

Und hier, zum Schuljahresende, noch mal ein langer Teil.
Sie trugen den Sarg tatsächlich zu Feld der Ehre fort. Ich stand an der Türe, ein ungeladener, heimlicher Gast bei der Trauerfeier. Aber ich sah nicht zu, wie er beerdigt wurde. Ich wollte nicht den lebenslustigen, freiheitsliebenden Jamie eingesperrt in einen Kasten sehen, unter schmutziger Erde begraben.
Auch die Schule gab eine Trauerfeier für ihn. Geladen waren auch seine Eltern, aber nur seine Schwester kam. Unsere Stufe, ein paar Freunde, Lehrer.
Nach seinem Tod hatten seine Eltern mir eine CD zukommen lassen – Awakening von Sierra Boggess. Hör sie dir an, stand auf dem Cover, für mein Awakening. Ich tat es. Ich hörte die CD, und ein paar Tage später kam Mrs. Paige zu mir und bat mich, auf der Gedenkfeier für ihn zu singen, „weil er es so wünscht. Er schrieb alles genau auf.“ Ich hatte eigentlich die Bitte an sie stellen wollen, das Lied mit mir einzuüben, und so nickte ich einfach.
„Es ist noch nie passiert, dass einer meiner Schüler stirbt“, sagte Mrs. Paige bei der Feier. „Ich wusste nicht, dass es mich so hart treffen würde. Jamie war so lebensbejahend, so voller Träume und Hoffnungen – und so wollen wir ihn in unseren Herzen behalten.“ Sie war völlig fertig. Ein paar Jungs sagten und sangen etwas. Zum Schluss sang ich, Smoke gets in your eyes und You’ll never know, genau wie auf der CD. Ich wusste, das würde ihm gefallen. Ich musste weinen, und stellte mir vor, was Jamie sagen würde: "Du versaust das ganze Lied, Anouk! Wenn du's einmal vor großem Publikum singst, versaust du's." Und fing Liams Blick auf: nachdenklich und Trost spendend. Obwohl er eifersüchtig war, auf einen Toten. Eifersüchtig auf die Trauer, die ich empfand, die mich im Moment für jede Liebe unzugänglich machte. Ich hatte es in den letzten Tagen immer öfter bemerkt, und ich musste dringend mit ihm darüber reden. Obwohl ich davon eigentlich genug hatte – in den letzten Tagen wollten alle immer mit mir reden.
Doch es war nicht Liam, der auf mich wartete, als ich die Aula nach einer kurzen Verschnaufpause hinter der Bühne verlassen wollte. In der ersten Reihe saß Isabelle, mit leerem Blick zerknüllte sie ein Taschentuch zwischen den Fingern. Ich wusste nicht, was sie wollte und eigentlich ging sie mich nichts an; die seltsamen Änderungen und die tiefe Trauer, die alle so überraschte, hatte für mich keine Bedeutung. Ich verachtete sie sogar dafür, denn ich dachte, sie wollte selbst aus dieser Situation Profit ziehen: Mitleid gleich Beachtung.
Ich ging an ihr vorbei und sie stand auf.
„Anouk“, sagte sie, ungelenk sprach sie meinen Namen aus. Ich blieb stehen und drehte mich um. Sie sah zu Boden.
„Kann ich… mit dir reden?“
„Sicher“, sagte ich langsam. Sie zeigte schüchtern auf den Platz neben sich, und zögernd setzte ich mich neben sie. Aber sie machte keine Anstalten, irgendetwas zu sagen; sie rupfte weiter an ihrem Taschentuch herum und starrte auf ihre Schuhe. Mir fiel auf, dass sie nichts besonderes mit ihren Haaren anstellte, wie es sonst ihre Gewohnheit war. Heute hingen sie einfach nur langweilig, ja beinahe kränklich herunter. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie tief Luft holte.
„Es tut mir leid, wenn ich sehr… unfreundlich war zu dir“, sagte sie schließlich. Ich sah überrascht auf. Isabelle, die sich entschuldigte? Wahnsinn!
„Ich schätze, ich hab mich dran gewöhnt“, meinte ich ironisch. Sie lächelte freudlos.
„Es tut mir leid", wiederholte sie. „Aber ich war – nein, ich bin – so… eifersüchtig auf dich.“
Ich starrte sie an. Sie – Isabelle: rotblonde, lange Haarmähne. Ein zartes, wunderschönes Gesicht, elfenhafte Figur, glockenhelle, klare Stimme. Beste Tänzerin. Wandlungsfähige Schauspielerin, tadellose Leistung.
„Äh – was?“, sagte ich. Sie sah mich an, eine Spur verärgert.
„Ich habe sehr viel und hart gearbeitet, um auf dieser Schule angenommen zu werden, weißt du? Und dann kommst du und ich höre, was für ein unverschämtes Glück du hattest. Meine Familie hat alles Geld der Welt, und keine private Schule wollte mich! Aber du…“ Sie schüttelte den Kopf. „Und dann fliegen sämtliche Jungs auf dich.“
„Nur Liam und… Jamie“, wandte ich ein. Sie verzog das Gesicht.
„Liam verzeihe ich dir“, sagte sie. „Ich war… Keine Ahnung, warum ich mit ihm zusammen war. Aber Jamie…“ Sie starrte auf die leere Bühne und begann zu weinen, und in diesem Moment fügten sich alle Puzzleteile einer Tragödie ineinander.
Isabelle hatte Jamie immer geliebt, aber er hatte sie nicht haben wollen, sondern mich. Aber ich liebte Liam, der einmal mit Isabelle zusammen war. Ein ewiger Kreis, dachte ich ironisch.
„Ich wollte mir nichts anmerken lassen“, fuhr Isabelle brüchig fort. „Ich wollte mich dir immer überlegen fühlen. Es tut mir so leid!“
Ich sah ihr zu, wie sie zusammensank und weinte. Und ich merkte, dass es ihr viel schlimmer ging als mir. Ich hatte ihn wenigstens nicht geliebt, nicht so wie sie. Ohne nachzudenken legte ich den Arm um sie.
An diesem Abend entstand eine Freundschaft, die bis heute allem Stand hält, was war und kommen mag.
Die geschlossene Türe war beängstigend nüchtern. Ich konnte nicht hören, was dahinter geschah, und als sie sich öffnete, fuhr ich erschrocken zusammen.
„Viel Glück“, flüsterte Aubrey, als wir uns an der Tür begegneten. Ich betrat den Raum – es war der zweite Probenraum für Schauspiel, der in der Regel nur für Prüfungen und wichtige Proben genutzt wurde. Heute war er leer bis auf einen Tisch, der in einigem Abstand zur Bühne aufgestellt war. Daran saßen Mrs. Paige, Parker, Frau Kurth und der Schulleiter. Ich trat auf die ebenerdige Bühne. Im Rampenlicht konnte ich meine Lehrer nur noch schwer erkennen. Im Hintergrund waren schemenhaft aufgestapelte Stühle zu sehen.
„Wie fühlen Sie sich, Anouk?“, fragte Parker.
„Ich bin aufgeregt“, gab ich zu. Er nickte.
„Keine Scheu, Anouk“, erwiderte Mrs. Paige. „Wir wissen, was Sie können.“
„Okay.“ Ich schüttelte meine Arme aus und atmete ein paar Mal tief in den Bauch. „Ich werde Green finch and linnet bird aus Sweeney Todd singen“, erklärte ich dann.
„Bauen Sie schnell Ihr Bühnenbild auf“, forderte der Schulleiter mich auf. Ich nickte und verschwand kurz am Bühnerand, wo mein spärliches Bühnenbild stand: ein Vogelkäfig auf einem hohen, schmalen Beistelltisch und ein fahrbares Wandteil mit Fenster und Türe. Ich selber trug heute ein blau-grünes Kleid aus dem Kostümfundus der Schule und hatte mir meine Haare an den Seiten zurückgesteckt. Ich reichte dem Pianisten, einem Schüler aus dem Jahr über uns, die vorbereiteten Noten.
„Viel Glück!“, wünschte er, und ich betrat die Bühne.
Ich hatte gar kein richtiges Gefühl, als ich geendet hatte. Eigentlich hatte ich nichts falsch gemacht, aber ich war trotzdem ängstlich, dass meinen Lehrern irgendetwas missfiel, irgendeine Leistung nicht genügte…
„Anouk, das war wie zu erwarten gelungen“, ergriff Mrs. Paige das Wort. „Sie haben dieses Jahr wirklich hart gearbeitet. Ihre Hauptrolle in einem bedeutenden Musical macht es uns beinahe unmöglich, Sie negativ zu kritisieren. Nach der Spielzeit hatten Sie zwar ein leistungsschwaches Tief, aber das hat sich zum Glück gelegt.“
Frau Kurth nickte. „In Ballett gibt es nach wie vor Schwierigkeiten“, sagte sie, „und Sie sind manchmal etwas nachlässig, wenn es darum geht, sich Choreographien anzueignen. Aber alles in allem konnte ich einen meist konstanten Fortschritt beobachten.“
„Wenn Sie auch anscheinend keine weltklasse Tänzerin werden“, fügte Parker hinzu, „so sind Sie doch eine starke Schauspielerin. Sie haben keine Schwierigkeiten mehr, Gesang und Spiel zu kombinieren. Ihr vorgetragener Monolog war ebenfalls sehr tiefgründig und wohl überlegt. Sehr schön.“
„Danke“, sagte ich schüchtern, als sie mich endlich zu Wort kommen ließen.
„Möchten Sie noch etwas sagen?“, fragte Mrs. Paige.
„Nein. Eigentlich nicht.“
„Schön“, warf der Schulleiter an und hielt mir ein Papier entgegen. „Ihr Zeugnis gibt es dann in knapp zwei Wochen, aber hier ist schon einmal die Bestätigung, dass Sie das Jahr erfolgreich abgeschlossen haben.“
„Vielen Dank“, wiederholte ich, ehe ich den Raum verließ.
Bis auf Marvin hatten alle das Jahr erfolgreich abgeschlossen.
Bis auf Marvin und Jamie.
Am letzten Schultag besuchten wir nach der Zeugnisausgabe sein Grab, das nicht allzu weit von hier entfernt war. Wir picknickten auf einem Hügel gegenüber dem Friedhof. Die Sonne schien, es war heiß und wir genossen den Ferienbeginn.
„Nächstes Jahr ist es so weit“, sagte Michael. „Wir sind jetzt die Abschlussklasse.“
„Aber erst mal sind Ferien“, erwiderte Mark. „Was habt ihr so vor?“
„Karibikurlaub!“, sagte Aubrey stolz. „Und ein Ballettworkshop.“ Sie rümpfte die Nase. „Offenbar bin ich nicht so gut, wie ich dachte…“
„Und unsere Sarah tritt auf!“, warf Marvin euphorisch ein. „Habt ihr schon Karten?“
Rufe wurden laut, Bitten, Freikarten zu besorgen. Liam sah mich an.
„Ich fahre nach London“, sagte er leise. „Hast du Lust, mich zu besuchen? Logis und Verkostung gratis.“
„Gerne“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Wie ist es um dein Englisch bestellt?“, wollte er wissen. Ich lächelte schwach.
„Ganz gut, schätze ich. Aber du kannst mir sicher noch etwas beibringen…“
Am folgenden Tag brachte mein Vater mich zum Bahnhof.
„Das war ein aufregendes Jahr, nicht wahr?“, meinte er. Als ich nickte, strich er mir mitfühlend über den Kopf.
„Schmerz vergeht“, ermunterte er mich. „Alle Wunden heilen mal.“
Nein, dachte ich, man gewöhnt sich nur an den Schmerz. Aber ich sprach es nicht aus, denn das kränkliche, unangenehme Gefühl kehrte zurück, dieses Brennen hinter den Augen, erstickende Übelkeit und pochendes Kopfweh. Und mein Herz, das zu schnell und hart klopfte. Der Zug fuhr ein, und ich erwiderte die Umarmung meines Vaters.
Ja, das zweite Jahr war vorüber und das Abschlussjahr stand an.
Aber in den nächsten Wochen wollte ich nicht daran denken. Ein Mensch, den ich sehr schätzte, war gegangen, und er würde nie mehr wiederkehren. Wann würde ich mich an den Schmerz gewöhnen?
Wer Smoke gets in your eyes einmal hören will, von Sierra Boggess:http://www.youtube.com/watch?v=MLgicR8AOS0 You'll never know habe ich leider nicht gefunden.