Hier der nächste Teil

„Hör mal, Anouk“, fing Emmanuel mich nach einer Probe ab. „Am Samstag wird eine Fotografin kommen. Wir haben uns entschieden, ein aktuelles Programmheft herauszubringen.“
„Echt? Das… ist ja klasse!“, sagte ich begeistert. Ich konnte mein Glück kaum fassen – sie wollten mich nicht nur als Sarah, sondern auch auf unzähligen Fotos im Programmheft?
„Wenn du mir jetzt noch sagst, dass wir eine CD aufnehmen, werde ich dich küssen!“, lachte ich.
„Vielleicht lieber mich, ich bin doch der Graf“, meldete sich Alexej zu Wort, der unbemerkt hinter mir aufgetaucht war. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und verfluchte mich mal wieder für meine vorlaute Zunge.
„Vielleicht sollte ich mir das auch lieber für Liam aufheben“, lenkte ich ein.
„Es wird jedenfalls keine Aufnahme geben“, beendete Emmanuel dieses verwirrende Gespräch. „Es gibt immerhin schon zwei deutschsprachige CDs.“
„Na ja, man kann nicht alles haben.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Also, wann soll ich am Samstag hier sein?“
„Die Fotografin wird um dreizehn Uhr ankommen, am besten ihr seit um spätestens elf hier, damit wir euch ein bisschen zurechtmachen können.“
Ich nickte und verabschiedete mich. Und freute mich auf Samstag.
Aber offensichtlich verkehrte sich in letzter Zeit alles, was ich als positiv empfand, ins Gegenteil. Während der Proben versuchte ich, Alexej auf Distanz zu halten, ohne ihn auszugrenzen, was eine ziemliche Herausforderung war. Eigentlich wusste ich selbst nicht genau, warum, aber ich hatte das Gefühl, dass er gefährlich werden könnte. Ich hatte Angst ihm nahe zu kommen, weil ich mich seltsam unsicher fühlte. Dabei konnte man ganz ungezwungen mit ihm sprechen; er war sogar ganz witzig, und wir profitierten alle von seiner Muttersprache und lernten ein paar Lieder ansatzweise auf Russisch kennen.
Trotz meiner verwirrten Gefühle freute ich mich auf die Fotos, und in der Maske fühlte ich mich mal wieder entspannt und glücklich. Laut einer Liste auf dem Schwarzen Brett würden wir szenenweise fotografiert werden, und es dauerte seine Zeit, ehe ich das erste Mal auf der Bühne, besser gesagt auf dem Bett saß. Wir spielten einmal die Szene durch, ehe die Fotografin diverse Stellen wiederholt sehen wollte. So zogen sich die meisten Lieder endlos hin.
„Okay, Alexej, könnten Sie sich noch einmal vorbeugen?“, rief die Fotografin, als wir bei
Einladung zum Ball angelangt waren. „Ja, genau so! Und singen… singen…“
Über mir stand Alexej, sang seinen letzten Ton, und weil er mich die ganze Zeit anstarrte fragte ich mich, ob wir nicht für meine Rückansichten ein Double einsetzen könnten.
„Du weichst mir aus“, raunte er mir zu, bevor er einatmete und weitersang.
„Was?“, fragte ich, aber er hob nur vielsagend eine Braue.
„Bitte behalten Sie die Kontrolle über Ihre Mimik!“
„Ich weiche dir gar nicht aus!“
„Doch. Schon die ganze Woche über.“
„Bitte nicht reden, wir sind gleich fertig damit.“
„Ich…“ Ich sah böse zu ihm hoch. Musste er mich in dieser hilflosen Situation stellen? Das war gemein!
„Sehr gut, nur noch zwei Schüsse… einer…“
Alexej strich mir mit der Hand sacht übers Gesicht.
„Sehr gut, danke!“
Er richtete sich ruckartig wieder auf und sprang behände von der Badewanne. Finster wickelte ich mir das Handtuch um und stieg hinterher.
Erst bei
Tot zu sein ist komisch stellte ich mich demonstrativ neben ihn.
„Bist du jetzt zufrieden?“, fragte ich leise und verschränkte die Arme vor der Brust. Er lachte leise, sagte aber sonst nichts.
„Weißt du eigentlich, wie dumm sich das anhört?“, fuhr ich also fort. „Du behauptest einfach während des Shootings, ich würde dich meiden! Wie soll ich mich da konzentrieren?“
„Du warst ja gar nicht zu sehen!“
„Ach… egal!“ Ich wischte ärgerlich mit der Hand durch die Luft. „Mich von dir fernhalten. Pfft. Warum auch? Ich… Nein, ich halte mich nicht von dir fern, ich weiche dir nicht mal aus.“
„Ist ja gut“, wehrte er belustigt ab. „Es ist nur seltsam, dass du dich so krampfhaft rechtfertigst. – Wer ist übrigens Liam?“
Damit nahm er mir den Wind aus den Segeln – ob beabsichtigt oder nicht, konnte ich nicht sagen. „Liam?“, wiederholte ich deswegen verdattert.
„Ja. Der Mann, den du statt Emmanuel küssen wolltest.“
„Ich weiß schon, wen du meinst! – Er ist mein Freund“, erwiderte ich kühl.
„Aha“, antwortete er. Ich beobachtete grimmig das Geschehen auf der Bühne, und als ich mich zu ihm umdrehte, war Alexej in ein Gespräch mit Emmanuel vertieft. Seine Fragerei verwirrte mich. Was sollte das bezwecken? Wollte er die Lage abchecken, hatte er womöglich versucht, mit mir zu flirten? Und warum verunsicherte er mich absichtlich? Ich verstand gar nichts mehr! Und er hatte ja recht – ich hatte mich tatsächlich gerechtfertigt.
Erst, als wir
Totale Finsternis probten, konnte ich ihm Kontra geben.
„Weißt du, es gibt Leute, die wollen ihre Arbeit machen!“, sagte ich bissig, „und zwar so, wie sie ihm Drehbuch steht“, und damit wischte ich sine Finger unwirsch von meinem Gesicht.
„Keine Berührungsängste, Anouk!“, rief Emmanuel von außen. „Das Drehbuch ist nicht das Gesetz!“
Ich hätte heulen können!
Alexej konnte sich nur schwer ein Lachen verkneifen.
„Kann es sein, dass du dich nicht nur gerne rechtfertigst, sondern auch gegen dich selbst wehrst?“
Ich beschloss, einfach stumm zu bleiben. Denn sonst hätte ich womöglich so etwas gesagt, wie: „Na klar muss ich mich gegen meine Gefühle wehren, denn ich habe schon einen Freund, auch wenn der sich grade nicht um mich kümmert, und ich will nicht Gefahr laufen, ihn zu betrügen.“ (Mir brannte wirklich einiges auf der Seele!)
„Ich jedenfalls werde mich nicht rechtfertigen“, flüsterte er, als er zum Biss ansetzte und dann doch zurückwich. „Und mich wehren schon gar nicht.“
Hohes Gericht: ich saß mit Sarah in meiner Garderobe, der kleine Beistelltisch war vollgestellt mit Tee und Kuchen. Sie sah mich gespannt an.
„Also, um das Ganze noch mal knapp zusammenzufassen“, antwortete sie auf meine vorausgegangene Rede, „du findest ihn anziehend?“
„Hm… Möglicherweise?“
Sie hob eine Braue, und ich sank in mir zusammen.
„Ja, es stimmt“, antwortete ich und vergrub den Kopf in den Händen. „Aber was ist mit Liam?“
„Na ja, ich finde auch eine Menge Männer anziehend, obwohl ich in festen Händen bin. Du solltest mal unseren Romeo sehen, o la la.“ Sie räusperte sich. „Damit will ich sagen: so etwas muss keine Gefahr für eine Beziehung sein.“ Sie schwieg eine Weile. „Oder, Anouk?“, hakte sie unsicher nach. Ich schüttelte den Kopf ohne sie anzusehen.
„Ich weiß es nicht!“, nuschelte ich in meine Finger, „ich weiß es nicht!“
„Nun ja, er scheint ja schon etwas vergleichbares zu fühlen“, sinnierte sie mehr für sich selbst, „immerhin waren seine Andeutungen eindeutig. Nicht wehren, nicht rechtfertigen… Das ist irgendwie, tja, wie soll ich sagen?“ Sie nahm das Foto von mir und Alexej, das für die Presse gemacht wurde und uns während Totale Finsternis zeigte, und schürzte die Lippen.
„Nicht schlecht“, sagte sie, aber ich fragte nicht weiter nach, worauf sich diese Bewertung bezog. Stattdessen beendeten wir unsere gemütliche Runde, und ich gab ihr eine exklusive Backstage-Führung, die ja schon längst überfällig war.
„Also, hier oben zu stehen, ist wirklich cool!“, sagte Sarah, als wir gemeinsam auf der Treppe standen. „Und in welchem Bilderrahmen stehst du immer?“
„Da unten rechts“, antwortete ich und deutete auf das leere Bild.
„Wahnsinn.“ Sarah freute sich wie ein Kind an Weihnachten, den falschen Knoblauch, Perücken und Kostüme zu betrachten, befühlen und auszuprobieren.
„Die Badewanne sieht ja auch interessant aus!“, lachte sie, als sie einen Blick hineinwarf.
„Na ja, ich muss ja auch Platz drin haben, um mich verkriechen zu können!“, entgegnete ich.
„Warte!“ Sie kletterte hinein und setzte mich. „Stell dich mal über mich, ich will nur einmal wissen, wie sich das ungefähr anfühlt!“
Ich kam ihrem Wunsch nach und wir alberten ein bisschen herum, ehe wir Schritte hörten und uns rasch wieder auf die Bühne stellten. Es war Alexej.
„Oh, hallo Anouk“, grüßte er. „Ich suche meine Zähne.“
Sarah begann zu lachen. Alexej sah sie fragend an.
„Das ist Sarah“, stellte ich vor, „meine beste Freundin.“
„Ah, verstehe.“ Er lächelte leicht und gezwungen, und erst jetzt fiel mir auf, dass er ziemlich gereizt aussah.
„Äh – deine Zähne hab ich nirgendwo gesehen“, antwortete ich also, und sobald Alexej außer Sicht- und hoffentlich auch Hörweite war, seufzte Sarah auf.
„Jetzt verstehe ich, warum
Tanz der Vampire erotisch sein soll!“
„Sarah!“, zischte ich, und sie sah mich mitleidig an.
„Also, du bist dir nicht sicher, ob er eine Gefahr für eure Beziehung sein könnte?“ Sie schürzte die Lippen. „Wenn ich ihn so sehe, würde ich sagen, du bewegst dich da auf sehr dünnem Eis!“
„Ich weiß!“, erwiderte ich leidend. Sie legte den Arm um meine Schulter.
„Abwarten. Ich habe jedenfalls schon Karten für die Premiere und bin sehr gespannt, was da so alles passieren wird!“