Mich trägt mein Traum

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armandine
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 10.02.2016, 16:55:30

Ich finde den Teil auch sehr schön geschrieben. Nur das mit den Fans finde ich etwas zu extrem. Erstens war sie ja schon bei den Vampiren, und da ist es auch heftig. Und zweitens kenne ich auch sehr viele Darsteller, die sich geduldig und freundlich Zeit nehmen und sich auch freuen, wenn sie die Menschen erreichen, und die das ganz professionell als Teil des Jobs ansehen. Ich glaube, da muss Anouk auch ein bisschen an sich arbeiten ;-).

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 14.02.2016, 12:37:19

Gaefa hat geschrieben:einzig einmal hast du Sisi mit zwei s geschrieben und für mich gehört das Colosseum nach Essen NICHT nach Düsseldorf ;) Da hättest du einen anderen Namen wählen können).

Ersteres war Absicht, da die kitschige Elisabeth meist mit 2 s geschrieben wird, und das andere ist ein Verschreiber, ich wollte eigentlich das Capitol nehmen. Danke für den Hinweis!
Hier der nächste Teil:

„Also, noch einmal: sei immer höflich und erst freundlich. Wenn es zu aufdringlich wird, sage klar, was dir nicht gefällt, aber immer, immer höflich!“
„Freundlich, höflich, Grenzen setzen“, wiederholte ich müde. „Klar. Habe verstanden.“ Ich saß mit Viktoria, meiner Agentin, in meiner Garderobe. Der erste Fanandrang war inzwischen eine Woche her. Ergo lag eine Woche voller Unsicherheiten und Lernens hinter mir – lernen, wie man mit Fans umging.
„Einige sind sehr enttäuscht, wenn sie kein Foto bekommen. Du bist nicht dazu verpflichtet. Sage ganz klar, dass du es im Moment nicht möchtest. Bitte auch um Ruhe, wenn du vor der Show stehst. Die meisten verstehen das. Musicalfans sind nicht wie irgendwelche kreischenden Boygroup-Teenies.“ Sie hielt kurz inne. „Na ja, Ausnahmen bestätigen die Regel“, fügte sie dann hinzu, als sei ihr eben etwas eingefallen. Dann sah sie mich an und schüttelte den Kopf. „Wirklich, Anouk, es ist doch nicht das erste Mal, dass du auf deine Fans triffst! Du hattest schon vorher eine ganze Menge davon!“
„Schon!“, erwiderte ich und starrte unglücklich auf meinen kalt gewordenen Kaffee. „Aber… es ist jetzt so anders, weißt du?“ Ich sah Viktoria an, und offenbar wusste sie gar nichts. Es fiel mir auch nicht leicht, alles in Worte zu fassen, was ich fühlte, denn es war ein großes Durcheinander. Ich versuchte es dennoch.
„Erstens einmal bin ich noch immer ziemlich… aufgeregt. Wegen Elisabeth. Ich meine – ich hatte schon einige große Rollen, sogar Hauptrollen, aber Elisabeth ist irgendwie… irgendwie so etwas ganz anderes. Das Musical trägt ihren Namen, das hebt sie noch mal so hervor. Und außerdem stehen die meistens immer auf den Mann – Krolock, Maxim, Phantom… Die sind irgendwie immer wichtiger als das Mädchen. Hier ist es nicht so. Hier zähle ich… anders.“
„Aber das ist ja auch richtig so“, entgegnete Viktoria vorsichtig. „Das muss dir doch klar gewesen sein.“
„Es ist ein großer Unterschied, über etwas nachzudenken und es dann zu erleben.“
Sie nickte. „Ich weiß.“
„Und dann…“ Ich gestikulierte hilflos. „Dann werde ich plötzlich von allen gelobt und angehimmelt.“
„Du meinst die Kritiken?“
„Ja.“ Ich schob ihr einen ausgeschnittenen Zeitungsartikel über den Tisch zu – einen von vielen. „Es ist merkwürdig, so gut zu sein, weißt du? Manchmal frage ich mich… na ja… was mögen die anderen denken? Dass ich plötzlich so eine Überfliegerin bin?“
Viktoria sagte darauf nichts, aber ihr Blick munterte mich auf, weiter zu sprechen, und ich sah ihr an, dass sie langsam verstand. Also redete ich schnell weiter. „Ich kann es selbst nicht glauben. Es ist, als wäre ich als Anouk eingeschlafen und als eine neue Anouk wieder aufgewacht. Ich weiß nur nicht, was ich mit mir anfangen soll. Diese ganzen Fans… Sie kannten mich vorher gar nicht, sie kennen mich jetzt nicht. Es bedrückt mich irgendwie, sie zu sehen. Denn wenn… wenn eine andere meine Rolle bekommen hätte, dann würden sie eben sie mögen und um Autogramme bitten. Darüber muss ich immer nachdenken. Dass ihre Zuneigung irgendwie oberflächig ist.“
„Sie ist wohl eher zufällig.“ Viktoria legte den Artikel beiseite und sah mich an. „Anouk, ich verstehe, dass du vor einer großen Aufgabe stehst. Und vielleicht hätten sie jemand anderen ebenso gemocht wie dich, aber du bist Elisabeth, du bist es jetzt. Und du wirst Interviews geben, und deine Fans werden dich besser kennen lernen. Und dann haben sie noch mehr Gründe, dich zu mögen.“
Ich atmete aus und ließ die Schultern hängen. „Es klingt idiotisch“, stimmte ich ihr zu. „Ich kann es auch nicht wirklich beschreiben. Es ist so seltsam. Die ganzen Leute machen mir ein bisschen Angst. Und…“ Ich brach ab und starrte schweigend auf meine Knie.
„Und…?“, fragte Viktoria. Ich wand mich ein wenig. Ich hatte schon viel geredet, und mein nächster Wortschwall würde definitiv als Jammern durchgehen.
„Nun, Elisabeth ist anstrengend.“
„Ach…?“
„Ich meine nicht in körperlicher Hinsicht“, beeilte ich mich zu sagen. „Ich meine… es macht mich so seltsam. Nach der Show bin ich immer sehr… aufgewühlt. Und ich bin allein nachts, und meistens auch tagsüber. Ich bin völlig kaputt, aber ich kann nicht schlafen, weil mir alles so nahe geht. Manchmal muss ich schon hinter der Bühne weinen, vor der Totenklage, und auf er Bühne ist es ganz schlimm. Ich kann nichts daran ändern. Ich denke ständig an Elisabeth, es macht mich ganz verrückt! Ich rede mir immer ein, dass sie im Grunde ein schlechter Mensch war, aber ich bin so durcheinander und traurig.“
Viktoria schwieg, und ich schwieg auch. Es tat gut, sich alles von der Seele zu reden. Die Minuten verstrichen, und ich ärgerte mich, das alles ausgeplaudert zu haben. Sie musste mich für naiv oder zu sensibel halten, eine Eigenschaft, die in diesem Geschäft falsch war. Ich wollte gerade sagen, dass es mir leid täte und dass ich vermutlich nur gestresst war, als sie zu reden begann.
„Was machst du denn so den ganzen Tag?“, fragte sie. Ich zuckte mit den Schultern.
„Nichts, wie gesagt.“
Sie hob eine Braue.
„Das heißt, natürlich gibt es immer irgendwas. Ich gehe einkaufen, oder spaziere durch die Stadt. Manchmal besuche ich meine Mutter. Ich… ja, ich lese. Und singe ein bisschen, oder schlafe…“ Das war’s auch schon. Die Liste war kurz. Und furchtbar langweilig. Ich merkte, dass ich, so schwer es auch im Moment war, lieber Elisabeth auf der Bühne als Anouk im echten Leben war. Es passierte ja so wenig!
„Aha. Da haben wir’s doch schon.“ Viktoria klappte ihren Kalender auf und blätterte ihn durch. „Anouk, ich glaube, du brauchst dringend mehr Abwechslung. Dein Job ist zwar Schauspielerin, aber wer sagt, dass die nur abends arbeiten können oder sollen?“ Sie tippte mit dem Bleistift auf ihr Büchlein. „Hast du nicht mal jemandem Gesangsstunden gegeben?“
„Ja…“
„Hat dir das Spaß gemacht?“
„Ja…“
„Gut. Was hältst du davon, wenn ich dir in der Richtung etwas besorge? Unterricht geben, in Gesang oder Schauspiel?“
Ich zögerte. „Ich weiß nicht…“
„Es muss ja nicht jeden Tag sein. Vielleicht zwei Mal die Woche. Nur, damit du etwas zu tun hast, etwas Ablenkung.“
„Vielleicht wäre es wirklich nicht schlecht“, überlegte ich laut. Sie lächelte aufmunternd.
„Ich werde mich umhören. Ich finde schon etwas, das zu dir passt. Ich habe da auch schon so eine Idee.“ Sie packte ihre Sachen ein. „Ich gehe jetzt, du willst dich bestimmt fertig machen. Bitte versuche, nicht alles zu schwer zu nehmen. Es spricht zwar für dich, dass du so in der Rolle versinken kannst, aber es ist nicht gut, darin gefangen zu sein. Und bitte, Anouk: geh öfter aus dem Haus!“
„Ich gebe mir Mühe“, versicherte ich.
Als sie weg war, steckte ich mir die Haare zurück. Ich musste an den Tag denken, an dem ich mit Liam König der Löwen gesehen hatte, eine schöne Erinnerung. Ich hatte es nicht gesagt, weil ich Viktoria nicht mit meinem Liebeskummer belasten wollte, aber ich vermisste ihn furchtbar. Ich wünschte, wir wären näher beisammen, und ich wünschte, es gäbe irgendetwas, das uns die Verpflichtung gab, einander öfter zu sehen. Man könnte sich ja als Ensemblemitglied in einem Stadttheater bewerben. Aber dann die Verpflichtung, in jedem halbwegs geeigneten Stück mitzuspielen, ob es gefiel oder nicht… keine große Bühne mehr… Nein, das war es nicht, was ich wollte. Und Liam wollte es auch nicht. Liam wollte Erfolg, das wusste ich. Er war zielstrebig. Ich hatte immer nur Spaß gewollt, genug Geld zum Leben und schöne Rollen, ein wenig Aufregung, singen… Er wollte mehr. Er wollte große, wichtige Rollen, Fans, einen Ruf, ein großes Budget. Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte noch etwas Zeit. Ich ließ zu, dass ein paar Tränen fielen, und das tat gut. Es war Sonntag. Zwei Shows lagen vor mir. Und morgen spielfrei. Ich würde meine Mutter besuchen. Ja, das würde ich machen. Wir könnten uns einen schönen Tag machen. Und dann könnte ich mich um meine Off-Shows kümmern. Die Aussicht auf Urlaub war ja immer ein großer Ansporn. Ich wischte mir das Gesicht trocken und atmete ein paar Mal tief durch, ehe ich in die Maske ging. Ich durfte mich jetzt nicht hängen lassen.

Die Zeit zwischen den Shows war unerwartet lustig. Ich wollte eigentlich etwas schlafen, aber einige Ensemblemitglieder drehten eine Art Homevideo über das Leben hinter den Kulissen, und sie alberten herum und nervten die Kollegen. Schließlich saßen wir alle in Elias’ Garderobe und spielten Elisabeth-Activity, das sich irgendein Idiot ausgedacht hatte und das nicht so leicht war, wie es schien. Jedenfalls mussten wir alle lachen und hatten großen Spaß, und ich war nicht so angespannt wie üblich vor einer Show.
Ich war bemüht, es nicht zu ernst zu nehmen. Aber sobald ich mir erlaubte, mich betont lässig gegen die Wand zu lehnen und meine Spannung abzubauen, wallte Angst in mir auf. Was, wenn ich durch die verlorene Spannung auch an Ausdruckskraft verlor? Wenn ich den Leuten nicht gefiel? – Es wäre ja nur eine Vorstellung, die etwas schwächer wäre. – Ja, aber die Menschen, die ich enttäuschte, würden kein gutes Bild von mir behalten… Und ich konnte gar nichts daran ändern: sobald ich den Pistolenschuss hörte, der Rudolf tötete, schossen mir regelrecht die Tränen ein.
Nach der Show versuchte ich, an dem erlösten Gefühl nach dem Todeskuss festzuhalten. Ich ging zu Fuß nach Hause und bekam natürlich Angst im Dunkeln, und das Adrenalin half mir kurzfristig, alles andere zu vergessen. In meiner Wohnung schaltete ich überall Licht an und drehte das Radio laut auf, bis ich mich ins Bett legte. Doch die plötzliche Stille war erdrückend, und ich merkte, dass meine Gedanken im Halbschlaf wieder zur Show zurückkehrten – ich stand wieder auf der Bühne, allein, aber sehr niedergeschlagen… sah man mir auch an, dass ich niedergeschlagen war? Es sollten bloß alle bemerken! – Nein, nein! Ich zwang mich, aufzuwachen, und setzte mich auf. Ärger wallte in mir auf. Wenn Liam hier wäre, würde ich mich zu ihm umdrehen, den Arm um ihn legen und ihm von meinen Sorgen erzählen. Und dann würde er mich sicher… abzulenken wissen.
Aber er war nicht hier. Ich stand wieder auf, ging wieder hinunter in die Küche, stöpselte kurz entschlossen das Radio aus. Es war ein altes Ding mit extra Antenne. Ich schleppte alles nach oben, fegte Bücher und Wecker vom Nachttisch und steckte das Radio in der Steckdose ein. Als ich den Sender einstellte, dröhnte mir nur Rauschen entgegen. Ich lief eine Weile mit der Antenne herum, bis ich einen Platz fand, an dem sie ein Signal empfing. Ich bekam nur WDR5, wo sie gerade ein Buch lasen. Beruhigend. Ich legte mich wieder hin und knipste das Licht aus. Es dauerte etwas, bis ich erkannte, was gelesen wurde: Dorian Gray. Langweilig, sehr gut. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich fest auf das Hörspiel. Die Stimme des Lesers war tief und sonor, und sie wiegte mich, wenn auch quälend langsam, in den Schlaf.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 14.02.2016, 15:00:11

Ein toller - wenn auch etwas trauriger neuer Teil! Es ist nicht schön zu lesen, dass es Anouk, die so viel erreicht hat, aktuell keineswegs so gut geht, wie man denken würde. Aber genau das zeigt die Schattenseiten des Ruhms und macht deine Geschichte sehr authentisch. Trotzdem hoffe ich, dass es ihr bald besser geht und sie eine Abwechslung zu ihrem Job findet!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 20.02.2016, 22:19:55

Da drücken wir mal Anouk die Daumen, dass es ihr bald wieder besser geht! Wenigstens hat sie eine Agentin, denen ihre Künstlerin ihr mehr am Herzen liegt als bei allen, mit denen ich je zu tun hatte!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 25.02.2016, 18:27:51

Da kommt der nächste Teil! @armandine Ich habe leider gar keine Vorstellung, wie die Zusammenarbeit mit Agenten ist... aber Anouk kann es ja nicht nur schwer haben im Moment ;)

Am nächsten Morgen fühlte ich mich ausgeschlafen, obwohl ich schon um acht Uhr aufwachte. Normalerweise schlief ich bis zehn oder elf, und letzte Nacht war ich durch meine Radioaktion noch später als ohnehin ins Bett gekommen. Aber ich musste fest, sehr fest geschlafen haben, denn ich war kein einziges Mal erwacht und hatte keinen einzigen Traum gehabt. Ich stand auf, und als ich nach draußen sah, war der Himmel wolkenlos. Es sah nach einem schönen Frühlingstag aus. Ich fühlte mich plötzlich beschwingt und munter und hatte den Drang, das Haus schnellstens zu verlassen. Ich machte mir nicht die Mühe, zu frühstücken; ich ging schnurstracks ins Bad und machte mich fertig, entschied mich für eine leichte, blaue Bluse und eine schwarze Jeans und merkte, dass ich zum ersten Mal seit langem wieder hübsch angezogen war. Zuhause hing normalerweise in Jogginghose und T-shirt herum, und ins Theater ging ich in Jeans und Pullover, ich trug ja sowieso ein Kostüm.
Jetzt aber wollte ich mich auch außerhalb des Rampenlichts wohl fühlen. Ich machte mir einen hübschen Zopf und schminkte meine Augen. Dann verließ ich das Haus und frühstückte in einem kleinen Café, von wo aus ich meine Mutter anrief. Wir überlegten eine Weile herum, was wir unternehmen wollten, dann beschlossen wir, gemeinsam durch die Altstadt zu bummeln und es uns anschließend auf den Apollo-Wiesen gemütlich zu machen.
Einige Stunden später saßen wir dann auch auf einer Decke, knabberten eben gekaufte Plätzchen und starrten auf den glitzernden Rhein. Es war ein warmer Frühlingstag, und es tat gut, faul herum zu liegen.
„Und, wie geht es dir sonst?“, fragte meine Mutter. Mit „sonst“ meinte sie vermutlich mein Befinden außerhalb der Bühnenwelt, das normale Leben.
„Im Moment ist nicht viel los“, erwiderte ich. Ich wollte ihr nicht unbedingt von meiner… Unpässlichkeit erzählen. „Ich hänge rum und langweile mich immer ein bisschen, bis ich im Theater bin.“
„Klingt ja spannend“, kommentierte sie ironisch.
„Na ja“, ich blinzelte gegen die Sonne. „Manchmal gehe ich einkaufen.“
„Du bist doch nicht einsam?“ Sie klang besorgt.
Ich wollte nicht antworten. Ich wollte lügen. Ich sollte lügen. Ich war ein erwachsener Mensch, ich konnte mein Sozialverhalten schon regeln. „Doch, ziemlich.“
Sie drückte meine Hand. „Was ist mit Liam?“
„Wir geben uns Mühe“, antwortete ich und legte eine besondere Betonung auf das „Wir“. „Aber wir müssen arbeiten. Liam ist manchmal für einen Tag da, aber das… ist nicht das Wahre. Abends muss er ja wieder weg. Wenn ich frei habe, werde ich ihn besuchen.“
„Ihr solltet zusammenziehen“, schlug sie vor.
„Das gestaltet sich schwierig“, entgegnete ich. „Es würde mindestens einen in seiner Rollenwahl einschränken. Ich will ja nicht angeben, aber… ich fange an, bekannt zu werden. Wenn ich mit Elisabeth durch bin, wird es leichter sein, größere Rollen zu bekommen.“
„Ein Leben voller Umzüge…“, sinnierte sie.
„Ich wusste schon, worauf ich mich einlasse.“ Das Umziehen war tatsächlich kein großes Problem. Der Reiz einer neuen Produktion siegte immer über mein Heimweh.
„Na gut. Welche Rolle schwebt dir denn so vor?“, ändert sie das Thema. Ich lächelte. Sie wusste, dass ich es liebte, über so etwas nachzudenken.
„Hmmm… also, Elisabeth ist ja schon ein riesiger Erfolg. Aber Mary Poppins finde ich ganz nett, irgendwie. Oder… ich weiß nicht… Vielleicht könnte ich ja auch mal Theater spielen, richtiges Sprechtheater.“
„Eine schöne Idee“, sagte sie.
„Ja, vielleicht mal eine leichtere Rolle“, lachte ich.
„Elisabeth scheint schon ein harter Brocken zu sein“, sinnierte sie.
„Ja, das ist es.“ Ich stockte und spürte deutlich, dass ich an einer Weggabelung stand: entweder ich sagte ihr, wie schwer es mir bisweilen fiel, Rolle und Realität zu trennen, oder ich spielte es herunter. Ich rang eine Weile mit mir, aber nicht lange genug, um ihr Misstrauen zu wecken.
„Aber es macht auch großen Spaß“, sagte ich und schloss die Augen.
Ich wollte uns den Tag nicht verderben.

Etwa einen halben Monat später nahm ich mir Urlaub und hatte ein ganzes Wochenende spielfrei. Ich fuhr nach Bielefeld und besuchte dort Liam. Nach seinem ersten Engagement war er direkt für die nächste Inszenierung übernommen worden, „The last five years“. Es wurde auf Englisch gespielt, und ich sah mir die Vorstellung am Abend an. Ich konnte sogar aus der Entfernung erkennen, dass Liam in seiner Rolle aufging, ich konnte nur nicht sagen, ob es an seiner Muttersprache lag oder einfach an dem Stück, in dem er, da es nur aus zwei Personen bestand, zwangsläufig eine wichtige Rolle einnahm. Er gefiel mir auch gut in der Rolle; wenn man ihn im Alltag begegnete, konnte man sich meistens nicht vorstellen, dass dieser optimistisch wirkende, junge Mann so ernsthaft spielen konnte. Er wirkte auch gar nicht wie ein Schauspieler, eher wie ein Vater von drei Kindern - nun ja, ein sehr junger Vater... - mit netter Eigentumswohnung und respektablen Job, vielleicht an der Bank. Aber auf die Bühne war er durch und durch Schauspieler und Sänger. Ich hatte ihn schon lange nicht singen hören, und es gefiel mir. Es ließ mein Herz schneller schlagen.
Nach der Show verließen wir zeitig das Theater. Ein paar Mädchen lauerten wegen Autogrammen auf, aber es waren beneidenswert wenige. Und sie wollten alle kein Foto, vielleicht, weil sie mich als seine Freundin identifizierten. Ehe ihnen aber noch in den Sinn kommen konnte, mich auch noch als Elisabeth zu identifizieren, saßen wir schon im Auto und fuhren Heim, zu Liam.
„Und, wie hat es dir gefallen?“, fragte er und nahm wie beiläufig meine Hand.
„Sehr gut“, antwortete ich und verschränkte meine Finger mit seinen. Himmel, hatte ich Herzklopfen. Vielleicht waren die langen Trennungen doch nicht so schlecht. Sie würden nachher bestimmt noch… ungeahnte Kräfte in uns freisetzen. Ich musste ob diesen Gedankens kichern und wurde gleichzeitig rot, aber als er mich ansah, schüttelte ich nur den Kopf. „Schon gut. Ich musste… an etwas denken…“ Ich wollte es ihm lieber nicht so deutlich sagen. Er hatte mich nach einer Meinung gefragt, und nur mit „Sehr gut“ zu antworten und anschließend über anderes zu reden wäre vielleicht ein wenig kränkend.
„Mir ist aufgefallen, wie normal du bist“, fuhr ich fort.
„Ach?“, erwiderte er.
„Ja. Das soll ein Kompliment sein. Man hat dir die Rolle sehr gut abgenommen. Und deine Partnerin war auch nicht schlecht, wie hieß sie noch gleich?“
Er nannte mir den Namen, aber ich konnte doch nichts damit anfangen.
Wir redeten über die Proben zu dem Stück, und ich beneidete Liam abermals um die heruntergebrochene Darstellerzahl. Durch lediglich zwei Hauptpersonen waren die Proben kurz, aber intensiv. Man konnte sich in aller Ruhe und in kürzester Zeit mit allem auseinandersetzen. Er fragte nur kurz, wie es bei Elisabeth ging. Ich antwortete wahrheitsgemäß, es sei schwer zu spielen, aber ich wollte noch nicht genauer darauf eingehen. Erstens, weil wir immer viel mehr über mich als über ihn sprachen, und zweitens, weil ich auch diesmal den Abend nicht mit Jammern vermiesen wollte.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 25.02.2016, 18:37:46

Schön, dass es einen neuen Teil gibt - aber noch immer wendet sich das Blatt nicht gänzlich zum Guten. Wenigstens die Erfüllung des gewünschten schönen Abends für die beiden, hättest du ihnen gönnen können ;) Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht und ob sich Anouk bald wieder besser fühlt!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 26.02.2016, 14:17:53

ich bin auch gespannt! Allerdings verstehe ich nicht, warum Liam nicht öfter da ist, wenn seine Premiere vorbei ist, spielt er doch nicht jeden Tag?

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 12.03.2016, 14:55:31

@armandine Ich muss gestehen, ich vergesse Liam ziemlich oft bzw. erstelle seine persönliche Geschichte immer etwas ahnungslos... :oops:
Habe ganz vergessen, weitere Teile zu posten. Auf eure Meinung zu diesem bin ich besonders gespannt:

Viktoria hatte mir tatsächlich einen Job besorgen können. Just an dem Tag, an dem wir genau einen Monat Spielzeit mit Elisabeth verbuchen konnten, erreichte mich ihr Anruf: an einer Musikschule in Essen wurden Vorbereitungskurse für Vorsprechen und –singen an der Schauspielschule angeboten. Dienstags von 12.00 bis 14.30 Uhr und Donnerstags von 14.00 bis 16.30 Uhr würde ich jeweils zwei Schüler oder Schülerinnen betreuen und ihnen mit meinem Rat zur Seite stehen.
„Jeder Workshop ist einmalig“, erklärte Viktoria, „wer es sich leisten kann, kommt natürlich öfter.“
„Und was muss ich tun?“
„Meistens haben die Schüler schon vorbereitete Texte oder Songs. Sie tragen sie vor und dann arbeitet ihr daran. Einige sind sich nicht sicher, die kannst du beraten. Es ist alles ganz locker, und ich weiß, dass du nicht zum ersten Mal unterrichtest.“
Das stimmte. Neben den privaten Stunden für Linda hatte ich einen Workshop bei den Vampiren gegeben, und in meiner alten Schule ebenfalls.
Ich war trotzdem aufgeregt, als der erste Arbeitstag anstand. Die Räume der Musikschule waren nicht besonders schön, ein bisschen schäbig, aber ordentlich. Es roch überall nach dem ausgetretenen, grauen Filzteppich, mit dem der gesamte Boden ausgelegt war. Der Raum, in dem ich unterrichten sollte, war winzig, sehr lang und schmal. Es passte gerade mal ein Klavier hinein, kein sehr gutes. Ein Spiegel stand an der Wand – nützlich, wenn man Atemtechniken übte. Auf einem Regalbrett, das an die Wand genagelt war, stand ein CD-Player. Licht fiel durch ein großes Fenster an der Frontseite, und Sitzgelegenheiten waren der Klavierhocker und ein Holzstuhl unter dem Fenster.
Meine erste Schülerin war ein Mädchen namens Amelie, achtzehn Jahre. Sie hatte gerade die Abiturprüfungen hinter sich und stand kurz vor den großen Vorsprechen. Sie hatte sich in nahezu jeder staatlichen Schule angemeldet, die es in Deutschland gab. Ihre Haare waren blond, ihre Augen blau – den Anforderungsbereich „gutes Aussehen“, den ich tatsächlich in einigen Voraussetzungen gelesen hatte, erfüllte sie schon mal. Allerdings war sie auch prädestiniert dazu, immer das scheue Liebchen zu spielen.
Sie war sehr gut vorbereitet, war ein klassischer Sopran und hatte passende Songs ausgesucht. Wir begannen mit einigen Aufwärmübungen, und ich erkannte schnell, dass ihre Stimme gut ausgebildet war. Es würde vielleicht schwer sein, an einer Schule genommen zu werden – viele Dozenten schätzten es, „rohe Diamanten“ unterrichten zu dürfen statt eines fertigen, glatten Soprans. Nachdem wir ein wenig an den Songs gearbeitet hatten, gab ich Amelie noch einige Ratschläge, auch wenn ich dazu eigentlich gar nicht die nötigen Voraussetzungen hatte: mein Stipendium hatte mich von jedem lästigen Vorsingen befreit. Ich fing an, das zu bereuen, auch wenn ich mein Glück weiterhin schätzte.
Der zweite Schüler – es war ein Junge – war ein schräger Kerl namens Sascha, 24, leidenschaftlicher Schauspieler. Sein Monolog war schrecklich ausgearbeitet, und er verlangte mir einiges ab. Aber die Unterrichtsstunden gaben mir das Gefühl, etwas getan zu haben, und ich kam mir wichtig und clever vor, als ich nach Hause fuhr.

Die Unterrichtsstunden wirkten tatsächlich Wunder. Einige Schüler kontaktierten mich im Voraus, sodass ich schon etwas vorbereitete, mir etwa Monologe oder ganze Stücke durchlas, um besser in die Materie eintauchen zu können. Ich entdeckte auch selber wieder neue Freude daran, mir über Rollenauslegung Gedanken zu machen, und nicht selten kam es zu philosophischen Debatten, während denen ich mir häufig die Frage stellte, ob ich in diesem Alter auch so analytisch begabt gewesen war. Das Ganze hatte zur Folge, dass ich viel Ablenkung hatte und die Zeit plötzlich viel schneller verging. Ich schlief wieder besser, und durch meine Arbeit an anderen Rollen und mit anderen Personen konnte ich mich leichter von meiner eigenen Rolle trennen. Manchmal dachte ich schon beim Applaus: Hoffentlich klatschen sie nicht so lange, ich muss noch die letzten Seiten Emilia Galotti lesen…, und war in der Garderobe schon mit anderen Dingen beschäftigt.
Außerdem hatte ich Pressetermine – Öffentlichkeitsarbeit, wie es hieß. Ich gab einige Interviews für Internetseiten und Musicalzeitschriften, und an einem Sonntag war ich morgens mit Julian im Radio zu einem sehr angenehmen Interview mit einem sehr lockeren Moderator. Er bezog seine Fragen nicht nur auf unsere derzeitigen Engagements, sondern auch auf frühere Auftritte, die Schulzeit, unseren Werdegang, wissenswertes um die Themen Theater, Schauspiel, Musical. Danach ging ich mit Julian Mittag Essen, und es wurde ein angenehmer, entspannter Tag – die Ruhe vor zwei Aufführungen.

Die Matinee am Sonntag endete mit einer kleinen Überraschung: meine Agentin Viktoria hatte sich die Show angesehen und wartete nun, vor allen anderen, im Backstage-Bereich. Nach einer kurzen Plauderei, viel Lob und einigen Vorschlägen für neue Pressetermine kam sie zu dem eigentlichen Grund ihres Auftauchens.
„Hör mal, Anouk“, sagte sie, „natürlich bin ich nicht nur zum Reden hier.“
Ich lachte. „Ja, das habe ich fast geahnt! Also, was gibt es?“
„Zwei Dinge. Erstens brauchst du dringend ein paar Aktivitäten auf deiner Homepage.“ Ihre Stimme klang tadelnd. „Du hast viele Aufrufe, aber dein Auftreten im Netz ist, nun ja, nicht sehr ausgeprägt, gelinde gesagt. Sieh doch bitte zu, dass du mal zum Fotografen gehst, dann polieren wir damit deine Seite ein wenig auf. Außerdem wäre ein öffentliches Facebook-Profil auch nicht schlecht.“
„Du meinst, eine Fanseite?“ Ich hatte schon einige Male darüber nachgedacht, aber noch nicht die Muße gehabt, mich weiter mit dieser Idee zu beschäftigen.
Viktoria nickte. „Ja, das wäre auf jeden Fall im Interesse der Allgemeinheit. Sieh mal, du bist jetzt berühmt.“
„Ich weiß, ich weiß.“ Ich seufzte, dann lächelte ich. „Langsam fange ich an, mich damit abzufinden.“
„Gut. – Also, ein paar neue Fotos, ja? Ich schreibe dir eine Erinnerung. Zweitens: hast du morgen irgendwelche Termine?“
Ich stutzte. „Nein, außer vielleicht mit dem Supermarkt.“
„Gut. Dann streich das. Wir sind nämlich um Punkt 12.00 verabredet, und zwar mit Charles Reed und Edwin O’Neill.“
„Schön“, entgegnete ich trocken. „Sollte ich mich darüber freuen? Ich kenne die beiden nämlich kein bisschen.“
Viktoria lächelte und stellte ihre Tasche auf dem Tisch vor uns ab. Sie kramte kurz darin herum, dann zog sie eine schmale Mappe hervor, schlug sie aus und fischte aus einer Unmenge Visitenkarten, alle alphabetisch geordnet, eine weinrote Karte hervor.
„Hier“, sagte sie, „bitte sehr.“
Ich nahm das Kärtchen entgegen. Sie war in Englisch geschrieben.
Swann Theatre stand in geschwungenen, edlen Lettern in der oberen Mitte. Und darunter, weitaus schlichter:
Charles Reed, Artistic Director
Edwin O’Neill, Management
The new West End Theatre – Music begins, where words end.

Ich drehte die Karte um. Da stand eine Londoner Adresse. Unschlüssig sah ich auf.
„Und… worum geht es?“
„Das Swann Theatre ist ein neues Theater am West End in London“, antwortete sie, wie immer sehr ruhig und geschäftlich. „Es wurde erst vor kurzem fertig gebaut, sehr edel. Ich hatte vor einigen Monaten die Ehre, es noch während des Baus zu besichtigen, es ist wirklich ein Schmuckstück, eine Mischung aus prunkvollem Rokoko und schlichter Moderne. Wie dem auch sei“, sie bemerkte meinen leicht desinteressierten Blick und fuhr rasch fort, „eröffnet es im September dieses Jahres.“ Sie machte eine Pause, und um nicht nur stumm dazusitzen, sagte ich gedehnt: „Okay…“ In mir regte sich bereits eine Ahnung, nein, eher eine Hoffnung – oder war es doch Angst?
„Charles und Edwin sind noch auf der Suche nach den richtigen Darstellern, und sind derzwit in Deutschland, um sich die Marktentwicklung und die verschiedenen Inszenierungen im Bereich Musical anzusehen. Der Regisseur, Thomas Grey, reist ebenfalls mit. Sie sahen vor zwei Wochen Elisabeth und fragen nun nach, ob Interesse und Möglichkeiten bestehen, in ihrem Theater aufzutreten.“
Ich konnte ihr nicht ganz folgen – auftreten? „Mit Elisabeth?“, fragte ich verdutzt.
„Oh, nein, habe ich das noch nicht erwähnt? Sie haben sich Love never dies als Eröffnungsstück ausgesucht. Allerdings die Australische Fassung, dem Himmel sei Dank Ich weiß nicht, ob das clever ist, aber sie haben ein gutes Konzept entworfen zur Geschäftsführung.“ Sie räumte geschäftig ihre Mappe ein und holte einen schmalen Hochglanzkatalog aus der Tasche.
„Hier, ein kleiner Einblick in Konzept, Architektur und Saal des Theaters“, erklärte sie. Aber ich wollte das Magazin gar nicht sehen. Irgendwie leuchtete mir das alles immer noch nicht ganz ein.
„Also, sie wollen Love never dies geben. Was habe ich damit zu tun? Warum sollen wir morgen mit ihnen essen gehen?“
Viktoria sah mich an und bemerkte, dass sie ein wenig zu geschäftlich gewesen war. „Ich kann dir natürlich noch nichts versprechen“, sagte sie langsam, „aber sie sprachen mich sehr enthusiastisch an und sagten, sie wären sehr interessiert, dich als Christine zu sehen. Das wollen sie mit uns besprechen, bevor sie irgendwelche Castings eröffnen.“
„Also… mich, als Christine? Ohne Casting? Das ist seltsam!“
„Nicht mehr!“, widersprach sie. „Das kann dir hier noch wahrscheinlicher passieren, nach deinem riesigen Erfolg bei Elisabeth!“ Sie legte mir kurz die Hand auf die Schulter. „Ich weiß, das ist alles sehr viel auf einmal und vor allem noch sehr undurchsichtig. Ich schlage vor, wir gehen zu diesem Treffen. Mach dir einfach ein paar Gedanken darüber, wie du zu der Rolle stehst und was es für dich bedeuten würde, in London zu spielen. Das ist eine große Chance, aber auch ein großer Schritt nach vorne. Ich weiß selber noch nicht, wohin er dich bringen wird. Falls das Gespräch sich morgen in diese Richtung entwickelt.“ Sie stand auf und schlüpfte in ihre Jacke. „Also, morgen um 12 im D’Vine. Weißt du, wie du hinkommst?“
„Klar weiß ich das.“ Ich starrte gedankenverloren auf den Tisch. Viktoria klopfte mir noch einmal aufmunternd auf die Schulter.
„Viel Spaß noch heute Abend! Ich bin wirklich stolz auf dich!“ Damit ging sie, ein bisschen wie ein Puck, der erst Verwirrung stiftete und dann verschwand.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
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Gaefa
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 13.03.2016, 11:23:06

Welch unerwartete Entwicklung. Mir kommt das ein bisschen früh nach der gerade erst begonnen Elisabeth. Aber ich könnte mir ja sehr gut vorstellen, dass sie Liam als Phantom engagieren. Ein Zusammenspiel der beiden in London wäre ja mal was. Ich bin sehr gespannt auf die Fortsetzung. Lass uns nicht zu lange warten.
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armandine
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 13.03.2016, 16:25:16

hm, schön für Annouk, aber in Sachen Realismus? In London nehmen sie fast nie Leute ohne englische Muttersprache, und für eine Theatereröffnung wären bestimmt eher West End Stars angefragt. Aber man kann sich ja mal anhören, was daraus wird :-). Vielleicht geht auch etwas für Liam? Auf jeden Fall wäre es schön, wenn bald etwas Neues kommt!

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 22.03.2016, 18:08:14

Danke für eure Kommentare, die ihr immer so emsig schreibt, das motiviert mich zum Weiterschreiben :)
Hier kommt der nächste Teil. Die angegebenen Speisen sind übrigens der Online-Karte vom D'VINE entnommen ;)

Ich hatte niemandem von den Zukunftsplänen, die andere für mich schmiedeten, erzählt. Nicht meiner Mutter, nicht einmal Liam. Dabei fühlte ich mich wegen des eventuellen Engagements nicht mal besonders nervös oder überfordert wie sonst. Eigentlich, und das überraschte mich, war ich die Ruhe selbst. In meinem Kopf war alles ganz klar. Ich wusste genau, was auf mich zukam, und ich wusste, dass ich es gutheißen würde, nach London zu ziehen und dort zu spielen. Es war ein Traum, am West End zu spielen, und für viele Darsteller blieb er zeitlebens unerfüllt. Mir schleuderte man das Engagement geradezu entgegen. Zum ersten Mal erkannte ich in vollem Ausmaß die Vorteile, die meine neue Stellung mit sich brachte.
In solcherlei Gedanken vertieft betrat ich das D’VINE – ein vergleichsweise teures Restaurant mit schöner, weißer Fassade und gläserner Eingangstüre. Der Innenraum selbst war licht und schön; alles war in Weiß und ein wenig Schwarz gehalten. Wandlampen spendeten in regelmäßigen Abständen strahlend gelbes und nach oben ockerfarbenes Licht.
Viktoria war bereits da; sie saß an einer langen Tischreihe neben der Bar, die bis auf ein paar einsame Gäste leer war. Ich rutschte auf die Bank ihr gegenüber und schlüpfte aus meinem Mantel. Ich hatte mich etwas gehobener gekleidet, trug eine rote Spitzenbluse und schwarze Jeans. Zum Glück – auch Viktoria sah noch mehr nach Business-Frau aus als sonst.
„Aufgeregt?“, fragte sie.
„Nicht wirklich“, gestand ich.
„Ich hoffe, du denkst dran, dass wir Englisch sprechen werden.“
Okay. Jetzt war ich doch aufgeregt!
Die drei Männer Charles, Edwin und Thomas erschienen vier Minuten nach zwölf, aber in bester Laune. Edwin war der älteste von ihnen, vielleicht zweiundfünfzig, schätzte ich. Er hatte kurze, graue Haare, ein breites Lächeln und tiefe Falten um den Mund. Er schüttelte mir herzlich die Hand und nahm neben mir Platz. Charles war etwas ruhiger und ein wenig jünger als sein Kollege; Thomas war ein Regisseur um die Vierzig, mit blondem, zurückgekämmten Haar. Sie alle trugen Hemd und Krawatte, bis auf Thomas, der in alter Regie-Manier eher entspannt auftrat. Ich hatte erst etwas Probleme, so plötzlich in eine andere Sprache zu wechseln, und war erleichtert, dass sich das Gespräch erst mal nur um die Speisekarte drehte. Viktoria übersetzte eifrig, was im Menü stand, und schließlich hatten wir uns alle entschieden. Ich hatte eigentlich gar keinen Hunger, und die Preise luden auch nicht gerade dazu ein, welchen zu bekommen, aber es würde sehr unhöflich sein, nichts zu nehmen.
„Ich hoffe, wir haben ihren freien Tag nicht durcheinander gebracht“, sagte Edwin zu mir. „Unsere Einladung kam ja ziemlich überstürzt.“
„Nein, das war schon okay“, winkte ich ab. „Kreative Leute sind doch immer etwas, äh, sprunghaft?“
Er lachte. „Ach ja, finden Sie? Nun, auf uns könnte das tatsächlich zutreffen.“ Er sah dem Kellner versonnen zu, wie er den Wein servierte (spanischer Wein aus Navarra), und nahm einen kräftigen Schluck.
„Ausgezeichnet, wirklich! – Trinken Sie keinen Wein, Anouk?“ Er warf einen Blick auf mein Wasser.
„Oh, lieber nicht“, erwiderte ich und sah verlegen in die Runde. „Das würde sehr peinlich enden, fürchte ich.“ Die anderen lachten, und sofort lockerte sich die Atmosphäre spürbar.
„Also, Anouk, Sie wissen ja sicher schon, weshalb wir hier sind“, ergriff Charles das Wort. Edwin setzte sein Glas ab. Thomas beugte sich vor.
„Ja, Viktoria hat mich gestern informiert.“
„Schön. Danke noch einmal, dass Sie so kooperativ sind.“
Ich nickte schweigend, und er fuhr fort: „Anouk, wir sind auf der Suche nach Darstellern für unsere erste Inszenierung, für Love never dies. Es sollen, so haben wir uns mit dem Regisseur geeinigt, nur ausgewählte Darsteller unsere Bühne betreten.“ Er lächelte schwach. „Das klingt vielleicht ein bisschen überheblich, aber nachdem wir Sie vor zwei Wochen gesehen haben, sind wir erleichtert, diesen unkonventionellen Weg gegangen zu sein.“
„Es ist bereits ein männlicher Darsteller in Verhandlung“, fuhr Edwin fort, „ein Amerikaner namens Adam Crivello. Sie haben sicher schon von ihm gehört.“
Ich schluckte schwer. Crivello war eine große Nummer am Broadway, begeisterte derzeit als Jean Valjean. „Ähm, ja, kenne ich.“
„Gut.“ Edwin lächelte. „Jedenfalls, er ist im Gespräch als Phantom. Nur, um Ihnen ein bisschen Orientierung zu geben, wo wir gerade stehen.“
„Und welches Niveau wir erwarten“, fügte Charles hinzu.
„Ein Glück, dass wir Elisabeth sahen!“, sagte Edwin und nahm seine Serviette zurück, als der Kellner mit den ersten Gerichten kam. Das Gespräch kam ins Stocken, bis wir alle einen dampfenden Teller vor uns hatten. Ich starrte hinunter auf meine gebratene Maishähnchenbrust mit Kürbisrisotto. Sah tatsächlich mehr als gut aus. Edwin mampfte bereits geangelten Adlerfisch mit Apfelsauerkraut, Speck und Croutons, und auch die anderen schienen geradezu ausgehungert. Ich schloss mich der Gruppe an und aß mit.
„Wir waren wirklich positiv überrascht von Ihrer Darbietung“, nahm Edwin den Faden wieder auf, „wir hatten natürlich schon viel von Ihnen gehört, aber man sollte ja trotzdem immer skeptisch bleiben.“
„Aber Sie haben uns nicht enttäuscht“, sagte Thomas – das erste Mal, dass er etwas zum Gespräch beitrug. „Ich sagte sofort, dass Sie eine ausgezeichnete Christine wären.“
„Und das noch vor der Pause!“
„Danach war natürlich alles klar“, meinte Edwin.
„Beim Applaus wären wir am liebsten zu Ihnen auf die Bühne gesprungen!“, bestätigte Charles.
„Sie würden uns wirklich einen großen Gefallen tun.“
Ein Gefallen, soso. Ich linste zu Viktoria, und sie reckte unauffällig den Daumen. Ich rieb Daumen und Zeigefinger fragend aneinander, und sie versteckte ihr Lachen eilig hinter ihrem Weißwein. Anscheinend wollte sie mir über meine Bezahlung keine Auskunft geben.
Bis wir zu wirklichen Vereinbarungen und harten Fakten kamen, dauerte es aber noch etwas. Genau genommen zwei Portionen Walnussbuchteln, einen Gourmet Kaffee und zwei Mal zwei Kugeln Eissorbet später lehnte Edwin sich zurück und zog etwas aus seiner Tasche. Papiere. Jetzt wurde es ernst.
„Natürlich lässt sich schon etwas über Ihre Gage sagen“, sagte Charles. „Es kommt auch ein wenig darauf an, wie wir uns machen, aber ich denke, wir haben einen ausgezeichneten Regisseur, ein gutes Konzept und eine tolle, strahlende Wiederaufnahme eines umstrittenen Musicals. Es wird die Besuchermassen nur so anlocken. Sie alle kommen aus einem Grund:“ Er sah mich beschwörend an. „Sie wollen sehen, ob sie es zerreißen können oder ob es endlich jemand schafft, dieses Stück zu bannen und eindrucksvoll in Szene zu setzen.“ Er grinste. „Und das werden wir! Wir haben ein riesiges Orchester, eine große Bühne, viele Zuschauerplätze und ein passables Kartenkontingent. Wir setzen all unsere Hoffnungen in dieses Stück – und natürlich in unsere Darsteller.“ Er beugte sich vor. „Anouk, wollen Sie für uns spielen?“
Auch Charles lehnte sich nach vorne und sah mich bittend an. „Wollen sie für uns singen?“
Thomas räusperte sich. „Es wäre mir eine Freude!“
Ich verspürte den Drang, zu lachen. Die drei waren ein eingespieltes Team, ohne Zweifel.
„Nun, da muss ich wohl mit meiner Agentin sprechen!“, feixte ich. Sechs Augen wanderten zu Viktoria.
„Nun“, sagte auch sie, aber weitaus kühler als ich, „Frau Steger ist derzeit noch in einem festen Engagement. Es wird natürlich nicht einfach sein, sie aus diesem Vertrag zu boxen. Stellen Sie sich darauf ein, dass man um sie kämpfen wird. Ich sehe zwar keinen Grund, warum wir dieses Engagement nicht annehmen sollten“, sie blätterte durch den Vertrag, „und hier ist alles hieb- und stichfest. Allerdings liegt nun alles bei Frau Steger.“ Sie sah mich an. Ich schluckte. Jetzt? Hier? Das konnte ich nicht! Ich konnte doch nicht von Jetzt auf Gleich mein Engagement ändern!
„Habe ich… habe ich Bedenkzeit?“, fragte ich. Die drei Männer sahen sich an.
„Sicher“, sagte Edwin dann. „Eine Woche? Reicht Ihnen das?“
Ich nickte erleichtert. „Ja. Das wird reichen.“ (Dachte ich...)
„Gut.“ Edwin sah auf seine Uhr. „Nun, wie ich sehe, schließt der Laden in einer halben Stunde. Wie wäre es, wenn ihr mir die Rechnung überlasst?“
„Das ist zu freundlich“, sagte Viktoria, bevor ich protestieren konnte. Aber als ich in meinen Mantel schlüpfte, erhaschte ich doch noch einen Blick auf die Rechnung: 193,90€! Ich schluckte, und Edwin zwinkerte mir zu, als er meinen Blick bemerkte.
„Wir wären wirklich zu stolz!“, versicherte er noch einmal, dann stand auch er auf und begleitete uns alle nach draußen.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 22.03.2016, 21:17:44

Das war spannend und amüsant geschrieben. Da bin ich ja mal gespannt. Aber wird Annouks Beziehung das überleben, wo Liam doch immer nach England wollte? Oder gibt es für ihn auch etwas?

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 22.03.2016, 21:36:50

Juhu, es geht weiter. Ich kann mich nur anschließen, auch wenn ich es an einigen Stellen fast ein bisschen zu viel Schmeichelei fand. Ich bin gespannt, ob du auch an Liam denkst, vielleicht ja als Raoul? Außerdem bin ich gespannt, worauf das in Klammern eingefügte "dachte ich" hinweist.
Bitte bald weiter.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 24.04.2016, 16:54:14

Die Zeit rennt ja :shock: Hier der nächste Teil:

Es ließ sich nicht mehr aufschieben. Ich musste Liam anrufen. Glücklicherweise schaffte er es, an einem Morgen vorbeizusehen. Ich legte ihm die Sache genauestens aus, haarklein und zerknirscht.
Ich hatte auch allen Grund, mich zu schämen. Hatte Liam nicht vor einigen Monaten ein Engagement bei Miss Saigon abgelehnt, um nicht ohne mich nach London ziehen zu müssen? Hatte ich ihm nicht tausende Male dafür gedankt?
Und nun verhielt ich mich genau so, wie ich es niemals von ihm gewollt hatte: ich war drauf und dran, das Engagement anzunehmen.
„Was soll ich nur machen?“, fragte ich – den wahren Grund für meine Zweifel hatte ich ihm verschwiegen. Sicherlich konnte er es sich sowieso zusammenreimen.
„Was du machen sollst?“ Er nahm mein Gesicht in beide Hände und sah mich an. „Du nimmst natürlich an!“
Ich war völlig baff und hielt seine Antwort für gut versteckte Ironie. „Meinst du?“, stammelte ich unsicher.
„Allerdings! – Und ich kann dir von den Augen ablesen, dass du dir Vorwürfe machst, weil du nie wolltest, dass ich nach London gehe, und es jetzt selbst tust.“
Ich schwieg verblüfft. Kannte er mich so gut? Anscheinend.
„Aber… aber… bist du mir nicht böse? Ich meine, das ist doch irgendwie unfair!“
„Unfair wäre, wenn ich dir die Chance deines Lebens nähme! Was ist denn Miss Saigon schon im Gegensatz zu Love never dies? Eine Ensemblerolle gegen eine der berühmtesten Hauptrollen weltweit?“
Ich legte meine Hände auf seine und küsste ihn.
„Wenn ich nicht schon längst in dich verliebt wäre“, murmelte ich, „jetzt wär ich’s!“

Viktoria hatte immer einen leichten Job mit mir gehabt.
Bis jetzt.
Eine Woche ging schneller um, als wünschenswert war, und der alles entscheidende Montag war nicht mehr weit. Natürlich hatte alles ganz einfach ausgesehen, als nur Liam und Viktoria eingeweiht waren. Das Elisabeth-Team und diverse Familienmitglieder sahen das Angebot allerdings kritisch. Ich hatte das Gefühl, in ein Machtgerangel gestolpert zu sein, ganz ohne mein Zutun, und jetzt wurde ich von allen Seiten mit irgendwas gelockt oder um irgendwas gebeten – im Moment hauptsächlich darum, Elisabeth wenigstens in Düsseldorf zu Ende zu spielen. Offenbar winkte mir, wenn ich in Deutschland blieb, eine Verlängerung des Vertrages für den nächsten Spielort München.
Meine Mutter war auch keine grandiose Stütze.
„Ein Engagement in London?“, wiederholte sie fassungslos und ließ fast das Nudelsieb fallen.
Sie wiederholte es auch nicht freudig, eher… entsetzt. Sie stellte die Nudeln einfach ins Spülbecken und setzte sich an den Küchentisch, mir gegenüber.
„Schätzchen, für mich war Berlin schon weit, und jetzt willst du nach London?“
„Mama, ich bin erwachsen. Ich dachte, nur die Kinder hätten ein Problem mit der Abnabelung? – Außerdem weiß ich gar nicht, ob ich will. Ich habe bis Montag Bedenkzeit.“
„Das ist übermorgen.“
Ich vergrub den Kopf in den Händen. „Ich weiß!“, klagte ich. Sie schwieg eine Weile, dann fuhr sie fort, mich zu entmutigen, offenbar ganz unbeabsichtigt.
„Und Love never dies, ich weiß nicht… Als es in London eröffnete, waren die Einspielzahlen nicht sehr hoch, und das Stück ist umstritten. Es ist doch nicht mal sehr beliebt? Eignet sich so etwas überhaupt für eine grandiose Neueröffnung eines Theaters?“ Verdammt. Ich hätte mich bedeckt halten und ihr nicht so viele Informationen angedeihen lassen sollen. Das hatte ich nun davon.
„Was ist, wenn es ein Flop wird? Wenn sie früher schließen? Wenn da irgendetwas in deinem Vertrag ist, das du übersiehst? Dann bist du diese riesige Elisabeth-Rolle los, und die andere vielversprechende mit dazu! – Was sagt denn deine Agentin dazu?“
„Sie meint, ich soll annehmen.“ Ich hob den Kopf wieder. „Ich habe mir über all das Gedanken gemacht, Mama. Wirklich. Viktoria sagt, sie nehmen eine andere Inszenierung als die originale, die aus Australien. Die hat ein spannenderes Bühnenbild. Und die Songs sind nicht schlecht. Alles, was ein wenig… ungereimt… daherkommt, ist die Handlung. Es wird eben mehr Wert auf die Musik gelegt. Und auf die Sänger, insbesondere.“ Ich konnte nicht verhindern, dass ich trotzig klang. „Außerdem ist die Laufzeit des Stückes sehr kurz, geradezu knapp. Das verspricht mehr Zuschauer.“ Weil sich alle davon überzeugen wollten, ob es wirklich so schlecht ist, wie man erzählt, fügte ich in Gedanken hinzu.
Meine Mutter sah mich kurz ausdruckslos an, dann zuckte sie mit den Schultern. „Anouk, ich kann dir da nicht helfen. Ich möchte nur, dass du entscheidest, du für dich. Denn du musst glücklich damit werden.“ Sie hielt kurz inne. „Oh, und natürlich wenigstens ein bisschen Geld verdienen.“

Es war Montagmorgen, ich war mir Viktoria verabredet und nass geschwitzt.
Sie erwartete eine Entscheidung.
Ich konnte einfach keine treffen.
Und natürlich las sie mir das von den Augen ab. Also gingen wir noch einmal alles durch. Frage für Frage.
„Was, wenn sie mich nicht aus Elisabeth lassen?“
„Das werden sie. Dein Vertrag ginge nicht mehr lange, und die Verhandlungen fielen zu unseren Gunsten aus.“
„Aber was, wenn sie mich dann hassen?“
Sie rollte mit den Augen.
„Oder für sprunghaft halten? Vielleicht werde ich nie mehr als Elisabeth genommen! – Oh Gott, vielleicht werde ich nie mehr in Deutschland genommen!“
„Jetzt rede keinen Unsinn! Wer am West End war, ist heiß begehrt, überall. Die werden dich jederzeit mit offenen Armen empfangen.“
„Na gut. – Aber Love never dies, ich weiß nicht… Ist das nicht ein kritisches Stück für eine Neueröffnung?“
„Deshalb ist die Laufzeit ja erst mal auf drei Monate angesetzt“, antwortete sie seufzend. Wir kauten das jetzt schon zum dritten Mal durch. Ich wollte es trotzdem immer wieder hören, aus Angst, etwas wichtiges zu missverstehen. „Dein Vertrag wird bei Erfolg auf jeden Fall verlängert, wenn du es willst. Du hast also die Chance, auszusteigen, egal wie es läuft.“
„Das klingt fast zu gut…“
„Anouk, diese Menschen lieben dich. Sie wollen dich als Christine. Deine Chancen sind glänzend. Ich mache diesen Job schon etwas länger, ich kann gut von… nicht so gut unterscheiden. Ich weiß, dass du Erfolg haben wirst.“
„Okay. – Und der Vertrag?“
„…ist lupenrein. Wenn du meine fachliche Meinung hören willst: mach es. Aber vor allem musst du entscheiden. Du hast nun auch in Deutschland große Chancen.“
Ich lehnte mich zurück und überblickte meine Situation. Wenn ich London ablehnte, hieße das, noch mehr Elisabeth. Ich würde natürlich auch München annehmen, noch bekannter werden. Aber ich würde die ganze Zeit über London nachdenken, dieses schreckliche was-wäre-wenn. Wenn ich London annahm, hatte ich die Elisabeth-Erfahrung aber schon gemacht, und statt einer Wiederholung winkte, im besten Fall, ein neuer Erfolg. Im schlechtesten Falle ein Flop, von dem in Deutschland nur bekannt werden würde: das ist Anouk Steger, die hat mal am West End gespielt. Es hat zwar geflopt, aber sie wurde explizit für das West End gewünscht! – Na ja, oder so ähnlich.
Ich sollte annehmen.
Ich wüsste nicht, was ich nach Elisabeth machen sollte. Ich ahnte schon, dass mir die Rolle ewig nachhängen und mich niederdrücken würde, wenn ich es ganz in Ruhe zu Ende spielte und dann ganz in Ruhe etwas anderes suchen würde. Ich wüsste auch gar nicht, was ich spielen wollte. Ein Abenteuer wie Love never dies würde mich nicht nur ablenken, es würde mir abermals viel Arbeit ersparen. Es würde mich mehr voranbringen. Es würde mir vielleicht auch noch mehr Spaß machen… Ich atmete tief ein.
„Okay“, sagte ich, „ich mach’s!“
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 24.04.2016, 17:13:37

Juhu, ein neuer Teil!
Ich bin gespannt, wie es Anouk mit dieser Entscheidung ergehen wird und hoffe zum einen, dass wir auf den nächsten Teil nicht so lange warten müssen und zum anderen, dass er die Handlung ein bisschen mehr voranbringt ;)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 26.04.2016, 23:29:07

Ah, wieder etwas Neues für sie. Der Logik nach wäre es allerdings Zeit für einen kleineren Flop, oder? ;-)
Aber schön, dass ein neuer Teil kam!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 08.05.2016, 12:44:47

@armandine Aber schöne Ereignisse schreiben sich so viel besser... ;)

Als ich Liam meine endgültige Entscheidung mitteilte, freute er sich. Er freute sich so sehr, dass ich misstrauisch wurde, und schließlich gestand er beschämt: „Endlich kann ich nach London zurück, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Du bist ja dabei!“
Ich stemmte die Hände in die Hüften. „Ach, so ist das! Tja, dann hoffe ich für dich, dass du schnell groß rauskommst. Denn wenn ich berühmt werde, dann werden mir die Männer natürlich in Scharen nachlaufen, und dann… tja.“
Er musste lachen. „Oh je! Aber endlich habe ich eine Ausrede, mein Talent nicht länger zu verstecken. Wer weiß, vielleicht stellt sich dieser Crivello als totale Niete heraus. Wer soll das überhaupt sein? Ich bin sicher, ich bin das bessere Phantom!“
Liam war ein unverbesserlicher Optimist! Mir graute schon vor dem Tag, an dem ich nach London fliegen würde, um das Theater anzusehen und die Herren Direktoren zu treffen, und er redete schon vom großen Ruhm. Was würde ich nur ohne ihn machen? – Und ohne sein Zuhause, das uns – für’s erste – die Wohnungssuche ersparte.

Ein paar der jüngeren Ensemblemitglieder neideten mir meinen Erfolg. Ich bekam zufällig mit, dass sie meine castinglose Übernahme ans West End als nicht ganz koscher empfanden und glaubten, irgendwelche Gelder seien geflossen. Ich sagte mir, dass es noch ganz junge Dinger waren, die gerade am Anfang standen und jedem Überflieger gegenüber misstrauisch waren, aber es machte mich trotzdem wütend, dass sie so etwas denken konnten. Und es machte mich – natürlich – unsicher: wenn sie glaubten, ich hätte mich eingekauft, dann hielten sie mein Talent für zu begrenzt…? Ich schalt mich selber für meine Gedanken: diese Unsicherheiten wollte ich nun doch ein für allemal hinter mir lassen! Um mich abzulenken und mich auf mein bevorstehendes Engagement einzustimmen, kaufte ich die DVD dieses umstrittenes Musicals und sah sie mir an. Ich konnte ein paar Lieder mitsingen, und natürlich die Arie, die ich bis zum Erbrechen an der Schule gelernt hatte und die mir einen großen Erfolg am Tag der offenen Tür beschert hatte. Ich bemerkte, dass es mir Freude machte, die Songs zu singen, auch wenn man nicht leugnen konnte, dass die Handlung ein einziger Schmarren war. Außerdem bemerkte ich, dass sich eine gewisse Wehmut einstellte, wenn ich in mein Kostüm schlüpfte, und dass mir etwas anders wurde, wenn ich die Kreativen neben mir reden hörte: „Hier ist noch eine aufgetaucht, Maria Emmerich, auch noch nicht lange im Geschäft, sauberer Sopran…“, und dann Mappen ausgetauscht und Lebensläufe zukünftiger Elisabeths ausgetauscht wurden. Aber ich hatte meine Wahl getroffen. Edwin und sein Kollege hätten mir vermutlich die Füße geküsst, wenn sie noch im Lande gewesen wären, als sie von meiner Zusage erfuhren. Sie schickten mir sogar einen Brief, keinen virtuellen, sondern einen echten, aus Papier, in dem sie sich bedankten. Sie waren echte Briten, schien es mir. Und während hinter den Elisabeth-Kulissen eifrig nach einer Nachfolgerin gesucht wurde, hatte auch ich alle Hände voll zu tun mit meinen Vorbereitungen.

Zwei Wochen später
Ich landete in Heathrow und wurde sofort in eine neue Welt gespült – eine volle, hektische, schicke, nicht-deutschsprachige Welt, in der ich alsbald leben sollte. Es war heiß, das Wetter räumte sofort mit ersten Klischees auf. Es war laut, heiß, staubig und aufregend. Ich fühlte mich winzig und gestresst. Ich war für dieses Wochenende nach London bestellt worden – es gab Termine zu besprechen, Pressearbeit abzuleisten, Kollegen kennen zu lernen, die Stimmen auszutesten. Ich würde in Deutschland in drei Shows ausfallen und hatte keine Ahnung, was auf mich zukam. Über der Schulter trug ich eine Reisetasche, in der meine Kleider, Blusen und Hosen langsam zerknitterten, und in der Hand einen Reiseführer, von dem ich mich nicht trennen wollte, auch wenn ich damit wie eine gewöhnliche Touristin statt wie ein zukünftiger West End-Star aussah. Mein Flug hatte Verspätung gehabt, und ich dachte gar nicht erst daran, zuerst ins Hotel zu fahren. Ich wies den Taxifahrer an, mich direkt zu Piccadilly zu bringen, von wo aus man laut Liam sofort zu allen West End Theatern gelangte. Während der Fahrt versuchte ich, aus dem Fenster zu sehen, den Flair dieser Stadt einzufangen, aber ich war zu nervös. Lautlos formte ich englische Floskeln mit den Lippen, übte das sanfte Anstupsen mit der Zunge an die Schneidezähne – ich wollte auf gar keinen Fall in einen harten, deutschen Akzent verfallen. Ich wollte ein geschmeidiges, britisches Englisch sprechen, mit kurvigen R’s und weiten A’s.
Der Taxifahrer setzte mich nahe Piccadilly ab, und ich erkannte den Platz sofort: er war voll, leuchtend, exotisch. Ich zwang mich, sofort loszulaufen und mein Theater zu suchen. Ich fand das Swann Theatre beinahe sofort. Es stand an einer Straßenecke und war in eine typische Rokoko-Fassade gekleidet: der weiße Putz würde unterbrochen von rostroten Fensterverzierungen; jedes Fenster schien ein eigenes, kleines Gemälde zu sein, und trotzdem war der Gesamteindruck der eines sehr geordneten Designs. Ich umklammerte den Zettel mit der Adresse und stopfte ihn in meine Jackentasche, ehe ich vorsichtig die riesige, geschnitzte Eingangstüre aufschob und unter der riesigen, edel geschwungenen Leuchtröhren-Aufschrift Swann Theatre ins Innere des Gebäudes trat.
Das Foyer, das sich vor mir ausbreitete, hatte wieder einen völlig anderen Stil als die Fassade; ich hatte passenderweise knallbunte Wände und farbenfrohe Möbel erwartet, aber ich stand auf weinrotem Teppich, der in edlem Kontrast zu den weißen, an Griechenland erinnernde Säulen stand, die die niedrige Decke trugen. Neben mir erhob sich unauffällig, aber mahnend das unbesetzte Kassenhäuschen. Ich ging langsam weiter. Schlanke Stehtische, allesamt eingehüllt in weiße Tischdecken und besetzt mit je einer roten Rose, einer Kerze und einer Getränkekarte, waren locker im Foyer drapiert und nahe einer Bar, deren Hintergrund ein deckenhohes und sehr breites Weinregal bildete. Ich war sofort beeindruckt, auch von dem kleineren, edleren Foyer, das den Logenplätzen vorbehalten war – sozusagen der ersten Klasse der Theaterbesucher: gedämpfteres Licht, ein blank polierter Flügel, schlanke Ledercouch. Ich betrat durch einen mit Samtvorhängen in Szene gesetzten Türbogen den Theatersaal. Er war gewaltig und wieder ganz im Rokoko-Stil; es war, als beträte man eine andere Welt: raus aus der gediegenen Moderne, rein in die fremde Theaterfantasiewelt. Gewaltige Reihen roter Sessel, auf die man von den Logenboxen aus blicken konnte, erstreckten sich wie ein rotes, wogendes Meer vor mir. Allerdings waren sie staubbedeckt, der Boden war nur zur Hälfte mit traubenfarbenem Teppich ausgelegt und schimmerte ansonsten nackt und kahl, und Baugerüste umstanden die Logen und die Hälfte der Bühne wie riesige Spinnennetze. Zur Zeit war niemand im Saal. Ich verließ ihn wieder und kehrte unschlüssig ins kleine Foyer und fand nirgends einen Wegweiser, also ging ich den ganzen Weg auch wieder zurück in die Eingangshalle bis zum Kassenhäuschen. Nach ein paar Minuten, in denen ich mich langsam zu ärgern begann, kam eine Dame in Bleistiftrock an mir vorbei.
„Excuse me“, rief ich ihr nach, und sie drehte sich um. „Ähm… wo finde ich denn die Büroräume?“, fragte ich auf Englisch. Und als sie mich prüfend ansah, fügte ich schnell hinzu: „Ich bin Anouk Steger.“
„Ah!“ Sie lächelte plötzlich und kam wieder auf mich zu. „Dann folgen Sie mir doch bitte.“ Sie führte mich durch eine Seitentüre in einen kahlen Gang. Auch hier rieselte noch der Putz von der Decke.
„Wir sind noch mitten in den letzten Umbauarbeiten, bald werden die Kulissen hergeschafft. Es ist alles etwas chaotisch.“ Sie sprach so schnell und schwammig, dass ich Probleme hatte, ihr zu folgen. Um ehrlich zu sein, baute ich den Gesamtsinn des Satzes um die hervorstechendsten Vokabeln – Bauarbeiten, Kulissen, bald, chaotisch. Ich nickte, lächelte, sagte Aha und revidierte mein Selbstbild: ich hatte mich immer für rech gut in Englisch gehalten. Offenbar gab es einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Englisch der 10ten Klasse und dem tatsächlich Gesprochenen. Andererseits hatte ich Charles und Edwin viel besser verstehen können, vielleicht sprach diese Frau hier ja irgendeinen Akzent? Ich würde noch viel lernen müssen!
Edwin saß in einem halb ausgegorenen Büro, das Telefon am Ohr, die Füße mit Schuhen auf der Tischkante. Er setzte sich ordentlich hin, als wir eintraten, aber ich konnte mir das Lachen kaum verkneifen. Er beendete sein Telefonat rasch und stand auf, um mich zu begrüßen.
„Anouk, wie froh ich bin, dass Sie zu uns gefunden haben!“ Er schüttelte herzlich meine Hände.
„Danke“, erwiderte ich, weil mir nichts besseres einfiel. Im Folgenden führte Edwin mich durch das Theater; er sprach nicht so schnell wie die Lady von vorhin, und irgendwann traute ich mich, ihm Fragen zu stellen: wie lange es bis zur Fertigstellung dauern würde, ob ich die anderen Darsteller treffen könnte, wie man vom Hotel am besten herkam, ob ich die Akustik testen dürfe. Besonders auf die letzte Frage ging er ein. Wir begaben uns wieder in den düsteren Theatersaal, wo sich inzwischen ein paar Handwerker eingefunden haben. Edwin setzte sich an den Flügel, der auf der Bühne stand, und ich bat um die Arie, die ich immer noch in- und auswendig konnte. Ich sang sie einmal ohne Unterbrechung, und die Handwerker stellten ihr Klopfen und Hämmern ein und hörten zu und klatschten, als ich endete, und Edwin freute sich wie ein Schneekönig und verbeugte sich mit mir vor unseren Gästen.
„Also, Anouk“, sagte er, „dann ist es also wirklich wahr: sie spielen unsere Christine.“
„Ja, so ist es wohl ab jetzt“, antwortete ich, und zum ersten Mal fühlte ich mich meiner Sache sehr sicher.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 08.05.2016, 13:18:24

Ein toller neuer Teil. Ich bin gespannt, wie es ihr in London ergehen wird und ob Liam auch irgendwann nach Hause kommt. Aber warum ist Anouk jetzt im Hotel, wenn du erst geschrieben hattest, dass Liam ja dort heimisch ist und sie da wohnen kann??
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon armandine » 10.05.2016, 07:36:17

Gefällt mir auch sehr gut. Es wird interessant sein zu sehen, wie Anouk in London zurechtkommt. Aber wenn noch gebaut wird, hätten sie doch bestimmt irgendwo eine Probebühne angemietet?

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 16.05.2016, 15:00:47

@Gaefa Ein typischer "ich schreib mal schnell diesen Teil zu Ende-Fehler"... Ich erkläre mir das jetzt mal so, dass sie ihnen für den kurzen Aufenthalt nicht zur Last fallen wollte... :whistle: Danke für den Hinweis, werde nun versuchen, aufmerksamer zu schreiben & lesen!

Ich bekam an diesem Wochenende weniger von der Stadt zu sehen, als ich mir vorgenommen hatte. Nach der Besichtigung des neuen Theaters am Vortag hatten wir uns sofort wieder ins halbfertige Büro begeben, wo mir die grob ausgearbeiteten Probenpläne sowie der Weg zur Probebühne erklärt wurde. Charles’ Sekretärin gab mir einige wertvolle Tipps, was das Reisen in London anging – dass ich meine Bustickets nicht im Bus, sondern in den meisten Kiosks kaufen konnte, solange ich keine Dauerkarte wollte, dass man in der Subway bei großer Hitze am hinteren Ende des Waggons stehen sollte, wo ein angenehmer Luftstrom herrschte, dass die Busse immer, immer pünktlich waren und dass sich die Engländer beim Betreten von Bussen stets anstellten, nie drängelten. Einiges wusste ich, einiges war mir neu, und als sie mir verschiedene Subway Verbindungen aufschrieb, bekam ich zunächst eine Heidenangst, ich könnte mich verfahren. Ich bemerkte allerdings, dass das Fahren nicht halb so schlimm war, wie ich dachte. Das Netz war gut ausgebaut, und zu Fuß war vieles schneller zu erreichen, als man denken könnte. Am Samstagnachmittag erreichte ich die Probebühne und lernte erste Kollegen kennen, die allesamt sehr nett und gelenkig waren, was mich vor Neid beinahe erblassen ließ, am Sonntagmorgen hatten wir einen Termin beim Fotografen, um erste Castfotos zu schießen, die auf der Website des Musicals veröffentlicht würden. Ich war froh darüber, denn das Foto, dass ich immer wieder verwendete, war nun schon etwas veraltet. Anschließend würden wir kurze Interviews geben. An diesem Sonntag traf ich auch zum ersten Mal Adam Crivello, der frisch vom Broadway kam und offenbar noch unter dem Jetlag litt. Er war nicht sehr groß, was mir sofort gefiel, denn ich fand, dass große Männer immer eine Stärke und Anziehungskraft besaßen, die das Phantom so nicht besitzen konnte. Das Phantom war missgebildet, eigentlich recht psychopathisch, und Crivellos Untersetztheit würde der Rolle eine gute Authentizität verleihen. Er hatte dunkles Haar und ein schmales, langes Gesicht, das sehr italienisch anmutete, und er begrüßte mich herzlich und in schnellem, schnörkellosen Amerikanisch, was mich vor neue Herausforderungen stellte, hatte ich mich doch gerade an die Briten gewöhnt…
„Wie schön, dich zu treffen“, sagte er, „ich habe einiges von dir gehört“, was ich zwar bezweifelte, aber trotzdem dankbar annahm und erwiderte. Ich erkundigte mich nach seinem Engagement am Broadway, und wie er sich hatte durchringen können, von einem solchen Standort nach London zu wechseln. Er lachte.
„Du überschätzt wohl den Broadway“, sagte er. „Klar ist es irre, wenn man dort spielen darf, als Musicalsänger hat man ja dann quasi alles erreicht. Aber ich finde die Atmosphäre in London bei Weitem besser. New York ist modern, aber London ist so künstlerisch.“
Ich wusste nicht, ob ich seine Meinung teilte; aber wenn man schon jahrelang am Broadway von einem Kassenschlager zum nächsten hüpfte, war man wahrscheinlich irgendwann von nichts mehr beeindruckt. Auch verstand ich noch nicht ganz, was London neben dem vollen, vielfältigen New York mit seinen ganzen Leuchtschildern und Theatern künstlerischer machen sollte, aber wahrscheinlich hatte ich, um mir ein eigenes Urteil darüber zu machen, noch viel zu wenig von London gesehen.
Mir blieb nicht viel Zeit, um mit meinen Kollegen zu reden; nach den kleinen Presseterminen musste ich mich schon wieder auf den Rückflug vorbereiten. Ich kehrte zurück zum Flughafen, brachte den Lärm und die Größe Heathrows hinter mich und den kurzen Flug. Liam holte mich am Düsseldorfer Flughafen ab. Er hatte sein Engagement in Bielefeld aufgegeben, und seine letzten Shows standen kurz bevor. Ich war müde und erschöpft und fühlte mich unwohl, obwohl ich nur kurz geflogen war. Liam nahm mir mein Handgepäck ab.
„Wie hat dir die Stadt gefallen?“, wollte er wissen, während wir mit einer Flut weiterer Passagiere auf das Kofferband zusteuerten.
„Ich habe kaum etwas gesehen“, antwortete ich und versuchte, nicht allzu müde zu klingen. „Ich habe das Theater und die Proben besucht, und heute haben wir Fotos für’s Netz gemacht.“
„Hast du deine Kollegen getroffen?“
„Ein paar, ja. Mit Crivello konnte ich kurz reden, aber alles war noch recht distanziert.“ Ich sah den Koffern nach, die nicht meine waren, und ärgerte mich jedes Mal, wenn mein pinker Gepäckanhänger wieder nicht dabei war.
„Warum dauert denn das so lang?“, nörgelte ich und trat unruhig von einem Fuß auf den nächsten. Liam warf mir einen Seitenblick zu.
„War irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte er. Meine schlechte Laune war ihm nicht entgangen.
„Doch, alles okay“, murmelte ich. „Ich… bin nur müde.“ Endlich entdeckte ich meinen Koffer und zerrte ihn vom Band. Liam legte mir den Arm um die Mitte. „Dann sollten wir recht schnell nach Hause!“, sagte er und verließ mit mir den Flughafen.
Im Auto drehte ich den Kopf zum Fenster und schloss die Augen. Liam fuhr schweigend, es war still, und ich gab vor zu schlafen, während die Gedanken durch meinen Kopf rasten. Einer davon tauchte immer wieder auf, ein leuchtendes, rotierendes Warnschild mit der Aufschrift: Was habe ich nur getan?
Ich hatte in London keine Zeitgehabt, mich um mich zu kümmern, und negative Gedanken einfach abgeblockt, aber nun bemächtigten sich Nervosität und Zweifel meiner. Trotzdem ich lange und intensiv über das Engagement mit all seinen Stärken und Schwächen nachgedacht hatte, kam mir meine Zusage gedankenlos vor. Ich rief mir Viktorias Worte ins Gedächtnis: dass der Vertrag einwandfrei und das Engagement sehr sicher sei, auch bei Misserfolg. Aber schon kamen die nächsten Sorgen: würde ich mich in London einleben können, würde ich den englischen Markt durchblicken, würde es Unterschiede zu deutschen Musicalunternehmen geben? Ich fühlte mich unvorbereitet und unsicher, und obwohl ich doch hier in Düsseldorf, in Liams Auto, saß, kam ein Gefühl wie Heimweh auf. Liam, dachte ich, Liam wird doch bei dir sein, und seine Eltern, du bist nicht allein, alle werden dir helfen… Und wenn das Engagement nicht gut läuft, dann zieht ihr einfach wieder nach Deutschland. Ich öffnete die Augen abrupt und sah Liam an. Sein Gesicht war der Fahrbahn zugewandt, aber als er meinen Blick bemerkte, drehte er den Kopf zu mir und lächelte.
„Wir sind gleich da“, sagte er.
„Freust du dich auf London?“, fragte ich, und sein Lächeln wurde noch größer.
„Sehr“, sagte er. „Besonders, da du jetzt mitkommst.“ Er sah wieder auf die Fahrbahn, dann zurück zu mir. „Und da ist noch etwas, was mich sehr freut. Ich wollte es dir eigentlich zu Hause sagen, aber…“ Er hielt vor einer roten Ampel und nahm meine Hand.
„Meine Agentin war sehr fleißig“, sagte er. „Sie hat mir Hunderte von Angeboten und Auditions vorgelegt. Letztere werde ich natürlich besuchen, wenn wir in London sind, aber heute kam die Zusage für einen festen Job, um den ich mich beworben habe.“
Ich war verwirrt. „Einen… Job? Ich verstehe nicht – ohne Audition?“
„Es ist kein Engagement“, erklärte er. „Ich werde Kurse an der London School of Musical Theatre geben. Das gibt mir genug Zeit, nebenbei Auditions zu besuchen, und ich kann Kontakte knüpfen, die uns später von Vorteil sein könnten. Was sagst du dazu?“
Ich lächelte ihn an. „Das ist toll! Ich wusste ja gar nicht, dass du unterrichten möchtest!“
„Ich auch nicht!“, erwiderte er lachend. Die Ampel sprang wieder auf Grün, er fuhr weiter. „Du hast mich darauf gebracht. Als ich die Ausschreibung las, musste ich daran denken, wie viel Spaß es dir macht, zu unterrichten, und was es dir schon gebracht hat. Der Verdienst ist gut, und deiner ist es auch. Wenn wir sparen, können wir uns schneller eine eigene Wohnung leisten!“
„Das… das ist ja toll!“, erwiderte ich. Mir schwirrte der Kopf.Eine eigene Wohnung?! Ich sah hinaus auf die vorbeirasenden, verwischten Farben der Reklameschilder. Und wenn das Engagement nicht gut läuft, dann zieht ihr einfach wieder nach Deutschland… - Wir? Ich warf verstohlen einen Blick auf Liam. Ich war mir meiner Gedanken plötzlich nicht mehr so sicher. Offenbar hatte ich Liam unterschätzt, was seine Sehnsucht nach der Heimat anging – und seine enorme Motivation. Mir wurde ein wenig unwohl. Offenbar stand nun wohl mir eine längere Trennung der Heimat bevor…
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben


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