles misslingt!“, rief Karl mir fröhlich zu, als ich aus meiner Garderobe kam. Er war ein ewiger Optimist. Ich lachte.
„Vielleicht sollten wir es nicht drauf ankommen lassen“, erwiderte ich. Fehler bei der Generalprobe hießen zwar, dass die Premiere gut wurde, ich wollte mich aber dem Theater-Aberglauben nicht so recht anschließen, sondern lieber die Gewissheit haben, dass alles saß. Aber obwohl jeder die verschiedenen Schauspieler-Weisheiten verlachte, nahm das Einhalten von abergläubischen Ritualen doch Überhand, je näher wir der Premiere rückten. Bei der ersten Preview rief ein Techniker: „Viel Glück euch allen, Hals- und Beinbruch!“, und Jasmin erwiderte in einem arglosen Moment: „Ja, danke!“
„Nein!“ Julian, Elias und Nicolas fuhren sie erschrocken an. Jasmin schlug sich die Hand vor den Mund. „Du meine Güte. Tut mir leid!“ Sie hastete zu dem Stuhl vor ihrem Frisiertisch und klopfte drei Mal auf die hölzerne Lehne. Es galt als unglücksbringend, sich zu bedanken, wenn jemand Glück für die Show wünschte. Ersatzfloskeln waren meistens „Wir tun unser bestes“ oder „Jaja, hoffentlich“. Wenn man sich doch bedankte, musste man drei Mal auf Holz klopfen. Meine Kollegen machten mich ganz kirre mit diesem Kram, und vor den Peviews taten mir regelmäßig die Fingerknöchel weh.

Die Previews liefen gut, es gab keine Fehler, und wenn doch, dann fielen sie nur uns auf. Bei der letzten Preview gab es dann aber einen technischen Fehler von größerem Ausmaß: mehrere Mikrofone fielen der Reihe nach aus oder gaben nur noch ein nervendes Knistern von sich. Wir unterbrachen mehrere Male. Ich kam ins Schwitzen, und diesmal lag es nicht am Licht. Das Problem konnte nicht gänzlich behoben werden. Der Regisseur war wütend, die Techniker in Panik, und wir kurz vorm Durchdrehen.
Wir verließen das Theater in gedämpfter Stimmung. Eigentlich hatten wir vorgehabt, uns noch gemütlich im Foyer zusammenzusetzen, aber die herumwuselten Techniker und das Ständige Testen der Mikrofone trugen nicht zu unserer Entspannung bei. Wir gingen nach Hause, jeder für sich.
An diesem Abend war ich nicht trübselig.
Ich war sehr lampenfiebrig.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 04.01.2016, 10:46:11

Juhu, das neue Jahr fängt ja gut an. Mir gefällt der Endprobenteil sehr gut - es wurde auch langsam Zeit ;) Ich freue mich schon sehr auf die Premiere und sag mal "toi, toi, toi", dass alles gelingt!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 05.01.2016, 16:51:14

Schöner Teil, und das mit den Technikproblemen kann ich mir gut vorstellen, dass das die Leute nervös macht. Andere Frage: Was macht denn Annouks Freund solange?

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 29.01.2016, 16:18:28

armandine hat geschrieben: Andere Frage: Was macht denn Annouks Freund solange?
Äh ja, der taucht auch wieder auf. Ich gebe mir Mühe, ihn nicht zu vernachlässigen :shifty:
Und jetzt: PREMIERE!

Den ganzen Premierentag über saß ich in meiner Wohnung herum und dachte nach, bis ich Kopfschmerzen bekam. Ich verglich meinen Lampenfieber-Grat mit bisherigen Stücken und beschloss, dass ich nie aufgeregter gewesen war als heute. Eigentlich kein Wunder, beschwichtigte ich mich. Du spielst Elisabeth! – Himmel, ich würde Elisabeth spielen! Es kam mir vor, als verstünde ich es erst jetzt in vollem Ausmaß. Die Previews zählten nicht als richtige Vorstellungen, nicht für mich. Heute Abend würde die Presse da sein, geladene Gäste… Was, wenn sie uns genauso kritisierten wie die Darsteller der Uraufführung: Ich würde mich nicht mehr aus dem Haus trauen! Ich saß herum und die Zeit verstrich, und obwohl ich dachte, der Abend würde nie erreichbar sein, war doch so plötzlich später Nachmittag, dass ich nicht wusste, wie die Zeit trotz meines Nichtstuns hatte verstreichen können. Als ich gewahr wurde, dass ich in einer Stunde schon los musste, brach ich zu meinem Schrecken in Tränen aus. Eigentlich neigte ich nicht zur Hysterie, aber jetzt konnte ich mein rasendes Herz kaum beruhigen. Ein Teil von mir sehnte sich danach, endlich auf der Bühne zu stehen, der andere – überwiegende – Teil fürchtete sich vor einem möglichen Versagen. Kurz bevor ich mich auf den Weg machte, klingelte es an der Haustüre. Ich ahnte schon, dass es Liam sein würde, trotzdem überfiel mich eine enorme Erleichterung, als er die letzten Treppenstufen erklomm, war ich überglücklich, dass ich jemanden hatte, bei dem ich meine Sorgen abladen konnte.
„Anouk“, war alles, was er sagte, ehe er mich in eine Umarmung schloss, die so fest wie trost- und mutspendend war. Wir standen so eng aneinander, dass er meinen Herzschlag spüren musste. Seine Hand strich über mein Haar.
„Wie aufgeregt bist du?“, fragte er.
„Sehr“, antwortete ich. „Sehr, sehr, sehr. Wie noch nie. Nicht mal vor Rebecca. Oder Tanz der Vampire. Einfach… unglaublich aufgeregt.“ Und dann löste sich auch schon meine Zunge, und ein ganzer Schwall an Selbstzweifeln, Befürchtungen, was-wäre-Wenns und Ängsten brach aus mir hervor. Liam schwieg, an den schlimmsten Stellen sagte er immer: „ach was!“, „Unsinn!“, „so ein Quatsch“, „nie und nimmer!“, was mir schon beim Reden die Angst nahm. Als ich endlich schwieg, nahm er mein Gesicht in die Hände und sah mich an.
„Anouk“, sagte er sehr ruhig. „Glaube nicht, dass ich deine Ängste nicht ernst nehme, aber deine Zweifel sind völlig unbegründet. Du bist toll. Natürlich sind die Ansprüche hoch, deshalb haben sie ja dich genommen! Du wirst auftreten und alle anderen bisherigen Darstellerinnen aus den Gedächtnissen der ehrwürdigen Kritiker tilgen. Sie werden gar nicht mehr wissen, welche Loblieder sie schon auf andere geschrieben haben, weil sie dich lieben werden.“
Ich musste ob seiner gestelzten Sprache lachen.
„Und jetzt reiß dich zusammen. Glaubst du, die anderen waren weniger aufgeregt? – Wie liefen denn die Proben?“
„Gut…“
„Und die Previews?“
„Sehr gut. Auch, ja. – Bis auf gestern!“, fiel mir plötzlich siedendheiß ein. „Die Technik!“, japste ich. „Die Mikrofone! Kaputt!“
Er nahm meine Hand und half mir auf. „Ich bin ziemlich sicher, die Techniker haben das Problem gelöst“, sagte er zuversichtlich – und so streng, dass ich ihm gar nicht widersprechen konnte. „Und ab jetzt. Ich fahre dich zum Theater.“ Er half mir in meinen Mantel, kommentierte mein in eine Hülle gehängtes Abendkleid mit einem anerkennenden Pfiff und hielt mir wie ein Gentleman die Türe auf.
Für einen verliebten Augenblick lang war ich gar nicht mehr aufgeregt.

Ich schwitzte, hatte aber eiskalte Hände. Eigentlich fror ich doch innerlich? Oder was bedeutete dieses Zittern? Ich hüpfte im Gang auf und ab, auf und ab, atmete dabei langsam ein und zischend aus. Gut. Das tat gut. Ich begann zu singen, einfach irgendeine Liedzeile aus „Ich gehör’ nur mir“, überprüfte zum x-ten Mal den Sitz meiner Stimme. Sie war klar und deutlich, gut aufgewärmt. Der Schlusston kam mir klar über die Lippen. Hoch, aber nicht schrill. Nicht gepresst. Meine Atmung war gut, mein Zwerchfell lebte quasi. Gut. Sehr gut. Ich atmete wieder zischend aus.
Die Stimmung mutete seltsam an: alle standen entweder stumm herum, blass, mit nervösen Lippenbewegungen, der positivere Teil der Gruppe sprang herum, wiederholte scheinbar gelassen Tanzschritte. Elias gab seine Kitsch-Szene in einer Art stummen Pantomime zum Besten, den Blick abwechselnd konzentriert in sich gekehrt und dann wieder zynisch-fröhlich. Seine Hände wedelten unruhig durch die Luft, warfen unsichtbare Souvenirs herum.
Irgendwann Einlass. Mein Magen wirbelte herum. Letzte Worte des Regisseurs. Das unvermeidliche Spucken über die Schultern. Die letzte hektische Rennerei zum Klo, weil man dachte, man müsste wieder. Nur die Aufregung. Plötzlich Ruhe über allen. Die Flügel der Todesengel raschelten leise. Geflüsterte Wortfetzen. „Ansonsten geht’s ihr gut…“ – „…undankbarer Sohn!…“ – „Mama, ich brauch dich!“ – „Du hast dich abgewendet, doch nur zum Schein…“ Der kleine Rudolf stand stocksteif zwischen uns. Er war noch nicht ganz angezogen, trug noch ein knallgelbes Shirt zu seiner Uniformhose. Ich fand, er sollte ruhig etwas später kommen, die allgemeine Aufregung steckte ihn nur an. Ich lächelte ihm aufmunternd zu.
„Wie geht es dir?“, flüsterte ich. Er zuckte mit den Schultern, Lässigkeit vorschützend. Dann grinste er gequält. „Schon aufgeregt.“
„Du schaffst das!“ Nicolas tätschelte ihm die Schulter. Der Kleine würde ohnehin der heimliche Held des Abends sein, einfach aus dem Grund, weil er so jung war. Ich fragte mich kurz, ob das tatsächlich ein Segen für ein Kind war. Draußen erstarben die Stimmen. Es wurde düster. Alle standen stramm und waren plötzlich verschwunden. Ich schloss die Augen und lauschte dem Prolog. Alls das Ensemble anhub zu singen, traten mir die Tränen in die Augen. Plötzlich wurde mir meine gegenwärtige Situation ganz klar. Kurz blitzte ein Bild auf. Ein altes Bild – ich selbst, bei meiner ersten Gesangsstunde. Meine Vergangenheit lag wie ein Weg vor mir – ein Weg, manchmal steinig, aber immer bergauf führend. Ich schlug die Augen auf und war kribbelig vor Verlangen. Verlangen nach der Bühne. Jetzt, es sollte jetzt geschehen, ich wollte jetzt auf die Bühne, ins Rampenlicht, wollte mich beweisen, weiter wachsen, weiter bergauf steigen. Julian drückte meine Hand und ich drückte zurück, ehe sein Stichwort erklang und auch er verschwand. Ich stand still da, auf heißen Kohlen, und hörte zu. Julian war gut. Sein Gesang drang gedämpft zu mir. Er schrie nicht, er wirkte nie wütend, bloß distanziert, ruhig und subtil, genau so, wie ich es liebte.
Das letzte, das ich bewusst dachte, ehe ich auf die Bühne stürmte, war ein euphorisches „Es ist so weit!“.
Danach war alles wie üblich ein Rausch. Manchmal war ich Elisabeth, manchmal Anouk, meistens eine komische Mischung aus beidem. Ich fühlte mich etwas steif, weil meine Beine vor Aufregung so kribbelten, aber alles ging gut. Die Schlusstöne saßen. Es gab keine Patzer – zumindest keine, die mir auffielen. Ich war hinter der Bühne wieder sehr angestrengt, besonders nach der Pause, und obwohl der letzte Song wie immer eine Art Erlösung auch für mich brachte, war der Applaus surreal. Ich konnte kaum richtig lächeln, weil ich so platt war von der Erkenntnis, es tatsächlich geschafft zu haben. Gott sei Dank standen die Zuschauer auf. Ich wusste, dass Standing Ovations kein Erfolgsversprechen war, aber eigentlich zählte ja auch mehr, was dem Publikum gefiel als was die Presse schrieb, oder?
Nach der Show ließen wir uns Zeit. Untereinander tauschten wir noch Phrasen aus, die wir diversen Reportern antworten könnten, warnten uns vor einigen Journalisten – laut Helene gab es zum Beispiel einen Kahlköpfigen mit Brille und gewieftem Lächeln, der für ein namhaftes Magazin schrieb und sich darauf verstand, alle Äußerungen wortgetreu widerzugeben und sie in einem verdrehten Zusammenhang trotzdem negativ wirken zu lassen.
Ich merkte mir das.
Ich würde mir viel merken müssen. Ich war jetzt Elisabeth. Entweder sie liebten mich, dann musste ich bloß lächeln und ständig sagen „Es war so eine Ehre“ und „Es ist schon eine besondere Rolle, natürlich“. Oder sie hassten mich.
Für den Fall würde ich mir noch etwas ausdenken müssen.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 29.01.2016, 17:37:29

Eine tolle Premiere! Zumindest soviel man davon mitbekommt durch den Schleier ;) Mir gefällt es gut, wie du das alles beschreibst und ich bin natürlich unglaublich gespannt, was die Kritiker zu Anouk sagen!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 30.01.2016, 14:54:14

Ein neuer Teil, wie schön. Und die Beschreibung von Anouks Nervosität, und wie sie sie überwindet, ist dir sehr gut gelungen, finde ich. Außerdem freue ich mich, dass Liam auch da war! Hoffentlich kann sie den Erfolg bald auch genießen.

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 07.02.2016, 13:02:40

Ich hatte viel frei und konnte ein wenig vorschreiben, deshalb gibt es die nächsten Teile etwas hurtiger. Ihr dürft gespannt bleiben!

Ich wachte auf, als ein Sonnenstrahl direkt in mein Gesicht schien. Meine Augen begannen zu tränen – es war unerträglich hell im Zimmer, oder zumindest zu hell für einen anständigen Schlaf nach einer langen und anstrengenden Nacht. Ich konnte mich aber nicht dazu entschließen, aufzustehen, also drehte ich mich einfach um. Zum Glück lag Liam neben mir. Ich drückte mein Gesicht an seine Schulter – sollte er eben in der Sonne liegen. Ich hatte gestern Abend gearbeitet. Er hatte es sich in der ersten Reihe bequem gemacht.
Ich döste wieder weg, aber nicht tief genug, um nicht diese seltsamen Halb-Träume zu bekommen, die man nur hat, wenn man zwischen Wachen und Schlafen hängt. Mein Gehirn fing unerwünschter Weise einfach mit dem Erinnern und Denken an.
„Wie fühlen Sie sich jetzt?“, fragte ein Mann mit schlecht sitzender Krawatte und seltsam verzerrten Gesicht.
„Ich fühle mich sehr gut.“ – Sehr gut, das war keine außergewöhnliche Antwort.
„Haben Sie ein gutes Gefühl, was die Show angeht?“
„Wir haben alle unser bestes gegeben, und wir hatten eine lange Probenzeit. Ich hatte schon vorher ein gutes Gefühl, jetzt ist es überwältigend!“ Das klang ein bisschen übertrieben, irgendwie esoterisch in der Art, wie ich es geantwortet hatte…
Ich schreckte wieder auf. Keine Reporter. Kein roter Teppich. Nur Liam, der sich bemüht vorsichtig umdrehte und mich trotzdem geweckt hatte.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken“, sagte er.
„Macht nichts“, murmelte ich und träumte wieder. Da war der Glatzkopf. Ich wollte nicht unhöflich sein und ihn umgehen, also stellte ich mich seinen Fragen.
„Wie bewerten sie – bezogen auf die Rolle Tod – die Rückkehr zu mehr Subtilität und Ruhe, wo es doch bisher einige Vorgänger gab, die mit diesem Stil brachen und ihn als aggressiven, defensiven und… ja, leidenschaftlichen Liebhaber inszenierten, was offensichtlich ein Schritt nach vorn, sozusagen zu mehr Modernität und Angleichung an die aktuellen Vorlieben der jüngeren Generation, war?“ – Was? Warum gab es Menschen, die eine solche Frage stellen konnten, ohne ihren Anfang und die Absicht dahinter zu vergessen? Jetzt war es auf jeden Fall kein Wunder, dass dieser Glatzkopf der Schrecken meiner Kollegen war!
„Nun…“ Was hatte ich ihm noch mal geantwortet?
„Was?“, sagte Liam. Abermals schreckte ich auf. Diesmal setzte ich mich und starrte ihn an.
„Du hast irgendetwas gesagt“, erklärte er seine Frage.
„Ach so.“ Ich fuhr mir durch die Haare und gähnte. „Ja. Ich habe so komische Sachen geträumt, von gestern Abend. Oder eher, gestern Nacht. Von diesem dummen Reporter.“
Ich musste versucht haben, die Frage zu beantworten – was schon beim ersten Mal eine Herausforderung gewesen war. Ich meinte, irgendetwas in Richtung „Rückkehr heißt nicht Rückschritt“ und „Wechsel in den Inszenierungen, um nicht langweilig, sondern modern zu bleiben“ gesagt zu haben. Wahrscheinlich würde er mich auseinander nehmen.
Ich bemerkte, dass Liam schon angezogen war. Ich musste doch länger gedöst haben, als es sich angefühlt hatte – gerade zog er seine Jacke über. „Wohin gehst du?“
„Zum Bäcker, ich hole uns Frühstück.“ Er beugte sich vor und küsste mich auf die Stirn. „Wie wäre es, wenn du noch etwas schläfst? Du siehst müde aus.“
„Ja, ich versuche es.“ Ich sah ihm nach, bis er zur Tür raus war, dann rutschte ich herum und ließ die Beine über den Bettrand baumeln. Ich wollte jetzt nicht mehr schlafen. Diese lebhaften Erinnerungen waren unangenehm, und der unstete Schlaf machte mich nur noch zerschlagener. Ich wollte nicht an den letzten Abend denken, obgleich es ein schöner gewesen war. Aber die vielen Menschen, die ich getroffen hatte, machten mich ganz schwindlig. Außerdem war ich schon wieder ein bisschen aufgeregt, und noch aufgeregter war ich wegen der Kritiken. Ich griff nach meinem Handy und schaltete es ein – wenn ich erste Informationen einholen wollte, dann auf diesem Wege. Während ich darauf wartete, dass das Ding hochfuhr, wanderten meine Gedanken plötzlich zu Liam und zu der Tatsache, dass ich bald 25 werden würde. Das weckte irgendein seltsames Gefühl in mir, das ich nicht benennen konnte, ein Taumeln im Magen, aber ich vergaß es wieder, als ich auf das Display des Handys schaute. Ich hatte einige Nachrichten, die meisten waren Glückwünsche von Personen, die ich nicht oder kaum gesprochen hatte. Als ich eine Nachricht von Marius sah, musste ich lächeln. Er war am letzten Abend da gewesen und wir hatten lange miteinander gesprochen. Trotzdem schrieb er mir noch einmal. Allerdings war die Nachricht erst vor wenigen Stundenabgeschickt worden, gegen neun Uhr in der Früh. Das war seltsam. Sie lautete: Herzlichen Glückwunsch, Anouk! Jetzt kannst du endgültig stolz auf dich sein!
Was zum Himmel konnte das heißen?
Ich hörte die Haustüre klappern und sprang auf. Der Duft von frischen Brötchen wehte herüber, und ich hatte nicht einmal den Tisch gedeckt! Ich flitzte in die Küche und sah Liam mit einem fetten Grinsen vordem Küchentisch stehen. In der Hand hielt er eine Zeitung.
„Hier“, sagte er und warf sie mir zu. Ich fing sie reflexartig.
„Schlag den Kulturteil auf!“
Ich stand im Türrahmen, plötzlich völlig aufgeregt und kopflos, und blätterte zittrig die Seiten durch. So schnell? Himmel! Ich hatte gedacht, die erste Kritik etwas später lesen zu können. Ein paar Werbeprospekte fielen zwischen den Seiten heraus, ich ließ sie einfach liegen. Da – der Kulturteil.
„Du meine Güte!“, lachte ich.
Da war ich. Auf einem riesigen Foto, das in die Mitte des Textes gedruckt war. Überraschenderweise war es mal kein Foto des „Ich gehör nur mir“ – Schlusstones, sondern eines aus „Totenklage“. Ich hockte gerade auf dem Boden, eine Hand nach dem unsichtbaren Sarg ausgestreckt, und mein Gesicht war der einzigst helle Fleck auf dem Bild. Stolz wallte in mir auf und auch ein wenig – na ja, eigentlich ziemlich viel – Selbstgefälligkeit.
Ich sah gut aus.
Das heißt, genaugenommen schlecht, ziemlich depressiv, aber attraktiv-depressiv. Alt. Richtig schauspielerisch. Ein wenig widerstrebend löste ich den Blick von dem Foto und wandte mich dem Text zu. Warum hatten sie ein düsteres Foto genommen? Waren sie von meiner Darstellung der leidenden Elisabeth begeistert? Oder sollte es verdeutlichen, dass es nicht nur Elisabeth, sondern auch den Zuschauern schlecht ergangen war?
Ich begann zu lesen.

Eine seltsame Kaiserin, ein lebendiger Tod und ein anarchistischer Mörder – aus diesem Personendreieck setzt sich die Geschichte des Musicals zusammen, das trotz schwarzer Kritiken und abschätzigen Artikeln längst Kult geworden ist und längst auch internationale Erfolge verbuchen kann. Die Geschichte um die schöne Kaiserin Elisabeth mag den meisten aus den berüchtigten Sissi-Filmen mit Romy Schneider geläufig sein, und wen kümmert es, dass das meiste bloß verkitschter Humbug und eine Sammlung aus beschönten Halbwahrheiten ist?
Michael Kunze und Sylvester Levay kümmerte es etwas. Sie schrieben ein Musical, das die wahre Geschichte der Kaiserin auf subtil-düstere Weise darstellt. Nacherzählt wird ihr Leben von ihrem Mörder Luigi Lucheni, der, gefangen in einer Unterwelt, wieder und wieder Rechenschaft ablegen muss für seine düstere Tat. Und die erklärt er so: Elisabeth liebte den Tod, und er liebte sie. Das glaubt keiner der Richter, bis der Tod selbst in körperlicher Form die Bühne betritt und es bestätigt. Und nach diesem Prolog beginnt die Lebensgeschichte der Sisi. Gezeigt werden fröhliche, aber auch melancholische Kindheitstage, eine frühe Hochzeit, ein vielbeschäftigter, lieblos-naiver Ehemann und eine Sisi, deren Todessehnsucht im wahrsten Sinne des Wortes wächst – mehrere Male ist sie versucht, den androgynen Helden zu küssen und sich so seiner Liebe und dem Tod selbst zu ergeben. Doch der Versuch, sie zu bekommen, scheitert ein ganzes Leben lang, ein Leben voller Höhen und vielen, sehr vielen Tiefen.
Die aktuelle Inszenierung im Colosseum Theater Düsseldorf kehrt wieder zu ihren Ursprüngen zurück – es wird zwar weiterhin mit reduziertem, nahezu nicht existentem Bühnenbild gearbeitet, aber die üblicherweise verwendeten Projektionen, welche die aktuelle Kulisse anreißen, sind zurückhaltender und ruhiger geworden. Es gibt keine wilden Hintergrundbewegungen mehr und keine großen Pixel, nur eine Zugbrücke in Form einer Feile, welche von diversen Darstellern in unterschiedlicher Weise dezent bespielt wird. Das Gesamtbild ist angenehm zu betrachten, die Charaktere werden merklich in den Vordergrund gerückt, es wird noch einmal nachdrücklich gezeigt: hier geht es um Personenanalysen und starke Charaktere – ein bunteres Bühnenbild würde zu einer schieren Reizüberflutung führen angesichts der Ausdruckskraft, die schon die historischen Personen an sich, nicht zuletzt aber auch die Darsteller bieten.
Dass auf der Darstellerliste nahezu keine namhafte Person zu finden ist, zeigt auch den fortschrittlichen Gedanken, ein abwechslungsreiches Programm zu bieten und nicht immer die alte Leier zu spielen.

(Und endlich kamen sie zu den Darstellern!)
Hauptperson Elisabeth wird nachempfunden von Anouk Steger. Die vierundzwanzigjährige Darstellerin, die ihr Studium an der Music&Art Academy Hannover absolvierte, spielt eine facettenreiche Kaiserin, die vom jungen, naiven Mädchen zur gealterten, traurigen Frau wird. Besonders die tiefschürfenden Schicksalsschläge wie der Tod zweier Kinder und der völlige Verlust an Lebensfreude sind bestürzend genau nachgestellt und rücken ein beschöntes Kitschbild der liebenswerten, fröhlichen Sissi zureckt. Aber wie im echten Leben lässt sie den Zuschauer auch mit Fragen zurück – Fragen, die Elisabeth in ein kritisches Licht rücken: im Gegensatz zu früheren Inszenierungen wird hier das Bild einer zwar schönen, klugen und bemitleidenswerten, aber auch einer eigensüchtigen und später sehr lieblosen Frau gemalt. Es ist diese eine Neuerung im Spiel, die die Kaiserin so authentisch und fragwürdig erscheinen lassen. Der im Vordergrund stehende Gesang ist da „nur“ das Tüpfelchen auf dem i: glasklar, sicher und nuanciert meistert Steger jeden Song und lässt, was spitze Töne angeht, keine Wünsche offen.
Ihr Gegenspieler – oder ist es doch der heimliche Held? – , der Tod, wird gespielt von Julian Kuhn. Auch Kuhn besinnt sich auf die Anfänge des Stücks zurück und gibt nach Jahren des Rockigen Schmachtboys einen androgynen, geheimnisvollen und kaum aggressiven Tod. Mit geschmeidigen, ja tänzerischen Bewegungen und ruhiger Stimmlage zieht er die Zuschauer in seinen Bann. Eine Aura des Geheimnisvollen umgibt ihn, nicht zuletzt durch seine geradezu expressionistischen Gesichtszüge. Er ist schleichend und schmeichelnd und selten wütend, und der Zuschauer erfährt eine andere Anziehungskraft – eine Kraft, die nicht nur die offensiven Rocker ausstrahlen.
Elias Levi lockert die düstere Atmosphäre mit seinem zynischen Lucheni deutlich auf – und gibt viele Denkanstöße, indem er dem Publikum seine Sicht auf Sisi zeigt. Seine Stimme ist hier wieder etwas rockiger angelegt, aber nicht aufdringlich; die Spielfreude drückt sich in durchdachten Bemerkungen aus; er scheint immer im Geschehen zu sein und doch über ihm zu stehen; er begibt sich auf eine Ebene mit dem Publikum und schafft es, die Geschichte tatsächlich nachzuerzählen statt einfach nur geschehen zu lassen.

Ich ließ die Zeitung sinken. Es ging noch weiter, das Musical war das Ereignis in der Stadt, aber ich hatte erst einmal genug. Der Artikel war eine Aneinanderreihung an Lobhudeleien, aber Gott sei Dank nicht sehr platt, sondern durchdacht. Und das Wort „nett“ kam nicht einmal darin vor. Ich setzte mich. Während ich gelesen hatte, hatte Liam begonnen, den Tisch zu decken.
„Und, was sagst du?“, fragte er.
„Puh!“, machte ich und lachte. „Das ist… ziemlich gut. Sehr sogar. Kein schlechtes Wort.“
„Heute Abend kommt bestimmt ein Bericht auf wdr“, sagte Liam. „Das machen sie immer. Ich nehme ihn dir auf. Oh, und ich wette, ihr habt auch bald mindestens ein Interview in diesen Frühstückssendungen.“
„Tja, Erfolg bringt Arbeit“, sagte ich trocken und unbesonnen.
Tatsächlich war ich sehr naiv, stellte ich später fest. Denn als ich den Schock über die hervorragenden Kritiken – es gab noch weitere, und die meisten waren angenehm bis euphorisch zu lesen – verdaut hatte, kam auch schon der nächste. Es war allerdings kein schöner.
Liam fuhr mich gegen halb sechs zum Theater. Wir hatten den Tag in der Wohnung verbracht, und es tat gut, nur herumzuhängen. Es tat auch gut, zur Arbeit gefahren zu werden. Vor dem Theater stand eine kleine Menschenmasse, und ich dachte mir erst nichts dabei, schließlich befand sich das Tanzhaus direkt daneben und auch dort fanden Veranstaltungen statt. Ich verstand erst, dass die ganze Meute es auf mich abgesehen hatte, als ich mich verabschiedet und meine Fluchtmöglichkeit weggeschickt hatte. Das Auto brauste davon und ich fand mich umringt von tollwütigen Fans, die mir ihre Fotos und Kärtchen und Tickets unter die Nase hielten, zusammen mit Kulis, Eddings und mehreren Bitten: „Bitte, eine Widmung für meine Tochter!“, „Können wir ein Selfie machen?“, „Wer wird heute Abend den Tod spielen?“, „Ist Julian da, kannst du ihn rausholen?“, „Könnt ihr alle für ein Foto kommen?“
„Äh“, machte ich. „Äh… Nein, ich… sind sie schon da? Ich weiß es gar nicht…“ Ich fühlte mich sehr unbehaglich. Ich hatte noch keinen Fanandrang gehabt, zumindest keinen derartig ausgearteten, und von überall her prasselten Bestätigungen auf mich ein, ich sei die beste Elisabeth, das größte Vorbild und dergleichen. Ich nahm fahrig alle Karten entgegen und setzte meine krakelige Unterschrift darauf, ich machte einige Fotos und flüchtete dann durch die Bühnentür ins Theaterinnere.
„Oh Gott!“, sagte ich laut, und jemand lachte. Es war Karl.
„Verrückt, oder?“, fragte er. „Sie wollten ein Selfie, und ich bin so groß, dass es ganz schön anstrengend war, mit allen auf gleicher Höhe zu bleiben.“
„Das war schrecklich!“, sagte ich.
„Warte nur, bis wir raus sind!“, prophezeite er mir. „Nach der Show ist es am schlimmsten.
Julian war heute in der Stadt, bei Kaufhof ist eine Ausstellung zu unserem Musical, mit lebensgroßen Pappfiguren in einem gestalteten Schaufenster. Er ist dran vorbei gegangen und wollte es fotografieren, da haben ihn die ersten erkannt. Es muss anstrengend gewesen sein.“
„Es ist anstrengend“, bestätigte ich. Ich hatte Herzklopfen.
Ich hatte nie gelernt, mit großem Fanandrang umzugehen. Wieso auch? Ich hatte nie richtig darüber nachgedacht, berühmt zu werden, und jetzt, da ich es mir überlegte, stellte ich fest: es war gar nicht erstrebenswert, berühmt zu sein. Ich schloss mich in meiner Garderobe ein. Und kam mir vor wie ein richtiger Star, als ich dachte: ich muss meine Managerin sprechen!
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 07.02.2016, 14:59:10

Wow, so ein langer und toller Teil - Hut ab! Mir gefällt es sehr gut, wie du den Premierenabend aufgreifst, ohne ihn detailliert zu beschreiben. Der Zeitungsartikel ist dir verdammt gut gelungen, ich find das immer echt schwer, aber der lässt (fast) keine Wünsche offen (einzig einmal hast du Sisi mit zwei s geschrieben und für mich gehört das Colosseum nach Essen NICHT nach Düsseldorf ;) Da hättest du einen anderen Namen wählen können). Auch den Fantrubel hast du treffend beschrieben und ich bin sehr gespannt, ob Anouk sich daran gewöhnen wird.
Die Ankündigung, dass die nächsten Teile bald kommen, erfreut mich sehr!!
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~


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