(Ich komme mit der TdV-FF nicht wirklich weiter, ich merke dass es mir wirklich schwer fällt, nach Vorlagen zu schreiben... Hoffe, diese Geschichte kommt an, Fortsetzungen folgen stückweise, ich habe schon einige unstrukturierte Ideen. Falls jemand liest und Wünsche/Vorschläge hat, was mit Anouk passieren soll - nur zu, ich bin sehr dankbar für "Fremde" Einfälle

_________________________________________________________________________________________________________
Ich starrte auf die Blätter und versuchte verzweifelt zu verstehen, was die Noten mir sagen wollten. Aber was für andere wie Musik klang, war für mich einfach nur eines: schwarze Tinte auf Papier. Wie kleine Käfer wuselten die Noten durch die Zeilen, und obwohl ich sie sah, verstand ich sie nicht. Wütend zerknüllte ich das Papier und schleuderte es in den Papierkorb. Es war zum Verzweifeln. Wie viele Internetseiten und Onlineklaviere hatte ich schon durchgekaut, ohne Erfolg zu haben? „Wir sind die unmusikalischste Familie Deutschlands“, sagte meine Mutter immer. „Und ich bin so froh, dass ich euch nie auf eine Musikschule geschickt habe. All das Üben und Geklimper… Und von Noten verstehe ich sowieso nichts.“
Ich malte einen langen, schwarzen Strich auf die Schreibtischunterlage. Ich redete mir gern ein, dass es ihre Schuld war. Dass mir die Noten ihretwegen vorkamen wie Buchstaben einem Analphabeten. Und dass ihr Verhalten ausschlaggebend dafür war, dass ich meine größte Leidenschaft seit nunmehr zwei Jahren ganz für mich allein behielt.
Natürlich hatten es schon einige bemerkt, meine Schwester, meine Nachbarn (na ja, unfreiwillig). Sogar meiner Mutter konnte es gar nicht entgehen, dass ich gerne sang. Schließlich tat ich den lieben langen Tag kaum etwas anderes.
Aber ich wollte mehr. Ich wollte Gesangsunterricht haben, ich wollte Theater spielen, ich wollte tanzen… Anfangs hatte ich versucht, mir diese Wünsche auszureden. Wie viele junge Menschen bewarben sich jährlich an renommierten Schulen – und wie viele wurden genommen? Ich hatte nicht die geringste Chance.
Einmal hatte ich eine Probestunde Gesangsunterricht nehmen können. Und hätten wir Geld, hätte ich sofort damit weitergemacht.
Aber so… Du musst sie fragen, sagte ich mir. Diese Geheimnistuerei muss ein Ende haben! Diese verdammte Ausbildung zur Krankenpflegerin war längst nicht mehr das, was ich wollte. Und meine Noten sagten das nur zu deutlich!
Im Flur hörte ich das Klirren des Schlüssels im Schloss. Kurz darauf das Rascheln und Klirren von vollen Einkaufstüten. Mein Herz machte einen Salto und schlug doppelt so schnell, wie noch gesund war. Jetzt!, dachte ich. Mit weichen Knien stand ich auf und öffnete die Türe. Meine Mutter stand mit dem Rücken zu mir und schälte sich aus ihrer Jacke. Auf dem Kragen schmolzen winzige Schneekristalle.
„Hallo“, sagte ich.
„Hallo“, erwiderte sie steif. Kein guter Tag. Ich half ihr, die Einkäufe in die Küche zu bringen und auszuräumen.
„Ich muss dir etwas sagen“, begann ich. Sie drehte sich um und sah mich an. Rote Augen. Sie hatte geweint. Meine Fragen verflüchtigten sich in den hintersten Winkel meines Gehirns.
„Ist etwas passiert?“ Ich hörte, wie meine Stimme zitterte. (Mama schlug mir einmal vor, ich solle zum Radio gehen. Sie sagte, ich habe eine schöne Stimme…)
„Nichts wichtiges.“ Ihr Ton strafte sie Lügen. Ich nahm ihr die Konservendosen aus der Hand, mit denen sie spielte.
„Was ist passiert?“, wiederholte ich. Sie ließ sich auf den Küchenstuhl sinken und kämpfte mit den Tränen. „Ich bin gefeuert“, sagte sie kläglich.
„Scheiße“, murmelte ich. Sie schniefte leise und nahm meine Hände. „Mach dir keine Gedanken, Anouk. Die Zeitung ist voll von Annoncen. Ich werde in Null Koma Nichts etwas neues finden.“ Sie bemühte sich wirklich, die Sache klein zu reden. Ich war wie erstarrt. „Also? Was wolltest du mir sagen?“
Ich starrte sie kurz sprachlos an. Ja, was? Dann fiel es mir wieder ein. Mir wurde heiß.
„Nichts“, sagte ich. „Hab’s schon wieder vergessen.“
Sie lächelte. „Dann kann’s nicht so wichtig gewesen sein.“
Ich rang mir ein Grinsen ab. „Stimmt.“
***
Etwa zwei Wochen später trat ich erneut eine Probestunde Gesangsunterricht an. In meinem Dilemma hatte ich Höhen und Tiefen, und während ich in den Tiefen heimlich heulte und Flyer von angesehenen Schulen zerriss, gab ich mich in meinen Höhen Tagträumen hin und informierte mich über Kosten verschiedener Unterrichtsangebote.
Die städtische Musikschule hatte Werbung in unserem Briefkasten hinterlassen. Ich steckte ihn ein, als ich die Post holte, und machte einen Termin aus. Meiner Mutter erzählte ich, ich müsse für eine Projektarbeit länger in der Schule bleiben.
Ich war sehr aufgeregt. Ich trug meinen besten Pullover, meinem abwegigen Zwang nachgehend, selbst bei der kleinsten Kleinigkeit gut auszusehen. Auf dem Weg zur Musikschule hörte ich ein Dutzend Mal die beiden Lieder, die ich vorbereitet hatte, und als ich die Frau am Tresen sah und ihr mitteilte, ich habe einen Termin, hatte ich ein unangenehmes Engegefühl in der Kehle.
„Herr Bertelin erwartet Sie in Raum A3. Hier links den Gang runter, zweite Tür rechts.“
Es gefiel mir nicht, wie sie „Herr Bertelin“ sagte. Manche französische Namen verdienen es, auch in Deutschland mit Monsieur angesprochen zu werden, und dieser war so einer. Ich folgte ihrer Wegbeschreibung und fand die Tür zu Raum A3 offen. Schüchtern trat ich ein. Es war ein leerer, großer Raum. Grauer Teppichboden, weiße Wände. In der Mitte stand ein abgewetztes Klavier, und dieser Bertelin saß dahinter und bemerkte mich nicht. Ich stand ein paar Sekunden schweigend da, zu aufgeregt, um irgend etwas zu sagen. Schließlich holte ich tief Luft. „Hallo?“, sagte ich kläglich. Er sah auf.
Ich werde sein Gesicht wohl nie vergessen können. Hätte mir damals jemand gesagt, dass dieser Mann meinen Weg für mich ebnen, mein Leben in Ordnung bringen und meine kühnsten Wünsche erfüllen würde – ich hätte ihm nicht geglaubt.
Aber als Bertelin – wie ich ihn später immer nennen würde – mich ansah und lächelte, wusste ich es noch nicht. Er war vielleicht fünfzig, hatte schwarzgraues Haar und trug einen dunklen Pullover. Sein Gesicht war freundlich und auf eine seltsame Art gütig.
„Hallo, Anouk. Ich bin Claus Bertelin.“
„Ich weiß.“ Claus. Ich hätte gedacht, er hieße Auguste oder irgend einer von diesen altmodischen, edlen Herrennamen. Das hätte besser gepasst als das alberne Claus.
„Wärst du so freundlich, die Türe zu schließen“, sagte er. „Und deine Sachen kannst du hier ablegen.“ Er zog einen Stuhl vor das Klavier, auf dem eine Menge Papierkram lag, den er mit einer ungeduldigen Handbewegung auf den Boden wischte. Ich starrte kurz verdutzt auf das Chaos, dann legte ich meine Jacke und Tasche auf den Stuhl und blieb unschlüssig stehen.
„Und dann kannst du dich dort vor das Klavier stellen… Genau.“ Er sah mich gespannt an. „Was führt dich zu mir?“
„Hm. Ich möchte singen“, sagte ich. In diesem Augenblick kam ich mir ziemlich dämlich vor. Erst später sollte ich erfahren, dass ich Bertelin an jenem Tag sehr gerührt hatte.
„So, tatsächlich.“
„Ja.“ Ich fand, dass er zu belustigt klang, und wollte mich und meinen Wunsch verteidigen. „Ich singe sehr gerne“, sagte ich, mit dem Mut der Verzweifelten, „aber ich habe kein Geld, um mir Stunden leisten zu können. Ich bin nur hier, weil ich wissen will, ob ich weitermachen soll. Ich will Ihre Meinung hören.“
Er stützte das Gesicht in die Hände. „Sing mir etwas vor“, sagte er. Ich wurde wieder nervös.
„Und was?“
„Irgendwas. Was dir am besten gefällt.“
„Okay.“ Ich starrte vor mir auf den Boden. Ich versuchte, mich an alle Tipps zu erinnern, die ich je gelesen hatte. Ich schob die Zweifel beiseite. Das Nur für mich ging mir ganz flüssig über die Lippen, ganz ohne Stolperer. Ich sang es ganz durch, ohne einmal zu stocken, und meine Stimme verriet nichts von dem Durcheinander in meinem Innern. Es war wie ein Rausch, aus dem man nie wieder erwachen wollte.
Als ich geendet hatte, brach die Realität über mich herein. Ich war wieder unsicher und schüchtern und wollte mich irgendwo verkriechen. Ich hab’s versaut, dachte ich panisch, ich habe mich lächerlich gemacht. Bertelin sah mich an, mit nachdenklich geschürzten Lippen, und sagte nichts.