Mich trägt mein Traum

Eure musicalischen Stories oder Fanfictions könnt ihr hier posten.

Moderatoren: Sisi Silberträne, Elphaba

Benutzeravatar
Ophelia
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 1434
Registriert: 10.04.2013, 16:02:28

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 03.05.2014, 19:05:02

Tja, was macht Daniel..? Ehrlich gesagt weiß ich's selbst nicht... :oops: Das muss ich in den folgenden Teilen irgendwie einbauen, danke für die Nachfrage!
So, hier geht's weiter mit dem ersten Schultag. Ich habe nicht viel Ahnung, wie das so ist auf einer Musicalschule, was für Stundenpläne man da hat u.s.w. Falls ich mal völlig daneben liegen sollte, müsst ihr mich korrigieren ;)

Erst am nächsten Morgen traf ich meine anderen Mitbewohner. Ich musste erst um zehn Uhr an der Schule sein, trotzdem stand ich früh auf und fand das Bad trotzdem besetzt vor.
„Sebastian ist drin“, ertönte eine Stimme hinter mir. „Und der braucht länger als Melissa. Er braucht sogar länger als alle Frauen dieser Welt.“ Es musste Jens sein. Er hatte blondes Haar, das in alle Richtungen abstand, und sah nicht schlecht aus.
„Hi, ich bin Jens.“ Er umarmte mich.
„Anouk“, erwiderte ich.
„Und, bist du schon aufgeregt auf den ersten Schultag?“
„Ja, ziemlich.“
Er grinste. „Dann solltest du mein Rührei probieren: das schmeckt so gut, dass es dich auf der Stelle von all deinen Sorgen befreit.“ Er zog mich in die Küche, ohne mich Antworten zu lassen, und ehe ich mich versah, saß ich auch schon am Tisch, einen Teller mit köstlich duftendem Rührei vor der Nase. Ich probierte vorsichtig.
„Mann, das ist wirklich gut!“, sagte ich. Jens sah zufrieden auf den Herd.
Eine Weile war ich so beschäftigt mit Essen, dass ich gar nichts mitbekam. Erst, als jemand die Küche betrat, sah ich auf.
„Mann, Leute, ich habe so schlecht geschlafen heute Nacht. Ist denn schon wieder Vollmond?“
Ich starrte den Jungen an und versuchte, ganz neutral zu gucken. Es musste Sebastian sein, und jetzt, wo ich ihn sprechen hörte und ihn sah, fügte sich alles ineinander: sein Sinn für Stil, dass er so lange im Bad brauchte, sein Gesundheitsfimmel… Sebastian war stockschwul. Ich fand das süß, irgendwie. Ich hatte mir schon immer einen schwulen Freund gewünscht.
„Oh, hallo!“ Er sah mich und kam auf mich zu, und ich wurde erneut mit einer herzlichen Umarmung begrüßt. „Ich habe den Tag gestern total verschlafen, tut mir so leid, dass ich dich jetzt erst begrüße!“, sagte er. Ich fragte mich, warum er dann noch müde war.
„Wie wär’s mit einem Kaffee?“, fragte Jens.
„Oh, nein, nein, nein! Meinen Himbeersmothie, jetzt!“ Sebastian griff in den Kühlschrank. Ich senkte den Blick und versuchte, nicht zu lachen. Sebastian war wirklich ein totales Klischee. Aber er war mir auf Anhieb sympathisch. Ich beobachtete die beiden, wie sie über richtige Ernährung stritten, und dann dachte ich, dass sie eine große, alberne Familie waren, die ständig neu geboren wurde.

Die Music&Art Academy war ein großes, viereckiges Gebäude, das auf den ersten Blick gar nicht in die Stadt passte mit seinen großen Glasfronten und dem modernen Kiesweg. Das Gelände war eingefasst von einem dunklen Metallzaun. An dem geöffneten Tor hing ein Schild mit der Aufschrift
Music & Art Academy
Schule für Musik und Kunst

Ich schritt hindurch und folgte dem aus steinernen Bodenplatten bestehendem Weg bis zur Eingangstür. Sie war sehr groß und führte in eine helle Halle. Ich kam mir zuerst ein wenig vor wie im Theater – Stuck an den weißen Wänden, eine Garderobe, über einem langen Tresen hing ein Schild mit dem Wort Information. Unsicher ging ich darauf zu.
„Entschuldigung?“
Die Frau, eine ältere, nette Dame, sah auf und lächelte.
„Ich bin Anouk Steger“, sagte ich.
„Ah, sicher ist heute der erste Schultag für Sie?“ Sie tippte etwas in ihren Computer ein, dann nickte sie sich zu und blätterte in einem Karteikasten. „So, Anouk, hier ist Ihr Schülerausweis, bitte melden Sie einen Verlust rechtzeitig und tragen Sie ihn immer bei sich. Bei außerschulischen Veranstaltungen werden Sie ihn brauchen.“ Sie reichte mir eine schmale Mappe. „Hier sind einige wichtige Informationsblätter, Ihr Stundenplan sowie Hausregeln und so weiter. Sie werden in Aula 2 erwartet, links den Gang hinunter, die erste Türe rechts.“
„Okay. Danke.“ Ich nahm die Mappe entgegen und ging den beschriebenen Weg entlang. Ich erreichte die Aula tatsächlich ohne Umwege. Die gewaltige Flügeltüre stand offen, und ich betrat schüchtern den Raum – nein, es war beinahe ein riesiger, festlicher Saal, mit einer großen, hellen Bühne und hohen, schmalen Fenstern. Schwere Vorhänge und eine Art Balkon am anderen Ende des Saales konnte ich außerdem ausmachen. Jetzt war es beinahe leer, nur zwei Stuhlreihen links und rechts vom Gang waren aufgestellt. Darauf saßen, in großen Abständen zueinander, die neuen Schüler. Einige redeten miteinander, andere saßen stumm da oder lasen in den Mappen. Ich setzte mich mittig in die zweite Reihe und sah mich um. Ein schwarzer Flügel stand dekorativ auf der Bühne, außerdem war dort ein Pult mit Mikro.
Außer mir, das wusste ich, gab es in diesem Jahrgang nur elf weitere Schüler. (Die Wahrscheinlichkeit, aufgenommen zu werden, war so gering! Warum ich?) Ich zählte, dass wir schon zu acht waren. Um kurz vor zehn waren alle versammelt. Ich zählte immerhin fünf Jungen und sieben Mädchen. Ungewöhnlich viele männliche Teilnehmer, dachte ich.
„Hallo, Anouk. Darf ich mich neben dich setzen?“
Ich sah erstaunt auf. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Michael, der den Zauberer gespielt hatte! Wie konnte ich ihn nur vergessen? Und warum hatte ich ihn nicht sofort erkannt?
„Klar“, sagte ich erleichtert. „Setz dich.“ Ich konnte sehen, dass er ebenfalls erleichtert war, jemanden zu kennen.
„Hast du eine Wohnung hier?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf.
„Meine Cousine wohnt in der Nähe. Ich muss zwar ein ganzes Stück fahren, aber ich muss keine Miete zahlen, zum Glück. Und du?“
Ich berichtete ihm kurz von der WG, hielt aber inne, als die Türen geschlossen wurden. Jemand betrat die Bühne. Es war eine Frau, vielleicht Mitte fünfzig, sehr schick angezogen. Ihr Blick war furchtbar streng, aber sie lächelte ein wenig.
„Ich begrüße Sie, Damen und Herren, auf der Music&Art Academy!“ Sie hatte einen englischen Akzent. „Sie sind hier in der Aula der Abteilung Music. Falls Sie für Kunst angemeldet sind, bitte ich Sie, diese Aula nun zu verlassen.“
Vereinzeltes Gelächter, einige sahen sich neugierig um. Niemand rührte sich.
„Sehr schön.“ Die Frau rückte sich ihre rote Brille zurecht. „Mein Name ist Paige, Mrs. Paige, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich auch so ansprechen. Ich bin Dozentin an dieser Schule seit 15 Jahren. Ich werde Sie unterrichten in Ensemblearbeit sowie einige von Ihnen in Einzelgesang.“ Sie ließ Ihren Blick kurz durch die Reihen schweifen. „Ich möchte nun, dass Sie mir genau zuhören, und dass Sie das Gehörte behalten und überdenken.
Eine Musicalausbildung ist nie, in keinem Fall, eine gewöhnliche Ausbildung. Sie alle glauben zu wissen, was auf Sie zukommt. Sie glauben zu wissen, dass diese Ausbildung hart ist, schwer, schmerzhaft, ausdauernd, fordernd, anspruchsvoll, und Sie glauben, dass Sie den Anforderungen gewachsen sind.
Ich werde Ihnen nun etwas sagen, dass Ihnen den Boden unter den Füßen wegreißen wird:
Niemand, ich sage, niemand von Ihnen, ist den Anforderungen im Moment gewachsen.“
Eine unangenehme Stille trat ein, die Schüler sahen sich ratlos an.
„Hier zu sitzen bedeutet für Sie das reinste Glück. Sie denken, Sie haben es geschafft? Sie irren sich. Sie haben es geschafft, wenn drei Jahre vorüber sind. Wenn Sie hier sitzen und Zweifel haben, ob das hier Ihr Ding ist, dann sind Sie falsch. Wenn Sie nicht hundertprozentig für Ihren Traum leben, dann werden Sie Schwierigkeiten haben. Und das“, sie machte eine unheilschwangere Pause, „sehen wir Ihnen sofort an.“
Mir wurde heiß. Tausend Zweifel bemächtigten sich meiner. War ich hier richtig? Warum sagte sie uns so etwas? Würde sie sehr streng sein? Würde ich es nicht schaffen? Ich sah die anderen Schüler an und wusste, dass sie sich genauso fühlten. Da begann Mrs. Paige plötzlich zu lächeln.
„Genug Angstmacherei“, sagte Sie. „Ich heiße Sie herzlich willkommen auf unserer Schule. Auf dass wir eine wunderbare, lehrreiche Zeit haben, in der Sie über sich hinauswachsen werden. Seien Sie Freunde, keine Feinde. Kameraden statt Konkurrenten. Jetzt ist die Zeit, in der Sie voneinander lernen können. Später werden Sie sich gegenseitig die guten Jobs klauen. Wachsen Sie zusammen, denn für die nächsten drei Jahre sind Sie ein Ensemble.
Und nun schlagen Sie bitte Ihre Mappen auf. Sie finden als erstes IhrenStundenplan; er ist auf jeden Schüler individuell ausgerichtet. Einiges haben Sie gemeinsam, einiges alleine. Erste Aufgabe: finden Sie sich im Gebäude zurecht.“
Sie verschwand hinter der Bühne, und wir blieben zurück, verwirrt, ängstlich und orientierungslos.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

Benutzeravatar
Gaefa
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 2203
Registriert: 20.03.2007, 18:32:59
Wohnort: Göttingen

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 03.05.2014, 20:32:01

Schöner Teil und eine interessante Begrüßung. Ich hoffe, dass das zweitere ihr wahres Gesicht war und sich alles zum Guten entwickelt. Mach bald weiter!
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~

Benutzeravatar
Ophelia
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 1434
Registriert: 10.04.2013, 16:02:28

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 06.05.2014, 16:25:33

Man merkt, dass ich zu tun hab... Die Zeit der tausend Ideen ist vorbei, zumindest kann ich sie nicht mehr sofort aufschreiben. Aber ab übernächster Woche hab ich laaaaange frei, also geht's bald (hoffentlich) etwas schneller.

Ich stand irgendwo in der Schule und sah mich um. Auf meinem Stundenplan stand Gesang Einzel, Paige, 301. 301, das konnte nur der Raum sein. Ich hoffte, dass es nicht wirklich über 300 Räume gab. Ich war jetzt schon im Niemandsland gestrandet. Eine Weile irrte ich umher, schluckte die Tränen runter und ärgerte mich, dass ich so ein Pech haben und als erste Mrs. Paige haben musste. Und plötzlich landete ich in einem schmalen Korridor, dessen Türen mit 300 aufsteigend nummeriert waren. Halleluja! Ich war plötzlich wieder nervös. Mit der Mappe fest an meine Brust gedrückt betrat ich den offen stehenden Raum. Er war nicht sehr groß, ein Klavier, ein Spiegel an der Wand, Musikboxen, Notenständer. Mrs. Paige saß gemütlich auf einem Sessel und las in einer Zeitung.
„Schön, dass du mich gefunden hast, Anouk.“ Sie legte die Zeitung weg und sah auf die Uhr. „Na, immerhin zwanzig Minuten.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte Mrs. Paige überhaupt nicht einschätzen, gleichzeitig hatte ich seit Erwähnung des Namens Paige einen Ohrwurm von Memory aus Cats. Abwartend stand ich da und sah sie an. Da stand sie endlich auf und klemmte sich hinter das Klavier.
„Setz dich!“, forderte sie mich mit einer ungeduldigen Handbewegung auf. Ich ließ sich auf dem Sessel nieder, auf dem Mrs. Paige bis eben gesessen hatte.
„Ich möchte heute noch gar nichts anfangen“, sagte sie und zog ihre Brille ab. „Ich möchte, dass du mir erzählst, welche Erfahrungen du schon mit Musik hast, und wie du dazu gekommen bist. Was du kannst, was deine Stärken und Schwächen sind.“
Und so begann ich zu erzählen, erst stockend, dann immer sicherer. Von meinen heimlichen Stunden, dem ersten Auftritt, dem Casting, der ersten Rolle.
So ging es übrigens in fast jeden Fächern. Meistens mussten wir nur erzählen, in kurzen Erzählrunden. Eine davon ist mir besonders in Erinnerung; es war in unserer ersten Theaterstunde, Schauspiel Basics, Ensemble. Unser Lehrer war ein Mann, den ich sofort mochte: ein mittelalter, afroamerikanischer Schauspieler, der zum Glück fließend Deutsch sprach und mit wenigen Worten die ganze Welt vermitteln konnte.
„Ich weiß“, sagte er, als wir alle vor ihm saßen, auf dem Boden des Probenraumes, „dass Sie schon tausende Male erzählen mussten, warum Sie hier sind. Ich möchte auch, dass Sie das tun, aber anders.“ Er griff hinter sich, wo auf einem Pult mehrere Papiere lagen, und hielt eine Eieruhr hoch. „Sie haben fünfzehn Minuten Zeit, um ein grobes Konzept auszuarbeiten, wie Sie Ihre Persönlichkeit darstellen können, ohne viele Worte. Am liebsten sogar stumm. Anschließend weitere fünfzehn Minuten, in denen Sie sich austauschen, immer zu zweit. So lernen Sie sich kennen.“
Wir verteilten uns auf der großen Bühne, jeder mit Papier und Stift bewaffnet. Ich saß da, mit klopfendem Herzen. Improvisation also. Ich atmete tief durch und dachte nach. Was machte mich aus?
Eindeutig meine unverwechselbaren Minderwertigkeitskomplexe und irrationalen Ängste. Ich schrieb Unsicherheit auf mein Blatt und Angst. Aber auch meine Liebe zur Musik, dachte ich. Aber wahrscheinlich würde jeder zweite Schüler pantomimisch singen, also fiel das schon mal weg. Ich saß da und grübelte, immer wider einige Ideen aufschreibend. Als die Eieruhr schrillte, suchte sich jeder zögernd einen Partner. Ich geriet an ein Mädchen namens Sarah. Sie war auch sehr ruhig. Wir tauschten uns ein wenig aus, ein holpriger Versuch, unsere Unsicherheit zu überspielen, dann schwiegen wir uns an. Irgendwann war die Zeit um und die „Vorstellungen“ begannen.
Wir bekamen einige witzige, aber auch sehr berührende Dinge zu sehen. Ein Junge schrie die ganze Zeit ein einziges Wort, „Ja, ja, ja“, immer wieder, dann das Gleiche mit „Okay, okay!“ Sarah und ich sahen uns an, und beide mussten wir uns beherrschen, nicht laut loszulachen.
Dies war der Grundstein unserer Freundschaft.
Ich selbst mimte mich als ängstliches, zurückgezogenes Mäuschen, das sich eines Tages aufrichtete und in die Welt hinausging, um eine böse Hexe zu werden (das zumindest war der Plan; vermutlich sah es eher aus wie eine Mutation).
Nach dem Unterricht war ich seltsam beflügelt; der Schauspielkurs war der erste, der mir wirklich Freude bereitet hatte, aus dem einfachen Grund, endlich etwas gemacht zu haben.
Die erste Woche an der neuen Schule ging vorüber und war recht ereignislos. Ich war nicht enttäuscht, denn ich wusste: die entspannten Zeiten würden sich sehr bald ändern.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

Benutzeravatar
Gaefa
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 2203
Registriert: 20.03.2007, 18:32:59
Wohnort: Göttingen

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 06.05.2014, 17:43:12

Schöner Teil. Interessant, dass es noch nicht richtig los geht - aber das scheint wohl die Ruhe vor dem Sturm zu sein. Ich hoffe, dieser kommt, wenn du wieder mehr Zeit hast! Ich kenn das nur zu gut, meine Geschichte liegt so oft unberührt auf dem PC rum, weil so viel anderes zu tun ist ;)
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~

Benutzeravatar
Eponine Thénardier
Musical-Besucher
Musical-Besucher
Beiträge: 371
Registriert: 03.04.2012, 22:00:17

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Eponine Thénardier » 07.05.2014, 15:39:36

Zwei sehr schöne Teile! Mir gefällt die Beschreibung der Schauspielstunde, mal sehen, wie Anouk sich in den anderen Fächern schlägt! :)
"IF LIFE WERE MORE LIKE THEATRE, LIFE WOULDN'T SUCK SO MUCH!" (Opening der Tony Awards 2012)

Benutzeravatar
Ophelia
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 1434
Registriert: 10.04.2013, 16:02:28

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 10.05.2014, 16:44:17

Endlich geht's weiter. Doofe Schreibblockade. Die unten beschriebene Schauspielübung habe ich übrigens auch gemacht, sie ist wirklich anstrengend :lala:

Die Arbeit ließ nicht lange auf sich warten. Bereits in der zweiten Woche begannen wir, einen Tanz einzustudieren. Im Fach Gesang Ensemble bekamen wir das erste Projekt aufgedrückt, einen Musicalsong in Gruppenarbeit aufzusplitten und vorzustellen. In meinen Einzelstunden beharrte Mrs. Paige immer und immer wieder auf die Notenlehre, denn sie hatte schnell mein größtes Problem herausgefunden (diese kleinen, schwarzen Käfer auf Papier!).
Es gab Momente, in denen ich am liebsten geheult hätte, aber ich riss mich zusammen, denn ich wusste: wenn ich mich erst an diese neuen Abläufe gewöhnte, würde es mir leichter fallen. Ich würde abends nicht mehr drei Tassen Tee trinken müssen, ich würde endlich wieder die Treppe bewältigen können, ohne Muskelkater. Meine Füße würden wieder Füße sein, keine Betonklötze.
Einzig unser Schauspiellehrer namens Parker ließ seinen Unterricht gelassen angehen – zumindest gab es weniger psychischen Druck. In einer der nächsten Stunde sagte er, es sei Zeit, uns besser kennen zu lernen.
„Das erste, das Sie verlieren müssen“, sagte er, „sind Ihre Berührungsängste. Denn Ihr Körper ist mit Ihrer Stimme und Mimik Ihr größtes Ausdrucksmittel.
Ich bitte Sie nun, sich einen Partner zu suchen. Es ist ganz egal wer. Gehen Sie voreinander in die Knie, ja, sehr gut. Spüren Sie, wie weh es tut?“
Einstimmiges Stöhnen. Man konnte den Muskelkater fast fauchen hören. „Bieten Sie Ihrem Partner die rechte Hand an, aber ohne sich zu berühren.
Sie könnten sich nun gegenseitig helfen. Aber Sie wollen doch nicht schlappmachen? Vor jemandem, den Sie kaum kennen?“
Irgendjemand brummte unterdrückt.
„Sie wollen doch beweisen, wie stark Sie sind?“ Herr Parker (der sich partout nicht mit Mister ansprechen lassen wollte), ging langsam herum. Uff, das war wirklich anstrengend! Ich sah mein Gegenüber an. Natürlich, ausgerechnet ich war an so einen sportlichen, gut gebauten (und –aussehenden) Typen geraten. Ich wusste, wie er hieß. Liam. Er kam aus London und sein Selbstbewusstsein haute einen glatt um. Leider hatte er nicht umsonst zu viel davon – er war schon jetzt einer der besten. Vor ihm aufzugeben, wäre einfach nur peinlich.
„Na los“, sagte Herr Parker, „sagen Sie schon: „Hilf mir!“, dann wird Ihr Gegenüber Ihnen aufhelfen. – Allerdings hätten Sie dann beide verloren…“
Auch das noch. Es wäre meine Schuld, wenn er aufgeben musste. Er würde sicher bis zum Ende durchhalten können, und Kapitulation würde ihn sicher furchtbar ärgern… Ich biss die Zähne zusammen. Es war totenstill, nur ab und zu ein Ächzen hier, einen Stöhnen dort.
„Und jetzt“, sagte Parker leise, „agieren Sie miteinander. Suchen Sie sich einen Charakter, erschaffen Sie eine Person. Keine Worte, nur Mimik.“
Liams Gesicht wurde sofort wie versteinert, seine Augen waren kalt wie Eis. Es war nicht gespielt, ich war wirklich erschrocken. Er war wirklich gut, und ich ärgerte ich furchtbar darüber.
Die Minuten verrannen, niemand bewegte sich. Ich dachte, ich müsse sterben, als plötzlich jemand – tatsächlich 30 Minuten später! – kläglich sagte: „Hilf mir!“
Die ersten standen auf, und es entstand eine regelrechte Welle, bis nur noch vie Paare auf der Bühne hockten. Meine Beine begannen zu zittern. Okay, dachte ich, immerhin Vierte. Ich sah Liam an. „Hilf mir!“, bat ich. Er grinste kurz, dann hielt er mir die Hand hin und half mir schwungvoll auf. Wankend ließ ich mich auf einen Stuhl fallen. Und sah zu, wie die anderen weiter schwitzten.

Jazzdance war die Hölle auf Erden. Ich stand vor meinem Spind und fragte mich, wieso meine Beine mich noch trugen. Es war beinahe fünf, der Schultag zu Ende. Mein Magen knurrte.
„Na, halten sie dich noch?“
Ich sah auf. Liam stand vor mir und wies auf meine Beine.
„Kaum zu glauben, aber – ja.“ Ich schlug meine Spindtür zu. „Ob sie’s auf dem Rückweg immer noch tun, ist die andere Frage.“ Ich ging langsam los.
„Ich bin mit dem Auto da“, sagte er und holte mich ein. „Ich könnte dich ein Stück mitnehmen.“
Wir kamen an der Eingangstür an. Der Schülerparkplatz lag links, ich musste nach rechts.
„Schon okay, ich glaube, ich schaffe das. Trotzdem danke.“ Ich winkte kurz zum Abschied und ging los. Nicht umdrehen, dachte ich, nicht umdrehen. Mit geballten Fäusten ging ich weiter, bis ich um die Ecke war. Es war fast wie ein Zwang – ich musste wissen, ob er auch zurück sah, aber jetzt war er aus den Augen. Aber leider nicht aus dem Sinn. – Moment mal! Ich blieb stehen. Warum interessierte es mich, dass er sich nach mir umsah? Ich schüttelte den Kopf und lachte auf. Eine Passantin sah mich befremdet an, und ich ging weiter.
Ich brauchte dringend Schlaf!

Ich war kaum in meinem Zimmer, als mein Handy klingelte. Es war Daniel.
„Und, wie läuft’s?“, fragte er.
„Och, ganz gut. Aber der Unterricht ist ziemlich anstrengend.“
„Welcher?“
Ich lachte. „Jeder.“
„Oh, na ja. Das gibt sich bestimmt.“
„Ja, bestimmt.“ Wir schwiegen kurz. „Und, was machst du so?“
„Och, dies und das. Fürs Abitur lernen. Bewerbungen schreiben. Dich vermissen. So was.“
Ich musste lächeln. „Ich vermisse dich auch“, sagte ich.
„Gut zu hören. Ich muss nämlich gestehen, dass ich ein wenig neidisch bin.“
„Worauf denn?“, fragte ich perplex.
„Auf jeden einzelnen Jungen, der in deiner Stufe ist“, erwiderte er todernst.
„Ach“, sagte ich. „Es ist sowieso kein netter dabei.“ Glatt gelogen – ich hatte noch nie so viele gutaussehende Typen auf einem Haufen gesehen wie an unserer Schule. Klar waren auch einige sehr… Exzentrische dabei, aber viele waren wirklich… nett.
„Kann ich dir das abkaufen?“, fragte er. Er hatte mich durchschaut, aber er nahm es mit Humor.
„Ich glaube nicht, dass Gefahr für dich besteht“, sagte ich. „Hattest du eigentlich gesagt, du lernst fürs Abitur?“
„Allerdings.“
„Jetzt schon?“, fragte ich skeptisch.
„Man muss vorbereitet sein. Übrigens habe ich mich auch an deiner Schule beworben. Im Januar habe ich ein Vorsprechen.“
„Echt? Das ist ja toll! Du kannst bestimmt bei mir unterkommen“, sagte ich.
„Das wäre cool“, erwiderte er.
Wir redeten noch eine Weile über Kleinigkeiten, dann forderte mein Kreislauf dringend Nahrung und Schlaf ein. Wir verabschiedeten uns, und ich konnte diese Sache mit Liam schon nicht mehr verstehen.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

Benutzeravatar
Gaefa
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 2203
Registriert: 20.03.2007, 18:32:59
Wohnort: Göttingen

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 11.05.2014, 20:00:41

Wieder ein sehr schöner Teil!
Aber wie kommt sie bitte darauf, sich für andere Jungs zu interessieren? Der arme Daniel, das soll sie mal ganz schnell wieder sein lassen!!
Schön, dass wir jetzt auch erfahren, was er macht - Abi ist gut ;) Ich bin gespannt, ob er danach an der Schule aufgenommen wird.
Mach bald weiter!
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~

Benutzeravatar
Ophelia
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 1434
Registriert: 10.04.2013, 16:02:28

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 13.05.2014, 14:43:41

Tja, wie kann sie nur..? ;)
Hier kommt ein neuer Teil, aber er ist sooo kurz... Wäre die Geschichte ein Film, wäre das hier wohl der Teaser :oops:

Ich glaube, es gibt keinen Ort, an dem man so viele verschiedene Charaktere trifft wie am Theater, und alle sind einzigartig. In meinem Schuljahr waren fünf Jungen und mit mir sieben Mädchen, und besonders der Tanz- und Theaterunterricht machte es leicht für mich, ihre Persönlichkeiten herauszufinden.
Michael kannte ich bereits von Wicked; er war ein guter Sänger und Schauspieler, aber vor dem Tanzunterricht gruselte es ihn immer, auch wenn er sein Bestes gab.
Liam, an den ich im Theaterunterricht geraten war, kam aus London. Seine Eltern finanzierten ihm seine musikalische Ausbildung, seit er drei Jahre alt war; es hatte nie eine andere Leidenschaft für ihn gegeben.
Jamie, ein dürrer, drahtiger Junge, der aber sehr gut im Tanzen war, brachte immer viel Lebensfreude mit, wo immer er war. Seine Witze und seine lockere, aber zugleich auch besonnene Art beeindruckten mich; er half mir einige Male, wenn ich die Noten nicht lesen oder eine Choreografie nicht nachvollziehen konnte.
Marvin und Mark waren wie Pech und Schwefel; sie lieferten sich regelmäßig Schauspiel-, Tanz- oder Gesangsbattles. Sie waren ein wenig wie Zwillinge, und ich erfuhr, dass sie nach der bestandenen Aufnahmeprüfung beschlossen hatten, beste Freunde zu werden, um nicht so allein zu sein. Sie waren ziemlich schräg drauf.
Von den Mädchen mochte ich Sarah am liebsten. Sie war auch sehr still, aber wenn sie sang, hatte sie eine tolle Stimme. Wir verstanden uns sehr gut und unternahmen in den Pausen viel miteinander.
Aubrey, die älteste von uns allen, war so etwas wie die Jahrgangs-Mutter. Wenn ein Streit aufkam, löste sie ihn schnell durch ihre ruhige, sachliche Art. Ich bewunderte, wie sie sang: ganz locker kamen ihr die Töne über die Lippen, als sei die Musik in ihr drin.
Antonija war ein russisches Mädchen; ihre Eltern hatten den Kontakt abgebrochen, als sie beschlossen hatte, Schauspielerin zu werden. Wäre sie ein Charakter in einem Drama, dann wäre sie die tragische Kämpferin gewesen.
Emilia war ein aufgedrehtes Mädchen mit hüpfenden Locken, und Anna ein stilles, blasses Mädchen, aus dem ich nie so richtig schlau wurde.
Und Isabelle… war eine Persönlichkeit für sich. Sie wusste, dass sie schön war, und sie wusste, dass sie eine der besten war. Und das zeigte sie uns. Es war nicht so, dass sie unfreundlich war, aber die Art, wie sie mit anderen sprach, ließ einen deutlich wissen, wer man in ihren Augen war. Ich gestehe, ich hatte Angst vor ihr. Und es sollte zwei Jahre dauern, ehe sich das änderte, aber dazu später.
Denn bereits im ersten Jahr passierte etwas, das mich völlig aus der Bahn zu werfen drohte…

5 Wochen später
Sarah, Michael, Jamie und ich verließen die Aula.
„Das war doch ein tolles Konzert“, meinte Sarah. „Ich kann’s kaum abwarten, bis wir da oben stehen!“
„Und entweder haben die Lehrer übertrieben“, warf Michael ein, „oder deine Aktion hat wirklich was gebracht.“ Er boxte mir freundschaftlich gegen den Arm. Ich grinste verlegen.
Einige Wochen zuvor hatten sich mehrere Lehrer darüber beklagt, dass die Konzerte der zweiten und dritten Jahrgänge, die regelmäßig gegeben wurden, immer schlechter besucht waren. Als Sebastian davon erfahren hatte, hatte er mich schnurstracks in seine Nachmittags-Radiosendung eingeladen, einen Bericht über die Music&Art gebracht und ganz nebenbei noch Werbung für die Konzerte gemacht. Sarah hatte mir das Interview extra aufgenommen.
„Und heute bei mir zu Gast: Anouk Steger von der Music&Art Academy.“ Die Worte klingelten ständig in meinen Ohren und machten mich furchtbar stolz. Alle hatten mich gelobt. Nur Mrs. Paige hatte gesagt: „Engagement ist nicht lobenswert, sondern selbstverständlich.“ So war sie eben.
„Wie sieht es aus?“, fragte Michael. „Kommt ihr noch mit, irgendwo etwas trinken?“
„Lieber nicht“, sagte Sarah. „Meine Stimme ist eh schon angeschlagen, und Anouk und ich“, sie hakte sich bei mir ein, „treffen uns morgen in der Schule.“
„Morgen ist Samstag!“, sagte Jamie entgeistert.
„Ja“, Sarah sprach langsam und geduldig, wie mit einem kleinen Kind, „aber wir müssen für unsere Karriere arbeiten.“
„Schon klar, macht uns nur ein schlechtes Gewissen.“
Wir verließen die Schule, und Sarah begleitete mich noch ein kleines Stück.
„Hast du gesehen, wie begeistert die Leute aussahen?“, fragte sie.
„Ja“, antwortete ich und sah mich um. Ich hasste es, im Dunkeln nach Hause zu gehen. Einige Meter weiter stand eine dunkle Gestalt, und ich hatte das mulmige Gefühl, dass sie mir nachsah. Ich war froh, als ich endlich zu Hause war.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

Benutzeravatar
Gaefa
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 2203
Registriert: 20.03.2007, 18:32:59
Wohnort: Göttingen

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 13.05.2014, 15:11:36

Och Mensch, du kannst doch nicht einen fulminanten Höhepunkt ankündigen und dann auf dem Weg dorthin einfach aufhören. Schnell weiter! Ich bin ganz ganz gespannt, was da passiert -auch wenn mir nichts gutes vorschwebt!
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~

Benutzeravatar
Ophelia
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 1434
Registriert: 10.04.2013, 16:02:28

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 15.05.2014, 15:08:40

Weil die Prüfungen geschafft sind und hier so toll mitgefiebert wird, Teil 17 & 18! Würde mich über weitere Kritik feuen :)

„Also, gib mir einen Tipp!“, rief Sarah entrüstet. „Ich dachte, du hast das Lied schon mal gesungen?“
„Ja, schon. Aber jeder singt es anders.“
„Es geht ja nur um diese eine Stelle. Sollte ich Künstler inbrünstig oder genervt aussprechen?“ Es ging um Irgendwo wird immer getanzt. Sarah übte es ein, und seit sie erfahren hatte, dass ich es bei einem Casting vorgetragen hatte, glaubte sie in mir den Mozart-Song-Gott gefunden zu haben. Aber es war Samstag, ich saß in der Schule und hatte einen Disney-Marathon hinter mir (Melissas Idee).
„Ich weiß auch nicht“, sagte ich. „Ich denke-“ Ich hielt inne, als mein Handy lossummte. Unbekannt. Sarah sah mich fragend an. Ich hob die Schultern und ging ran.
„Anouk Steger?“
Auf der anderen Seite rauschte es, dann ein Knacken und das Freizeichen. Stirnrunzelnd legte ich auf. „Keiner dran“, sagte ich.
„Bestimmt verwählt.“
„Bestimmt.“ Ich redete weiter und vergaß den Anruf wieder.

„Sehr schön, Anouk. Vielen Dank.“ Mrs Paige zog ihre Brille ab und ich klappte mein Songbook zu.
„Haben Sie noch eine Minute?“, fragte sie. Ich hörte auf, meine Sachen in die Tasche zu stopfen. „Klar“, sagte ich.
„Sie haben große Fortschritte gemacht, Anouk. Ihre Stimme gibt mehr her, als Sie denken. An Ihrer Stelle würde ich so hart arbeiten, wie es geht – wenn Sie vorhaben, Karriere zu machen.“
„Ich gebe mir Mühe. Danke, Mrs. Paige.“ Ich zog mir meinen Mantel an – nach zweieinhalb Stunden Gesangsunterricht war auch für mich die Schule aus.
„Anouk“, rief sie, als ich schon in der Türe stand. Ich drehte mich um.
„Ja?“
„Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte: ich bin niemand, der gern Lob verteilt.“ Die Spur eines Lächelns lag auf ihrem Gesicht. Ich unterdrückte ein Grinsen.
„Weiß ich doch.“

Ich verließ die Schule und eilte den Weg entlang, leise fluchend meinen Schirm suchend. Es regnete in Strömen.
„Anouk Steger?“
Ich blieb erstaunt stehen und sah auf. Erst konnte ich mit dem Gesicht nichts anfangen; die Jahre hatten es verändert. Aber dann… Ich wich zurück. Ein Zittern durchrann mich, und die Anrufe und das Gefühl, beobachtet zu werden, machten plötzlich Sinn. Er streckte die Hand aus, aber ich schüttelte den Kopf, dann drehte ich mich um und rannte los, platschte durch Pfützen und stolperte weiter, bis ich klatschnass zu Hause ankam. Zitternd steckte ich den Schlüssel ins Schloss, flüchtete in die Wohnung, weiter in mein Zimmer. Keuchend ließ ich mich auf den Boden fallen, starrte auf die Wasserflecken auf dem Boden. Das kann nicht sein, dachte ich. Wie hat er mich gefunden? Das Radiointerview, dachte ich. Er hat dich gehört.
Er…
Wie lange hatte ich Alpträume von ihm haben müssen – und jetzt war er wieder da.
Mein Vater.

Ich saß auf der Couch, eingewickelt in eine Decke, meine Mitbewohner und ein Kilo benutzter Taschentücher um mich herum.
„Er muss es im Radio gehört haben!“, schluchzte ich. „Er hat meinen Namen gehört. Dieser Idiot. Was macht er überhaupt hier?“
„Na ja“, sagte Jens. „Um in Hannover zu wohnen, braucht man keine Zulassung.“
Melissa stieß ihn unwirsch in die Seite und legte den Arm um mich. „Dass er dich sucht, ist doch ein gutes Zeichen“, sagte sie. „Er will dich sehen.“
„Ja, klar.“ Ich warf das nächste Taschentuch über die Schulter. „Und warum?“
„Vielleicht, weil er sich verändert hat?“, erwiderte sie.
„Hmpf“, machte ich. Als ob jemand wie er sich veränderte! Plötzlich kam mir ein Gedanke. „Bestimmt war es auch… mein Vater, der mich angerufen hat!“, rief ich. „Letztens. – Wie zur Hölle ist er an meine Nummer gekommen?“ Ich war kurz vor der Hysterie. „Er stalkt mich! Wir müssen zur Polizei!“
„Wir sollten nicht mit der Tür ins Haus fallen!“, beschwichtigte Sebastian mich. Er hatte bis jetzt noch nichts gesagt und war knallrot. Ich sah ihn misstrauisch an. „Was?“
Melissa stöhnte. „Raus damit, Sebastian. Hast du wieder versucht, die Welt besser zu machen?“
„Er klang wirklich freundlich!“, wehrte er ab. „Am Telefon.“
Er hat hier angerufen?!“ Ich schrie beinahe.
„Nein, im Radio. Nach der Sendung. Er meinte… Na ja, er meinte, er sei dein Vater, und dass er dich seit Jahren nicht mehr gesehen hat und dich schrecklich vermisst.“
„Dieser ekelhafte Lügner!“ Ich sprang auf.
„Woher weißt du, dass er lügt?“, fragte Melissa ruhig. „Setz dich wieder, Liebes.“ Sie versuchte, mich zu beruhigen, aber ich war beinahe tollwütig.
„Nein, nein.“ Ich kämpfte mich aus der Decke. „Wenn er mich noch mal anruft, rufe ich die Polizei!“ Ich marschierte in mein Zimmer und schlug die Türe zu. Kurz war es ganz still, dann hörte ich Jens und Melissa auf Sebastian einreden. Zeit, zusammenzubrechen.

***
Der nächste Tag begann mit Ballett. Statt mich irgendwo in einer Ecke zu verkriechen, musste ich aufrecht stehen, mir vorstellen, einen Stock verschluckt zu haben und graziöse Bewegungen machen. Ich war dazu echt nicht in Stimmung.
„Mann, du siehst nicht gut aus“, meinte Sarah nach drei katastrophalen Stunden. „Wirst du krank?“
„Nein“, murmelte ich und ging voraus. Zum Glück hatten wir Theaterunterricht. Dort gelang es mit meistens, Dampf abzulassen. Aber es war wie verhext – ausgerechnet heute wollte Parker von uns, dass wir improvisierten, und zwar entweder eine Komödie oder eine Tragödie. Ich war unkonzentriert und leistete keinen konstruktiven Beitrag. Und weil es mich vor Mrs. Paiges Adleraugen graute, meldete ich mich kurzerhand krank.
Ich verbrachte den Tag weitgehend allein zu Hause. Meine Mutter anrufen wollte ich nicht. Daniel auch nicht. Ich wollte eigentlich mit niemandem sprechen. Ich ging früh zu Bett, um weiteren (pädagogischen?) Gesprächen mit Melissa zu entgehen. Am nächsten Morgen fühlte ich mich kein bisschen besser. Aber ich hatte schon jetzt, nach einem halben geschwänzten Tag, ein ziemlich schlechtes Gewissen. Auf dem Schulweg ertappte ich mich dabei, dass ich mehrere Male die Straßen und Busplätze absuchte, mit klopfendem Herzen und schweißnassen Händen. Der Tag zog an mir vorüber, scheinbar ereignislos. Ich versuchte, nicht auf Abstand zu gehen, aber ich bemerkte, dass ich kaum mit jemandem gesprochen hatte. Es graute mir schon vor der Theaterstunde, aber heute hatten die höheren Mächte Erbarmen mit mir. „Personencharakterisierung“, rief Parker und verteilte wahllos Blätter an die Schüler. „Lesen Sie sich den Monolog durch; anbei finden Sie eine kurze Beschreibung zur Situation. Nächte Woche möchte ich den Monolog gespielt sehen, mit Begründung für ihr Rollenverhalten.“
Endlich. Endlich etwas, bei dem ich Ruhe hatte. Ich starrte auf mein Blatt, zwei Stunden lang. Was hatte ich für einen Monolog? Goethe. Stella. Ich las ihn durch, aber ich verstand kein Wort. Ich dachte immer nur an früher, an meinen Vater. Was sollte ich tun? Würde er mir nachstellen? Beobachtete er mich? Warum suchte er den Kontakt zu mir?
„Danke, meine Damen und Herren. Ich entlasse Sie in die Pause.“ Einstimmiges, erleichtertet Seufzen. Geraschel, als die Taschen gepackt wurden. „Anouk, auf ein Wort mit mir, bitte.“
Na prima. Ich schlurfte zu seinem Pult.
„Anouk, mir ist aufgefallen, dass Sie seit gestern ein wenig… neben der Spur sind. Ist etwas passiert?“
„Alles in Ordnung“, sagte ich. Er schob mir einen Stuhl hin und reichte mir ein Taschentuch.
„Schauspielern können Sie gut“, sagte er. „Aber echte Gefühle lassen sich nicht leicht verfälschen.“
Ich wischte mir die Tränen weg und starrte auf meine Hände.
„Liegt es an der Ausbildung?“, fragte er. „Fühlen Sie sich falsch hier?“
„Nein“, sagte ich, „nein.“ Und dann sprudelte es aus mir heraus, zusammenhangslos, aber er schwieg und hörte mir zu, und er schien aus meinem Geplapper tatsächlich schlau zu werden.
„Ich weiß gar nicht, was ich tun soll“, schluchzte ich. „Warum hat er mich gesucht?“
„Die Frage, die ich mir stelle“, sagte er nach einer Weile, „ist: warum wissen Sie es nicht?“
„Was?“, schniefte ich.
„Anouk, ich will mich nicht einmischen, aber meine Schüler gehen mich etwas an. Wenn ich ein Problem lösen, oder wenigstens dabei helfen kann, dann tue ich das gerne. Dass Ihr Vater Sie sucht, bedeutet das nicht, dass er Sie sehen will? Vielleicht einen Fehler gutmachen? Ein neues Leben beginnen?“
Ich schwieg. Es gongte zur nächsten Stunde. „Und was soll ich jetzt machen?“, fragte ich kläglich.
„Das“, erwiderte er, „ist Ihre Entscheidung. Aber dass Sie sich unsicher sind, zeigt, dass Sie ihn nicht sosehr hassen, wie Sie sich glauben machen wollen.“

Ich saß in meinem Zimmer und arbeitete an dem Monolog. Inzwischen verstand ich, worum es ging. Ich hatte wieder einen klaren Kopf. Ich arbeitete so konzentriert, dass ich mein Handysummen erst richtig wahrnahm, als es schon eine Weile klingelte. Hektisch kramte ich in meiner Tasche und ging ran, ohne nachzusehen, wer es war.
„Ja?“, sagte ich und räumte das Chaos beiseite, das die kurze Suche veranstaltet hatte.
„Anouk?“
Ich erstarrte. In einer Sekunde rasten tausend Gedanken durch meinen Kopf. Sollte ich auflegen? Warum fragte ich mich das? Was wollte er? Hatten Parker und Melissa Recht? Sollte ich mit ihm sprechen? Würde Mama mich nicht dafür hassen?
„Anouk?“, fragte er wieder. Ich schluckte.
„Ja“, sagte ich schließlich tonlos. Ich konnte mich nicht entscheiden, wie ich mit ihm sprechen sollte.
„Hier ist… hier ist dein… Ich bin’s, Jochen“, sagte er schließlich. Ich schwieg.
„Bist du noch dran?“, fragte er.
„Ja“, sagte ich schroff. „Was willst du?“
Rauschen, Schweigen. „Ich… Es tut mir leid, dass ich letztens so… unerwartet aufgetaucht bin.“ Er sprach langsam und überlegt, stockend. – Unsicher. „Ich habe deinen Namen gehört, und dass du in Hannover bist, und da… Ich möchte dich so gerne wiedersehen, Anouk.“
„Wozu?“, fragte ich. „Willst du mir eine runterhauen wie Mama damals? Vergiss es, Blau ist nicht meine Farbe. Ich trage lieber Rot. – Oh, warte Mal. Hatte sie nicht mal eine Platzwunde? Hätte ich besser Gelb gesagt!“ Meine Stimme war ätzendster Sarkasmus. Er sagte nichts. Hatte ich ihn verletzt? Sehr gut.
„Bist du noch dran?“, äffte ich ihn nach. „Wenn ja, auf Nimmerwiedersehen. Ich lege jetzt auf.“
„Bitte Anouk!“, rief er. „Ich muss dich sehen, bitte. Ich kann nicht hier wohnen, in deiner Nähe, ohne dich zu sehen.“ Er sprach hastig. „Es ist viel passiert. Bitte. Nur ein Treffen. Ein Gespräch, ich erkläre dir alles. Bitte.“
Ich antwortete nicht. Erwartete er ernsthaft, dass ich zusagte? Jetzt?
„Am Rathaus… gibt es ein Café. Roma heißt es. Wenn… wenn ich Samstag gegen vier Uhr da bin, kommst du?“
„Mal sehen“, sagte ich.
„Bitte, Anouk. Bitte komm vorbei.“
„Mal sehen“, wiederholte ich und legte auf.

PS: Was haltet ihr eigentlich davon, echte Darsteller mitspielen zu lassen? Ich hätte da eine Idee, aber bin mir unsicher...
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

Benutzeravatar
Eponine Thénardier
Musical-Besucher
Musical-Besucher
Beiträge: 371
Registriert: 03.04.2012, 22:00:17

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Eponine Thénardier » 15.05.2014, 18:37:37

Oha, ganz schön heftig, dass mit ihrem Vater. Ich bin mal gespannt, ob sie hingehen wird...

Mmh, reale Darsteller? Das sehe ich eher skeptisch, muss ich ganz ehrlich sagen - ich finde es besser, wenn entweder alle Figuren fiktiv oder alle Figuren real sind ;) Vor allen Dingen, wenn die realen Personen, die verwendet werden, noch leben, fände ich das schwierig.
"IF LIFE WERE MORE LIKE THEATRE, LIFE WOULDN'T SUCK SO MUCH!" (Opening der Tony Awards 2012)

Benutzeravatar
Gaefa
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 2203
Registriert: 20.03.2007, 18:32:59
Wohnort: Göttingen

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 15.05.2014, 20:02:59

Oh vielen Dank für die neuen Teile! Toll und ergreifend geschrieben, man fühlt und leidet sehr mit Anouk mit. Ich hoffe, dass sie ihm eine Chance gibt und wenigstens zu diesem Treffen geht!

Echte Darsteller? Ich wäre dagegen. Ich mag es nicht, wenn man über echte Leuten irgendwelche erfundenen Geschichten schreibt. So in der Fiktion gefällt mir das alles viel besser. Man ist auch deutlich freier und kann den Leuten alles andichten, was man mag, das stört niemanden.
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~

Benutzeravatar
Ophelia
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 1434
Registriert: 10.04.2013, 16:02:28

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 16.05.2014, 14:57:33

Hab das mit den realen Darstellern noch mal überdacht, ist tatsächlich schwierig. Ich würde auch nicht wollen, dass ich plötzlich in einer Geschichte auftauche... Werde mich also eher an die fiktiven Leute halten. Danke für die Rückmeldung :)
Hier der nächste Teil.

Ich erzählte Sarah, meinen Mitbewohnern und Parker von dem Telefonat. Alle rieten mir zu etwas anderem. Sarah meinte, ich solle ihn sehen. Melissa schlug vor, dass sie mitkommen könnte. Jens riet mir davon ab – zu gefährlich. Sebastian entschuldigte sich tausend Mal und enthielt sich. Parker sagte in alter Pädagogenmanier, es sei meine Entscheidung, aber eine große Chance.
Noch in der Nacht von Freitag auf Samstag war ich unentschlossen. Ich hörte vier Stunden lang Musik, weinte, dachte nach, schrieb Pro- und Contralisten, verzweifelte an mir und der Welt und schaute Fotos von früher an. Ich hatte immer ein Bild von meinem Vater bei mir. Es war nicht ungewöhnlich, keinen Vater zu haben. Aber traurig.
Ich schlief erst ein, als es bereits dämmerte, und wachte auf, als es halb zwölf schlug. Völlig k.o. ging ich ins Bad und machte mich in Zeitlupe fertig. Halb eins. Ich frühstückte ausgedehnt und langsam, ein Uhr. Ich brachte mein Zimmer in Ordnung, putzte die Fenster, saugte, bezog das Bett neu, räumte ein wenig um. Fast halb drei. Mir war schlecht und ich fühlte mich elend, trotzdem schlug mir das Herz bis zum Hals. Ich rief Sarah an.
„Ich bin’s“, sagte ich. „Hast du heute schon etwas vor?“

„Okay, ich warte hier.“ Sarah kicherte nervös. „Mann, das ist wie in einem schlechten Krimi. – Nicht, dass dein Leben ein schlechter Krimi ist!“, fügte sie schnell hinzu.
„Schon klar.“ Ich atmete noch einmal tief durch. „Bis nachher.“
„Ich habe den Daumen auf der Notrufnummer!“, rief sie mir nach und hielt das Handy in die Höhe. Der Rathausplatz lag in gelbes Sonnenlicht gehüllt vor mir. Kinder liefen um einen großen Brunnen, alte Leute tummelten sich um einen Stand mit frischem Gemüse. Das Café, von dem er gesprochen hatte, lag zu meiner Linken. Ich ging darauf zu. Um diese Jahreszeit war es schlecht besucht; die Eissorten strahlten bunt und unberührt aus ihren Kühlboxen. Ich sah mich um, aber er war nicht da. Zögernd betrat ich das Eiscafé. Der Kellner grüßte mich gelangweilt. Ich ging langsam weiter, sah mich um. Ein Ehepaar teilte sich einen gewaltigen Eisbecher mit Früchten, und im hinteren Bereich kehrte ein Mann mir den Rücken zu. Ich erkannte sein braunes Haar wieder; es begann, grau zu werden. Ich blieb stehen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Kellner. Er drehte sich um. Vielen Dank, dachte ich.
„Nein“, erwiderte ich und ließ ihn stehen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mein Vater war aufgestanden und sah mir entgegen, und während ich auf ihn zuging, dachte ich an früher.
„Hallo“, sagte er. Ich zog meine Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne.
„Ich… bin froh, dass du gekommen bist.“
Ich setzte mich schweigend, und er tat er mir nach.
Ich saß stocksteif auf meinem Platz. Als der Kellner kam, bestellte ich mir nur ein Glas Wasser; ein ausdrückliches Zeichen dafür, dass ich nicht vorhatte, mich lange mit ihm hier aufzuhalten. Eine Weile schwiegen wir uns an. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass ich hier war, mit meinem Vater. Der meine Mutter geschlagen hatte.
Irgendwann wurde es mir zu viel.
„Also? Warum bin ich hier?“, fragte ich kalt. Er sah mich nur an und suchte vergebens nach den richtigen Worten.
„Gut, dann kann ich ja gehen.“ Ich machte Anstalten, aufzustehen.
„Anouk, warte!“, sagte er. Seine Hand griff nach meinem Arm, aber er ließ sie wieder sinken. „Bitte. Ich… erzähle dir alles. Alles was du hören willst.“
„Will ich was hören?“, grummelte ich, setzte mich aber wieder. „Und?“ Ich sah ihn finster an. „Warum willst du mich auf einmal sehen?“
„Ich bin dein Vater“, antwortete er nüchtern. Ich schnaubte. „Früher war dir das ziemlich egal“, sagte ich eisig. „Weißt du noch? Du hast getrunken und geschrien… Und geschlagen… Wenigstens bist du uns nicht hinterher gereist.“
„Das wollte ich erst“, erwiderte er. „Aber…“ Er starrte auf seine Finger. Es erschreckte mich, wie unsicher er war. Als hätten wir die Rollen getauscht – er saß vor mir, ein Häufchen Elend, und ich herrschte ihn an und stellte fordernd irgendwelche Fragen. Ich fragte mich, ob sein Verhalten auf mich abgefärbt hatte, unbewusst. Plötzlich ging ein Ruck durch ihn. Er sah mich an, entschlossen. „Ich saß im Gefängnis. Zwei Jahre lang.“
Ich starrte ihn an, unfähig, irgendetwas zu sagen.
„Ich habe viel getrunken, als ihr fort wart. Ich meine, noch mehr. Ein paar Monate war ich in einer Klinik, dann wurde ich trocken, hatte wieder einen Rückfall… Ich habe so ziemlich alles verloren, wurde vor die Tür gesetzt. Habe mich irgendwie durchgekämpft, und dann… bin ich erwischt worden. Beim… Stehlen. Mir konnten weitere Taten nachgewiesen werden, irgendwie kam auch das mit deiner Mutter raus… Und das war’s.“
Das war’s. Im Gefängnis. Mein Vater war nicht nur ein Schläger, er war auch Alkoholiker, Obdachloser, Gefangener. Ein Krimineller durch und durch. Ich betrachtete ihn. Er war älter geworden, äußerlich. Anders. Er sah nicht mehr aus, als hätte er noch die Kraft, irgendetwas anzustellen.
„Ich habe ganz neu angefangen“, fuhr er fort. „Hier. Ich habe einen Job, als Handwerker. Ich habe schon länger darüber nachgedacht, euch wiederzusehen, und plötzlich… höre ich deinen Namen im Radio. Dass du auf dieser Schule bist… Und ich war so furchtbar stolz auf dich. Plötzlich habe ich gemerkt, was ich alles versaut habe, dass ich ein… ein riesengroßes *** war, verdammt noch mal.“ Er stützte das Gesicht in die Hände. Ich merkte, dass ich Tränen in den Augen hatte.
„Das wird mir grad alles zu viel“, murmelte ich. Er sah nicht auf, als ich Kleingeld auf den Tisch warf und nach draußen stürmte, die Jacke in der Hand. Beinahe hätte ich Sarah vergessen. Sie holte mich hastig ein.
„Was ist? Müssen wir die Polizei rufen?“, fragte sie.
„Nein“, sagte ich. „Schon okay. Ich will… Ich konnte da grade nicht mehr bleiben.“
Sie hakte sich bei mir ein. „Wie wär’s, wenn wir zu mir fahren, so tun, als ob meine selbstgekochte Lasagne schmeckt und du mir alles erzählst?“
Ich musste ein bisschen lächeln. „Ja“, sagte ich, „klingt gut.“
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

Benutzeravatar
Gaefa
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 2203
Registriert: 20.03.2007, 18:32:59
Wohnort: Göttingen

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 20.05.2014, 22:56:37

Schön, dass es weitergeht. Ich hoffe, Anouk kann wieder einen Schritt auf ihren Vater zugehen, er scheint sich immerhin wirklich geändert zu haben.
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~

Benutzeravatar
Ophelia
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 1434
Registriert: 10.04.2013, 16:02:28

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 22.05.2014, 19:11:42

Weiter geht's.

Der nächste Montag begann mit einer Überraschung, die weder positiv noch negativ war. Die Sekretärin passte mich ab, als ich die Schule betrat, und drückte mir einen Briefumschlag in die Hand. Er sei für mich abgegeben worden. Stirnrunzelnd öffnete ich ihn und wusste eigentlich schon, von wem er war. Ich kann verstehen, wenn du mich nicht sehen willst. Aber wenn du deine Meinung änderst, hier ist meine Adresse. Sogar ein Brief würde mir reichen. J. Darunter stand seine Adresse, gar nicht mal so weit entfernt von mir. Ich steckte den Brief ein und ging zu den Sporthallen.
„Kann es sein, dass du in letzter Zeit schlecht drauf bist?“, fragte Liam hinter mir. Ich versuchte gerade, ein Spagat hinzubekommen, aber vermutlich würden meine Muskeln reißen, ehe ich am Boden war.
„Kann es sein, dass dich das nichts angeht?“, erwiderte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Unsere Tanzlehrerin, Annika Jahnsen, war krank. An anderen Schulen hätte das bedeutet, sich eine Freistunde zu gönnen. Hier trainierten wir weiter.
„Aber kann es nicht auch sein, dass wir quasi Freunde sind?“
Hier riss mein Geduldsfaden. „Kann es sein, dass du nervst?“, fuhr ich ihn an. Er sah auf mich hinab und grinste. „Vielleicht solltest du versuchen, das Knie nicht so krumm zu machen.“ Er beugte sich herunter und machte sich an meinen Beinen zu schaffen, und ich kippte fast um.
„Hör mal“, sagte ich ungeduldig, „wieso übst du nicht einfach mit Isabelle diese Hebefigur, mit der sie sich so aufspielt? Ich bin sicher, sie kann das besser als ich.“
Er hob eine Braue. „Eifersüchtig?“
Ich beschloss, ihn zu ignorieren. „Also, falls du Lust hast“, sagte er betont gleichgültig, „Mrs. Paige möchte, dass ich ein Duett mit jemandem singe… Aber wenn ich dich nerve, suche ich mir lieber jemand anderes.“ Er schlenderte zurück zu seinen Freunden. Ich ließ mich auf den Hintern plumpsen. „Dieser Idiot“, grummelte ich.
„Mensch, der steht aber ganz schön auf dich, oder?“ Jamie ließ sich neben mich fallen und legte sich mal so eben sein Bein über den Kopf.
„Mir egal, du Angeber.“ Ich sah finster auf Liams Rücken.
„Ziemlich gemein von ihm, das mit dem Duett“, fuhr er unbeirrt fort. „Könnte mir vorstellen, dass ihr gut zusammen klingt.“
„Ja, ich auch“, gab ich resigniert zu. „Aber jetzt sieht es aus, als ob ich ihm nachlaufe.“
„Tja, ich würde sagen: spring über deinen Schatten. Bevor er jemand anderen fragt, möglicherweise noch Isabelle.“ Er schüttelte sich. „Es reicht mir, wenn sie diese bescheuerte Hebefigur mit ihm machen muss.“
Ich dehnte mich weiter und dachte nach. „Wenn ich wüsste, was für ein Lied wir singen“, murmelte ich und schielte zu Liam. Natürlich beachtete er mich absichtlich nicht.
„Ich glaube, er sagte etwas von Hilfe in der Nacht oder so.“
Ich starrte ihn verständnislos an. „Was?“
„Aus diesem Musical, mit der Hauptperson ohne Namen.“
Rebecca?
„Ja, genau.“
„Du meinst: Hilf mir durch die Nacht?“
„Ja, das muss es sein.“ Er nickte. „Jetzt guck nicht so. Du weißt doch, Texte sind nicht meine Stärke.“
„Schon klar“, sagte ich abwesend. Und ärgerte mich über mich selber. So ein schöner Song…
Ich sah auf. „He, Liam“, rief ich möglichst gelangweilt. Er drehte sich um, siegessicher.
„Jaa?“, fragte er gedehnt.
„Also, dieses Duett… Vielleicht sollte ich tatsächlich mitmachen.“
Er grinste. „Klar“, meinte er. „Ich werd’ Mrs. Paige Bescheid sagen.“
„Okay.“ Ich war seltsam erleichtert, dass er noch niemand anderen gefragt hatte. Als ich aufstand, um etwas zu Trinken zu holen, begegnete ich Isabelles Blick. Ich glaube, in ihren Augen so was wie Mordlust gesehen zu haben.

Natürlich konnte ich meinen Gesangsunterricht nicht mit dem von Liam zusammenlegen, sodass ich noch zusätzliche Stunden in der Schule verbringen musste. Ich versuchte, mich nicht zu ärgern, während ich vor dem noch abgeschlossenen Proberaum wartete. Den Text kannte ich schon – jetzt musste ich mir nur noch die Noten einprägen. Ich war ein wenig nervös; ich wollte auf keinen Fall vor Liam versagen. Nicht vor Liam, dem musikalischen Alleskönner. Wenn er meine Notenschwäche bemerkte… Oh-oh!
Ich sah auf, als ich Stimmen hörte. Mrs. Paige und Liam kamen den Gang herunter und unterhielten sich auf Englisch. Angeber! Ich stand auf.
„Ah, hallo, Anouk. Schön, dass Sie pünktlich sind.” Sie sagte Hello statt Hallo, und auch sonst schien ihr Akzent stärker als sonst.
„Ja, schön, dass du da bist“, meinte Liam ein wenig ironisch, während Mrs. Paige die Türe aufschloss. Wir folgten ihr in den Raum und richteten uns schnell ein.
„Also, Anouk, wie sieht es aus?“, fragte sie. „Irgendwelche Probleme mit den Noten?“
Diese Verräterin! „Nein“, sagte ich und ließ es ein wenig so klingen, als sei das völlig abwegig. „Alles klar.“
„Sehr schön. Gehen wir es einmal trocken durch, um zu sehen, wo Verbesserungsbedarf ist.“
Natürlich gab es den meisten Verbesserungsbedarf bei mir. „Anouk, sehen Sie genau hin, da ist ein Pausenzeichen!“ – „Anouk, sind Sie sicher, dass der Ton richtig war?“ – „Liam, nein, das war zu schnell.“ – „Anouk, warten Sie, verschlucken Sie die Wörter nicht!“ – „Stopp, stopp, stopp! Anouk, woher kommt Ihr Atem?“
Irgendwann sangen wir das Lied einmal durch, ohne unterbrochen zu werden. Inzwischen wagte ich es gar nicht mehr, Liam anzusehen. Er war bestimmt schrecklich genervt von mir.
„So, wie lange noch? – Oh, die letzten zehn Minuten. Einmal mit Klavierbegleitung?“ Mrs. Paige begann, auf die Tasten zu drücken. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor sechs…
„Anouk, Ihr Einsatz!“, rief Mrs. Paige.
„Oh nein, Entschuldigung, tut mir leid.“ Ich biss die Zähne zusammen. Mist, Mist, Mist! Ich sang das Lied durch, und an Mrs. Paiges Gesicht konnte ich deutlich sehen, dass Liam wesentlich mehr Töne traf als ich. Dementsprechend gereizt war ich am Ende der Stunde. Zu allem Überfluss machte sich Mrs. Paige auch noch an meinen Notenblättern zu schaffen und zeichnete mir irgendetwas ein. Liam verließ leise den Raum.
„Setzen Sie sich nicht so unter Druck“, sagte sie leise, während ihr Stift über das Papier huschte. „Und versuchen Sie nicht, etwas zu erzwingen.“
Ich blieb stumm und sah ihr zu. Die Stunde war mir furchtbar peinlich. Mrs. Paige sah auf und ich packte meine Sachen zusammen.
„Üben Sie einfach zu Hause“, sagte sie, „und strengen Sie sich in unseren Stunden an. Und haben Sie etwas mehr Vertrauen in Ihre Stimme!“
„Ja, Mrs. Paige“, sagte ich völlig erschlagen. Ich wollte einfach nur noch nach Hause.
Als ich die Schule verließ, passte Liam mich ab.
„War doch gar nicht schlecht heute“, meinte er.
„Ich lach später“, erwiderte ich. Er ließ nicht locker.
„Ach, komm schon. Du weißt doch, wie Mrs. Paige ist. Überperfekt.“
„Ja, so wie du!“, rief ich. „Also, ich meinte, stimmlich gesehen.“ Ich zog mein Portemonnaie aus der Tasche und spielte damit herum, während ich auf den Bus wartete. Liam sagte nichts mehr, bis ich mein Ticket aus dem Portemonnaie zog.
„Wer ist das?“, fragte er und zeigte auf die Fotos, die ich immer dabei hatte.
„Meine Mutter“, sagte ich, „und mein Freund.“ Warum auch immer, zog ich sein Foto heraus und hielt es ihm vors Gesicht. „Er will auch auf unsere Schule. Er bewirbt sich im Winter, wir haben uns kennengelernt, als wir in Wicked auf der Bühne standen.“
„Tatsächlich?“
„Ja. Er war Fiyero und ich Elphaba, das passte irgendwie, oder?“
„Stimmt.“ Er gab mir das Bild zurück. „Er passt zu dir.“
„Ja.“ Ich schob das Foto zurück. „Oh, da kommt mein Bus. Danke, dass du mit mir gewartet hast.“
„Keine große Sache.“ Er hob die Hand zum Abschied. „Bis dann.“
Ich fuhr nach Hause und fragte mich, was sie komische Sache mit dem Foto sollte.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

Benutzeravatar
Gaefa
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 2203
Registriert: 20.03.2007, 18:32:59
Wohnort: Göttingen

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 22.05.2014, 21:50:51

Der Teil hat mir sehr gut gefallen. Ich hatte anfangs etwas Angst, dass Liam doch noch größeren Eindruck auf sie macht - das Thema greifst du ja nicht zum ersten Mal auf. Schön am Schluss die Szene mit dem Foto. Sie sagt hier deutlich: Ich bin vergeben, gib dir keine Mühe. Hast du sehr realistisch geschrieben, gefällt mir gut. Allerdings bin ich gespannt, ob Liam das so mit sich machen lässt ;) Lass mich nicht zu lange warten.
Schade übrigens, das sonst keiner mitzulesen scheint....
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~

Benutzeravatar
Ophelia
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 1434
Registriert: 10.04.2013, 16:02:28

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 23.05.2014, 16:08:53

Ich weiß nicht, ob sonst niemand mitliest... Zumindest werden keine weiteren Kommentare geschrieben. Aber danke dir, dass du durchhältst :handgestures-thumbupright:

Lieber Jochen/ Papa /Jochen (Anm. Text soll bis auf den letzten Satz durchgestrichen sein ;))
Ich möchte nichts mit dir zu tun Ich weiß nicht, was ich dir schreiben soll, denn
Als du mir erzählt hast, was du die ganzen Jahre über gemacht hast, da
Ich glaube nicht, dass Mama begeistert wäre, wenn sie wüsste
Diese Ausbildung ist sehr wichtig für mich. Ich möchte nicht durch Familienprobleme abgelenkt
Am 10. November haben wir Tag der offenen Tür. Bin für Ballett eingeteilt; komm vorbei, wenn du Lust hast. Anouk.


„Hey, Michael, das sieht wirklich seeehr sexy aus.“ Jamie lachte sich halb tot, als Michael in engen Ballettstrumpfhosen den Ballettraum betrat. Der sah ihn finster an.
„Hallo? Schau dich an!“
„Schon in Ordnung.“ Er legte einen Arm um mich, den anderen um Sarah. „Kann ja nicht jeder so gut aussehen wie unsere Mädels.“
„Ja, danke für die Blumen“, sagte Sarah und kam zu mir. „Hey, hast du nicht gesagt, dein Vater…“ Sie ließ den Satz unbeendet, aber man konnte förmlich sehen, wie Michael und Jamie die Ohren spitzten.
„Ja, ich hab ihm geschrieben“, murmelte ich.
„Ich dachte, du hast keinen Vater?“, fragte Michael verdattert.
„Klar hat sie einen, du Schlaumeier. Er war nur nie da.“
„Und jetzt trefft ihr euch? Wie spannend!“ Michael sah sich nach dem großen Fenster um, von dem man in den Flur sehen konnte. Bereits jetzt tummelten sich einige Besucher davor.
„Wer ist es? Der Glatzkopf da?“
„Nein“, erwiderte ich schroff und hievte mein Bein auf die Ballettstange. Seit ich hier war, hatte ich ziemliche Fortschritte gemacht – vorher war ich ein leidlicher Sportlegastheniker gewesen. Aber jetzt… Jazzdance und sogar Ballett waren wie eine Sucht: wenn ich nicht jeden Abend Yoga oder ein paar Schritte machte, bevor ich ins Bett ging, war ich nicht ruhig zu stellen. Ich hatte meinen ganzen Körper neu entdeckt, seit ich die Ausbildung angetreten hatte.
Hinter mir konnte ich Sarah mit den beiden Jungs tuscheln hören – entweder erzählte sie ihnen gerade alles oder sie wimmelte sie ab. Ich war mir nicht sicher, was mir lieber war.
Die Stunde begann. Natürlich machten wir keine langweiligen Schritt- und Dehnübungen wie sonst, sondern höchst seltene Tänze. Liam und Isabelle wurden gebeten, ihre Hebefigur vorzuführen („Einfach perfekt, sehr gut gemacht, seht alle genau hin. Seht ihr, wie er sie hält, und was für eine Spannung sie hat?“ – Ja, Isabelle war eine Göttin!), Isabelle spielte sich auf wie eine Schneekönigin.
„Und jetzt: sucht euch einen Partner. Liam und Isabelle, ihr geht mit mir rum.“
„Wie wär’s mit uns?“, fragte Jamie.
„Gerne“, sagte ich erleichtert. „Dann machen wir wenigstens eine halbwegs gute Figur.“
Wir begannen zu üben, und ich gab mir solche Mühe, mich nicht schon wieder zu blamieren, dass ich unsere Zuschauer immer mehr vergaß. Erst, als wir die Stunde – früher als sonst – beendeten, sah ich nach draußen. Menschen über Menschen. Jemand hielt gerade einen lauten Vortrag über die Räumlichkeiten im Sportbereich. Ich streifte meine Ballettschuhe ab und schleppte meine Sachen in die Umkleide.
„Was hast du jetzt?“, fragte Sarah. „Ich bin eingeteilt für Improvisationstheater.“ Sie verzog den Mund. „Die Besucher dürfen sich wünschen, was wir spielen. Ich hoffe, sie wissen unsere Arbeit zu schätzen!“
„Mir geht’s nicht besser“, entgegnete ich seufzend. „Mrs. Paige hat mich fast schon gezwungen, mit ihr und Liam das Duett zu üben.“ Üben war nicht der richtige Ausdruck – am Tag der offenen Tür war meistens alles mehr Show als Realität. Obwohl ich mir bei Mrs. Paige noch nicht ganz sicher war.
Ich verließ die Umkleide und stopfte meine Sachen in den Spind, zog nur meine Notenhefte heraus. Sofort belagerte mich eine Gruppe Mädchen mit irgendwelchen Zetteln.
„Entschuldigung, wo sind denn die Gesangsräume?“, fragte eine von ihnen. Ich dachte daran, wie aufgeregt ich vor einem Jahr gewesen wäre, wenn ich in dieser Schule hätte sein dürfen.
„Da muss ich grade hin“, antwortete ich. „Wenn ihr wollt, könnt ihr mitkommen.“ Ich sah über ihre Köpfe hinweg. Mein Vater stand an die Wand gelehnt und beobachtete mich. Ich zögerte kurz, dann nickte ich mit dem Kopf, um ihm zu bedeuten, dass er ebenfalls mitkommen könnte.
Ich sah mich nicht nach ihm um, einerseits weil die Mädchen mich mit ihren Fragen belagerten, andererseits, weil es mich nervös gemacht hätte. Liam war schon da, als ich den Probenraum betrat. Hier war deutlich mehr los als in den anderen Räumen.
„Lassen Sie sich gar nicht beirren“, sagte Mrs. Paige. „Liam, Sie konzentrieren sich ausschließlich auf dieses Lied, Anouk, Sie ebenfalls: als Sie das letzte Mal gesungen haben, war ich sehr zufrieden. Nur weiter so.“
Während wir uns vorbereiteten, erklärte Mrs. Paige unseren Besuchern kurz, worum es ging, dann übten wir weiter.
Ich verbrachte den ganzen Tag im Musikraum; manchmal saß ich nur rum oder spielte ein paar Töne am Klavier, manchmal sang ich mit jemandem oder beantwortete Fragen (von denen es viele gab!). Als sich die Besucher langsam verzogen und es erleichternd ruhig wurde, half ich noch, den Raum aufzuräumen.
„Der Kerl da steht die ganze Zeit schon rum und beobachtet uns“, murmelte Liam mir zu, während wir Stühle aufeinander stapelten. „Wer ist das?“
„Mein Vater“, antwortete ich, ohne mich umzusehen.
„Oh. Willst du nicht zu ihm?“
„Nein, Liam, ich will nicht zu ihm. Und nicht über ihn reden. Okay?“ Ich sprach mit zusammengebissenen Zähnen. Offenbar verstand Liam, dass ich nicht gut auf meinen Vater zu sprechen war. Aber er sah die ganze Zeit neugierig zu ihm rüber. Ich seufzte.
„Ich erklär’s dir später, ja?“, sagte ich.
„Wann?“ Er schien wirklich neugierig.
„Ich ruf dich heute Abend an“, beschloss ich. Dann gab es nichts mehr zu tun. „Ich denke, ich gehe jetzt“, sagte ich. Langsam packte ich meine Sachen zusammen. Dann verließ ich den Raum. Mein Vater wartete auf mich.
„Hallo“, sagte ich und ging weiter.
„Du hast toll gesungen“, sagte er und holte mich ein. „Und getanzt.“ Er schwieg kurz. „Darf ich dich etwas fragen?“
„Hm.“ Ich nickte kurz mit dem Kopf.
„Wer von beiden ist dein Freund? Ich dachte erst, der dunkle, aber dann…“ Er brach ab, als ich ihn irritiert ansah. „Jamie?“, brachte ich dann heraus. „Mein Freund?“
„Na ja, ich dachte… Also der blonde, ja?“
„Nein!“ Abermals blieb ich stehen. „Mein Freund wohnt… nicht hier.“ Beinahe hätte ich meine Heimatstadt verraten. Das wollte ich auf keinen Fall.
„Ach so. Es schien jedenfalls so, als ob einer von den beiden… egal.“
Wir schwiegen wieder, und den ganzen Weg dachte ich darüber nach, warum er meinte, ich sei mit Jamie zusammen. Ausgerechnet Jamie! Wenn ich ihm mehr vertraut hätte, hätte ich ihn gefragt.
Vor der Schule trennten wir uns. „Ich gehe jetzt“, sagte ich.
„Ja. Danke, dass du mir geschrieben hast. Es war… schön, zu sehen, was du machst.“
Ich nickte kurz.
„Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder?“
„Vielleicht“, sagte ich. „Tschüss.“
„Tschüss, Anouk.“
Ich kehrte ihm den Rücken zu und ging.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

Benutzeravatar
Gaefa
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 2203
Registriert: 20.03.2007, 18:32:59
Wohnort: Göttingen

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 23.05.2014, 16:40:24

Wieder ein sehr toller Teil!
Ich freue mich, dass sie ihren Vater eingeladen hat, immerhin ein erster Schritt. Aber der fällt ja direkt mit der Tür ins Haus - Thema Freund ist doch immer heikel. Aber die Thematik lässt dich ja scheinbar nicht los, aber schon irgendwie interessant. Warum ist Daniel nicht zum Tag der offenen Tür gekommen, um a) seine Freundin in Aktion zu sehen und b) sich die Schule genauer anzugucken? Ehrlich gesagt, erscheint er mir auch ein bisschen zu wenig auf der Bildfläche - ob die beiden eine gemeinsame Zukunft haben?
Ich bin gespannt, wie es weitergeht!
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~

Benutzeravatar
Ophelia
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 1434
Registriert: 10.04.2013, 16:02:28

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 26.05.2014, 15:57:35

Gaefa hat geschrieben:Warum ist Daniel nicht zum Tag der offenen Tür gekommen, um a) seine Freundin in Aktion zu sehen und b) sich die Schule genauer anzugucken? Ehrlich gesagt, erscheint er mir auch ein bisschen zu wenig auf der Bildfläche - ob die beiden eine gemeinsame Zukunft haben?
Ich bin gespannt, wie es weitergeht!
Mit den beiden geht es in diesem Teil weiter, und das mit der Zukunft... Wird sich zeigen ;)

„Und das hier?“
Ich verdrehte die Augen. „Das ist ein Pausenzeichen, Jamie. Bitte hör auf, so zu tun, als ob ich nichts könnte!“
„Das wollte ich nicht, wirklich! Aber“, er begann zu grinsen, „man muss ja sicher gehen. Nachhaltiges Lernen und so.“
„Idiot.“ Ich schlug das Heft zu. „Ich finde, wir sollten Schluss machen.“ Wir waren seit fast drei Stunden in den Lernräumen der Bücherei; Jamie hatte sich angeboten, mir ein wenig Nachhilfe in Notenlehre zu geben. Er war ein guter Lehrer, aber inzwischen schwirrte mir der Kopf.
„Könntest du mir vielleicht noch kurz helfen? Mit dem Monolog?“ Er sah mich leicht verzweifelt an. Parker hatte seine Monologs-Wut immer noch nicht überwunden und uns neue aufgedrückt. „Und dann… wollte ich dir noch was sagen…“
„Klar“, sagte ich. „Warte, mein Handy. – Lies dich schon mal ein!“ Ich ging ran.
„Ja?“
„Hallo, Anouk, hier ist Daniel“, kam es vorwurfsvoll aus dem Hörer.
„Oh, hi!“ Ich verzog ertappt das Gesicht. Wie lange hatte ich ihn schon nicht angerufen? Zu lange! Jamie sah mich fragend an, aber ich winkte ab.
„Wie geht es dir?“, fragte er. „Ich hab schon ein paar Mal bei dir angerufen, aber es ging immer nur ein… na ja, ein Typ dran, der sagte: Ja, Schätzchen, ich sag der Maus Bescheid.“
Ich musste lachen. „Ja, das muss Sebastian gewesen sein. Er hat mir allerdings nichts gesagt…“
„Schade.“ Er schwieg. Ich auch. „Und?“, fragte er. Ich runzelte die Stirn.
„Und was?“
„Willst du mich nicht fragen, wie es bei diesem Workshop war?“
Oh-oh! Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. „Daniel, das tut mir so leid! Echt, ich hatte so viel um die Ohren, nicht nur in der Schule! Da ist so eine Sache, na ja, schwer am Telefon zu erklären… Also, wie war es?“
Er antwortete nicht.
„Oh nein! Bist du etwa nicht genommen?“ Schweigen. „Tut mir leid. Vielleicht an unserer Schule!“
„Ich bin genommen“, sagte er schließlich. „In Hamburg!“
„Oh mein Gott!“, rief ich. Die lernbesessenen Schüler sahen mich ärgerlich an. Ich setzte mich wieder. „Daniel, das ist so toll! Ich freu mich für dich, wirklich!“
„Entschuldigung“, meinte jemand hinter mir, „telefonieren ist hier verboten!“
„Anouk? Wo bist du?“
„Ja, ja, Augenblick noch!“, maulte ich über die Schulter.
„Anouk!“, flüsterte Jamie.
„In der Bücherei. Hör mal – das ist doch toll! Warum freust du dich nicht?“
„Anouk!“
Ich machte eine Handbewegung zu Jamie hin.
„Weil… ach, ich dachte… Ich wollte doch zu dir. Auf deine Schule…“
„Das ist so süß von dir, Daniel. Aber Hamburg – hallo? Willst du etwa absagen?“
„Ich weiß nicht…“
„Daniel, ich warne dich!“
„Entschuldigung, hier wollen manche lernen!“, beschwerte sich der nächste.
„Meinst du?“, fragte Daniel zweifelnd.
„Ja, meine ich. – Hör mal, hier meckern alle, ich muss auflegen. In den Winterferien komm ich nach Hause, versprochen, und dann… dann machen wir ganz viel zusammen, okay? Aber im Moment bin ich echt beschäftigt. Oh, ich freu mich so für dich.“
„Ja. Danke.“
„Ich liebe dich. Ich ruf dich wieder an!“
„Ich dich auch.“ Er klang niedergeschlagen. „Bis dann.“
Ich legte auf. „Sorry“, seufzte ich. „Mein Freund ist in Hamburg angenommen!“
Jamie sah von seinem Buch auf, hinter dem er sich versteckt hatte. „Du hast nie erwähnt, dass du einen Freund hast“, sagte er.
„Äh – hätte ich das tun sollen?“
„Nein, natürlich nicht.“ Er räusperte sich. „Also, wollen wir mit dem Monolog anfangen?“
„Ja, klar. Wolltest du mir nicht noch was sagen?“
„Nein“, antwortete er, „hat sich schon erledigt.“

Die Ferien waren seltsam. Ich konnte mich nicht in den, eigentlich gewohnten, Tagesrhythmus einordnen. Ich wachte bereits um sechs Uhr am Morgen auf, ich ging erst spät ins Bett. Ich verbrachte mindestens zwei Stunden am Tag mit Singen und Yoga, meistens gleichzeitig. Als ich am zweiten Weihnachtstag bei Daniel übernachtete, bereitete ich ein komplettes Frühstück für ihn und mich zu und wartete ungeduldig ab, bis er endlich aufwachte. Ich bemerkte, dass ich keine Geduld für ruhige Aktionen hatte, und dass ich meine neue Heimat vermisste.
Einmal besuchte ich Bertelin. Ich passte ihn in der Musikschule an, und er sah mich gleichermaßen gespannt und stolz an. Ich berichtete ihm von der Schule, von meinen Lehrern und den Schülern. Ich trat mit meinen alten Schülern im Weinberg auf.
Die Ferien vergingen, ohne dass etwas aufregendes geschah. Am Tag vor meiner Abreise kam meine Mutter in mein Zimmer und setzte sich auf mein Bett.
„Du hast dich verändert“, sagte sie nach einigem Schweigen.
„Das muss nicht unbedingt schlecht sein“, erwiderte ich, nun auf der Hut. Ich wollte noch nicht über meinen Vater sprechen und vorsichtig sein, was solche Mutter-Tochter-Gespräche anging.
„Das habe ich nicht gesagt.“ Sie machte eine kurze Pause, und ich packte weiter meinen Koffer. „Pass nur auf, dass du deine Freunde nicht vernachlässigt.“ Sie stand auf.
„Was?“ Ich sah auf. Aber sie war schon wieder weg.
Am Tag der Abreise fühlte ich mich aufgeregt und beklommen zugleich. Obwohl ich die Ferien zu Hause kaum hatte genießen können, kam mir die Zeit bis zu den Osterferien plötzlich sehr lang vor. Daniel begleitete uns. Ich legte die Arme um ihn, bevor ich in den Zug stieg. „Tut mir leid, wenn ich nicht richtig da war“, murmelte ich an sein Ohr. „Ich habe nur… Ich muss immer an die Ausbildung denken. Und ich finde es schade, dass du nicht an meiner Schule angenommen bist. Aber die Schule in Hamburg ist so eine riesige Chance… Ich gönne es dir, wirklich!“
Er sah mich an. „Danke“, sagte er schließlich. „Und wer weiß, wie viel Zeit ich demnächst für dich haben werde, also… bin ich dir auch nicht böse.“ Er küsste mich, und ich musste mich beeilen, noch rechtzeitig durch die Zugtüren zu schlüpfen. Der Abschied war schwer, und ich nahm mir vor, mehr an Daniel zu denken, denn er war wirklich der beste Freund, den man sich wünschen konnte.

Sarah, Jamie, Michael und ich trafen uns am ersten Tag im neuen Jahr vor der Schule. Eine neue Anspannung lag in der Luft.
„Kaum zu glauben, dass wir schon ein halbes Jahr hier sind!“ Jamie sah begeistert auf unsere Schule. „Wie schnell die Zeit vergeht! Stellt euch vor, bald gehen unsere kühnsten Träume in Erfüllung!“
„Ja, aber erst Mal müssen wir die nächsten zweieinhalb Jahre hinter uns bringen“, entgegnete Michael. „Und die Entwicklungsgespräche überleben.“
„Oh ja“, murmelte Sarah, und auch mir zog sich der Magen zusammen. Mit jedem Lehrer wurde ein persönliches Gespräch geführt, über unsere Fortschritte und Chancen. Ich wusste nicht, ob es stimmte, aber ich glaubte gehört zu haben, dass die besten Schüler manchmal jetzt schon zu Auditions geschickt wurden…
Wir schlenderten durch die Schule zu den Sporträumen. Als wir zu dem Rest unserer Stufe stießen, sah ich Liam und Isabelle. Sie standen etwas abseits, Händchen haltend, und ich hätte nie gedacht, dass Isabelle so freundlich und… liebenswert aussehen konnte. Aber als sie total verliebt zu Liam aufsah, war alle Überheblichkeit aus ihrem Gesicht verschwunden.
Jemand stieß mir in die Seite. „He, träumst du?“, fragte Sarah und folgte meinem Blick. „Ah. Hab schon davon gehört, dass sie zusammen sein sollen. Hab’s aber nie richtig geglaubt.“ Sarah war bereits am letzten Woche nach Hannover gekommen. „Kaum zu glauben, dass so ein netter… Na ja.“ Sie zuckte die Schultern. Ich wandte mich dem Gespräch meiner Freunde zu, aber ich hätte nicht sagen können, worum es sich drehte. Ich musste an Liam und Isabelle denken und hatte plötzlich schlechte Laune.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

Benutzeravatar
Gaefa
Musical-Fan
Musical-Fan
Beiträge: 2203
Registriert: 20.03.2007, 18:32:59
Wohnort: Göttingen

Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 26.05.2014, 18:20:27

Wieder ein interessanter Teil. Mir schwarnt nichts Gutes für Daniel und Anouk - leider. Aber ihre Leben passen wohl nicht so recht zusammen im Moment. Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~


Zurück zu „Fanfiction / Geschichten / Texte“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 17 Gäste