Mich trägt mein Traum

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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 19.07.2014, 19:08:15

Danke :) Ich hab mir sehr viel Mühe mit dem Teil gegeben und konnte es kaum abwarten, ihn zu posten, auch wenn er so traurig ist. Ich gebe zu, dass Jamies Schicksal schon sehr früh feststand... Danke für die gute Kritik :)
Und hier, zum Schuljahresende, noch mal ein langer Teil.

Sie trugen den Sarg tatsächlich zu Feld der Ehre fort. Ich stand an der Türe, ein ungeladener, heimlicher Gast bei der Trauerfeier. Aber ich sah nicht zu, wie er beerdigt wurde. Ich wollte nicht den lebenslustigen, freiheitsliebenden Jamie eingesperrt in einen Kasten sehen, unter schmutziger Erde begraben.
Auch die Schule gab eine Trauerfeier für ihn. Geladen waren auch seine Eltern, aber nur seine Schwester kam. Unsere Stufe, ein paar Freunde, Lehrer.
Nach seinem Tod hatten seine Eltern mir eine CD zukommen lassen – Awakening von Sierra Boggess. Hör sie dir an, stand auf dem Cover, für mein Awakening. Ich tat es. Ich hörte die CD, und ein paar Tage später kam Mrs. Paige zu mir und bat mich, auf der Gedenkfeier für ihn zu singen, „weil er es so wünscht. Er schrieb alles genau auf.“ Ich hatte eigentlich die Bitte an sie stellen wollen, das Lied mit mir einzuüben, und so nickte ich einfach.
„Es ist noch nie passiert, dass einer meiner Schüler stirbt“, sagte Mrs. Paige bei der Feier. „Ich wusste nicht, dass es mich so hart treffen würde. Jamie war so lebensbejahend, so voller Träume und Hoffnungen – und so wollen wir ihn in unseren Herzen behalten.“ Sie war völlig fertig. Ein paar Jungs sagten und sangen etwas. Zum Schluss sang ich, Smoke gets in your eyes und You’ll never know, genau wie auf der CD. Ich wusste, das würde ihm gefallen. Ich musste weinen, und stellte mir vor, was Jamie sagen würde: "Du versaust das ganze Lied, Anouk! Wenn du's einmal vor großem Publikum singst, versaust du's." Und fing Liams Blick auf: nachdenklich und Trost spendend. Obwohl er eifersüchtig war, auf einen Toten. Eifersüchtig auf die Trauer, die ich empfand, die mich im Moment für jede Liebe unzugänglich machte. Ich hatte es in den letzten Tagen immer öfter bemerkt, und ich musste dringend mit ihm darüber reden. Obwohl ich davon eigentlich genug hatte – in den letzten Tagen wollten alle immer mit mir reden.
Doch es war nicht Liam, der auf mich wartete, als ich die Aula nach einer kurzen Verschnaufpause hinter der Bühne verlassen wollte. In der ersten Reihe saß Isabelle, mit leerem Blick zerknüllte sie ein Taschentuch zwischen den Fingern. Ich wusste nicht, was sie wollte und eigentlich ging sie mich nichts an; die seltsamen Änderungen und die tiefe Trauer, die alle so überraschte, hatte für mich keine Bedeutung. Ich verachtete sie sogar dafür, denn ich dachte, sie wollte selbst aus dieser Situation Profit ziehen: Mitleid gleich Beachtung.
Ich ging an ihr vorbei und sie stand auf.
„Anouk“, sagte sie, ungelenk sprach sie meinen Namen aus. Ich blieb stehen und drehte mich um. Sie sah zu Boden.
„Kann ich… mit dir reden?“
„Sicher“, sagte ich langsam. Sie zeigte schüchtern auf den Platz neben sich, und zögernd setzte ich mich neben sie. Aber sie machte keine Anstalten, irgendetwas zu sagen; sie rupfte weiter an ihrem Taschentuch herum und starrte auf ihre Schuhe. Mir fiel auf, dass sie nichts besonderes mit ihren Haaren anstellte, wie es sonst ihre Gewohnheit war. Heute hingen sie einfach nur langweilig, ja beinahe kränklich herunter. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie tief Luft holte.
„Es tut mir leid, wenn ich sehr… unfreundlich war zu dir“, sagte sie schließlich. Ich sah überrascht auf. Isabelle, die sich entschuldigte? Wahnsinn!
„Ich schätze, ich hab mich dran gewöhnt“, meinte ich ironisch. Sie lächelte freudlos.
„Es tut mir leid", wiederholte sie. „Aber ich war – nein, ich bin – so… eifersüchtig auf dich.“
Ich starrte sie an. Sie – Isabelle: rotblonde, lange Haarmähne. Ein zartes, wunderschönes Gesicht, elfenhafte Figur, glockenhelle, klare Stimme. Beste Tänzerin. Wandlungsfähige Schauspielerin, tadellose Leistung.
„Äh – was?“, sagte ich. Sie sah mich an, eine Spur verärgert.
„Ich habe sehr viel und hart gearbeitet, um auf dieser Schule angenommen zu werden, weißt du? Und dann kommst du und ich höre, was für ein unverschämtes Glück du hattest. Meine Familie hat alles Geld der Welt, und keine private Schule wollte mich! Aber du…“ Sie schüttelte den Kopf. „Und dann fliegen sämtliche Jungs auf dich.“
„Nur Liam und… Jamie“, wandte ich ein. Sie verzog das Gesicht.
„Liam verzeihe ich dir“, sagte sie. „Ich war… Keine Ahnung, warum ich mit ihm zusammen war. Aber Jamie…“ Sie starrte auf die leere Bühne und begann zu weinen, und in diesem Moment fügten sich alle Puzzleteile einer Tragödie ineinander.
Isabelle hatte Jamie immer geliebt, aber er hatte sie nicht haben wollen, sondern mich. Aber ich liebte Liam, der einmal mit Isabelle zusammen war. Ein ewiger Kreis, dachte ich ironisch.
„Ich wollte mir nichts anmerken lassen“, fuhr Isabelle brüchig fort. „Ich wollte mich dir immer überlegen fühlen. Es tut mir so leid!“
Ich sah ihr zu, wie sie zusammensank und weinte. Und ich merkte, dass es ihr viel schlimmer ging als mir. Ich hatte ihn wenigstens nicht geliebt, nicht so wie sie. Ohne nachzudenken legte ich den Arm um sie.
An diesem Abend entstand eine Freundschaft, die bis heute allem Stand hält, was war und kommen mag.


Die geschlossene Türe war beängstigend nüchtern. Ich konnte nicht hören, was dahinter geschah, und als sie sich öffnete, fuhr ich erschrocken zusammen.
„Viel Glück“, flüsterte Aubrey, als wir uns an der Tür begegneten. Ich betrat den Raum – es war der zweite Probenraum für Schauspiel, der in der Regel nur für Prüfungen und wichtige Proben genutzt wurde. Heute war er leer bis auf einen Tisch, der in einigem Abstand zur Bühne aufgestellt war. Daran saßen Mrs. Paige, Parker, Frau Kurth und der Schulleiter. Ich trat auf die ebenerdige Bühne. Im Rampenlicht konnte ich meine Lehrer nur noch schwer erkennen. Im Hintergrund waren schemenhaft aufgestapelte Stühle zu sehen.
„Wie fühlen Sie sich, Anouk?“, fragte Parker.
„Ich bin aufgeregt“, gab ich zu. Er nickte.
„Keine Scheu, Anouk“, erwiderte Mrs. Paige. „Wir wissen, was Sie können.“
„Okay.“ Ich schüttelte meine Arme aus und atmete ein paar Mal tief in den Bauch. „Ich werde Green finch and linnet bird aus Sweeney Todd singen“, erklärte ich dann.
„Bauen Sie schnell Ihr Bühnenbild auf“, forderte der Schulleiter mich auf. Ich nickte und verschwand kurz am Bühnerand, wo mein spärliches Bühnenbild stand: ein Vogelkäfig auf einem hohen, schmalen Beistelltisch und ein fahrbares Wandteil mit Fenster und Türe. Ich selber trug heute ein blau-grünes Kleid aus dem Kostümfundus der Schule und hatte mir meine Haare an den Seiten zurückgesteckt. Ich reichte dem Pianisten, einem Schüler aus dem Jahr über uns, die vorbereiteten Noten.
„Viel Glück!“, wünschte er, und ich betrat die Bühne.
Ich hatte gar kein richtiges Gefühl, als ich geendet hatte. Eigentlich hatte ich nichts falsch gemacht, aber ich war trotzdem ängstlich, dass meinen Lehrern irgendetwas missfiel, irgendeine Leistung nicht genügte…
„Anouk, das war wie zu erwarten gelungen“, ergriff Mrs. Paige das Wort. „Sie haben dieses Jahr wirklich hart gearbeitet. Ihre Hauptrolle in einem bedeutenden Musical macht es uns beinahe unmöglich, Sie negativ zu kritisieren. Nach der Spielzeit hatten Sie zwar ein leistungsschwaches Tief, aber das hat sich zum Glück gelegt.“
Frau Kurth nickte. „In Ballett gibt es nach wie vor Schwierigkeiten“, sagte sie, „und Sie sind manchmal etwas nachlässig, wenn es darum geht, sich Choreographien anzueignen. Aber alles in allem konnte ich einen meist konstanten Fortschritt beobachten.“
„Wenn Sie auch anscheinend keine weltklasse Tänzerin werden“, fügte Parker hinzu, „so sind Sie doch eine starke Schauspielerin. Sie haben keine Schwierigkeiten mehr, Gesang und Spiel zu kombinieren. Ihr vorgetragener Monolog war ebenfalls sehr tiefgründig und wohl überlegt. Sehr schön.“
„Danke“, sagte ich schüchtern, als sie mich endlich zu Wort kommen ließen.
„Möchten Sie noch etwas sagen?“, fragte Mrs. Paige.
„Nein. Eigentlich nicht.“
„Schön“, warf der Schulleiter an und hielt mir ein Papier entgegen. „Ihr Zeugnis gibt es dann in knapp zwei Wochen, aber hier ist schon einmal die Bestätigung, dass Sie das Jahr erfolgreich abgeschlossen haben.“
„Vielen Dank“, wiederholte ich, ehe ich den Raum verließ.

Bis auf Marvin hatten alle das Jahr erfolgreich abgeschlossen.
Bis auf Marvin und Jamie.
Am letzten Schultag besuchten wir nach der Zeugnisausgabe sein Grab, das nicht allzu weit von hier entfernt war. Wir picknickten auf einem Hügel gegenüber dem Friedhof. Die Sonne schien, es war heiß und wir genossen den Ferienbeginn.
„Nächstes Jahr ist es so weit“, sagte Michael. „Wir sind jetzt die Abschlussklasse.“
„Aber erst mal sind Ferien“, erwiderte Mark. „Was habt ihr so vor?“
„Karibikurlaub!“, sagte Aubrey stolz. „Und ein Ballettworkshop.“ Sie rümpfte die Nase. „Offenbar bin ich nicht so gut, wie ich dachte…“
„Und unsere Sarah tritt auf!“, warf Marvin euphorisch ein. „Habt ihr schon Karten?“
Rufe wurden laut, Bitten, Freikarten zu besorgen. Liam sah mich an.
„Ich fahre nach London“, sagte er leise. „Hast du Lust, mich zu besuchen? Logis und Verkostung gratis.“
„Gerne“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Wie ist es um dein Englisch bestellt?“, wollte er wissen. Ich lächelte schwach.
„Ganz gut, schätze ich. Aber du kannst mir sicher noch etwas beibringen…“

Am folgenden Tag brachte mein Vater mich zum Bahnhof.
„Das war ein aufregendes Jahr, nicht wahr?“, meinte er. Als ich nickte, strich er mir mitfühlend über den Kopf.
„Schmerz vergeht“, ermunterte er mich. „Alle Wunden heilen mal.“
Nein, dachte ich, man gewöhnt sich nur an den Schmerz. Aber ich sprach es nicht aus, denn das kränkliche, unangenehme Gefühl kehrte zurück, dieses Brennen hinter den Augen, erstickende Übelkeit und pochendes Kopfweh. Und mein Herz, das zu schnell und hart klopfte. Der Zug fuhr ein, und ich erwiderte die Umarmung meines Vaters.
Ja, das zweite Jahr war vorüber und das Abschlussjahr stand an.
Aber in den nächsten Wochen wollte ich nicht daran denken. Ein Mensch, den ich sehr schätzte, war gegangen, und er würde nie mehr wiederkehren. Wann würde ich mich an den Schmerz gewöhnen?

Wer Smoke gets in your eyes einmal hören will, von Sierra Boggess:http://www.youtube.com/watch?v=MLgicR8AOS0 You'll never know habe ich leider nicht gefunden.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon little miss sunshine » 19.07.2014, 20:29:55

Höhen und Tiefen - alles ist dabei für Anouk!
Auf der einen Seite hat sie an Erfahrungen gewonnen,auf der anderen Seite einen wichtigen Menschen verloren. Ich denke,dass sie sich dadurch vllt noch etwas verändern wird - etwas ernster und/oder das Leben auskostender vllt?

Es wäre schön,wenn sie noch Kontakt zu Jamies Eltern halten könnte...sonst kann ich gar nichts dazu sagen,denn ich würde mich nur in dem,was bereits gesagt wurde,wiederholen^^.

P.S: Das Lied hab ich mir grade mal ausführlich angehört - es passt irgendwie total gut zu der Situation. Ich finde,das muss man auch erst mal schaffen,das so gut auszusuchen! :handgestures-thumbupright:
Is this the real life, is this just fantasy...

The air is humming, and something great is coming!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 21.07.2014, 13:33:59

Sehr sehr traurige Teile. Gut geschrieben, aber mir fast etwas zu traurig. Ich würde gerne wieder etwas heiteres Lesen. Ich bin gespannt, was jetzt kommt.
~*Niemand nimmt mir meine Träume und schließt meine Sehnsucht ein, wo es Liebe gab und Freiheit wird mein Herz für immer sein*~

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 21.07.2014, 16:22:18

Danke ihr zwei! Das Lied hat mich auch zu der Story inspiriert, die Idee von Jamies Tod war eine der ersten. Ich wusste erst nie, was ich damit anfangen soll, ehe ich begann, die FF zu schreiben.
Und jetzt wird alles endlich positiver:

Ich saß wie auf heißen Kohlen, und als es an der Türe klingelte, sprang ich erschrocken und aufgeregt auf. Und fing mir prompt einen liebevoll-belustigten Blick meiner Mutter ein. Als sie mir in den Flur folgte, hing ich schon längst in Liams Armen. Aber wir lösten uns voneinander, und Liam mimte den perfekten Schwiegersohn, wie immer.
„Guten Tag, Frau Steger“, sagte er höflich. „Wie geht es Ihnen?“
„Gut, danke Liam“, erwiderte sie. „Hattest du noch schöne Ferien?“
„Ja, schon.“ Er grinste mich an. „Hast du alles gepackt?“
Ich nickte. „Klar.“
„Gut. Ich bringe schon mal deine Koffer runter, in Ordnung?“
„Aber sicher“, lachte ich und trat zur Seite. Liam sah kurz geschockt auf den Kofferstapel im Flur. „Soll das ein Witz sein?“
„Nein. Ganz ernst“, erwiderte ich, ohne mit der Wimper zu zucken – oder dem Mundwinkel. Er fing sich aber recht schnell wieder und begann, meine Sachen wegzutragen. Meine Mutter sah mich an.
„Man könnte meinen, ihr hättet euch seit Jahren nicht gesehen“, spielte sie auf unsere Begrüßungsszene an. „Dabei ist London gerade mal zwei Wochen her.“
Ich zuckte nur mit den Schultern, auch wenn sie recht hatte: ich hatte eine wundervolle und viel zu kurze Zeit in London verbracht. Und jetzt kam Liam, um mich nach Hannover zu fahren.
„Ich schätze, es ist Zeit für den Abschied“, meinte meine Mutter und seufzte. Ich umarmte sie.
„Ein Jahr noch“, tröstete ich sie.
„Ehe du nur noch unterwegs sein wirst“, entgegnete sie. Ich verdrehte die Augen.
„Ja, weil es mein Job ist. Aber du kannst mich dafür immer bei der Arbeit beobachten.“
„Ein guter Kompromiss“, nickte sie lachend. Liam kam wieder die Treppe hinauf, und ich griff nach meinem letzten Gepäck.
„Bist du so weit?“, fragte er. Ich sah meine Mutter an.
„Bis demnächst“, sagte ich.
„Tag der offenen Tür“, versprach sie. „Das Zimmer ist schon gebucht.“ Wir umarmten uns noch einmal, ehe ich Liam durch unseren Hausflur folgte. Ich war froh, dass er da war, denn ich hasste Abschiede noch immer.

Dieses Jahr begann das Schuljahr in einem Klassenraum, der sogar für unsere kleine Gruppe recht schmal war. Wir drängten uns herein und rissen alle Fenster auf, denn es war unsäglich heiß. Sogar in London hatte es kaum geregnet!
„Ich begrüße Sie ganz herzlich im neuen Schuljahr!“, rief Parker gut gelaunt. Offensichtlich lag es dieses Jahr bei ihm, uns zu begrüßen und weitere Instruktionen zu geben.
„Sie sind nun die ältesten hier!“ Er ließ den Blick langsam und stolz über die Klasse schweifen. „Wie fühlen Sie sich?“
„Gut“, „fabelhaft“, „geht so“, brummten einige. Andere wackelten unbestimmt mit den Köpfen.
„Freut mich“, sagte er ironisch. „Damit Sie wach werden, direkt mal Ihr Stundenplan.“ Er teilte die Blätter aus, und ich stellte erfreut fest, dass sich kaum etwas änderte. Nur einen neuen Stepptanzlehrer hatte ich, und die Gruppen waren neu zusammengestellt. Mrs. Paige blieb weiter meine Gesangslehrerin, was mich trotz ihrer Strenge erleichterte – ich hatte mich so an sie gewöhnt.
„Sicher gibt es aber etwas, das Ihnen viel wichtiger ist“, fuhr Parker fort und unterbrach gleichzeitig das Gemurmel, das sich beim Vergleichen der Stundenpläne eingestellt hatte.
„Ihr Abschlussprojekt.“
Es wurde totenstill. Alle sahen gebannt nach vorne, und man konnte den Schülern förmlich ansehen, wie sie im Kopf alle möglichen Wunsch-Musicals durchgingen. Tanz der Vampire, dachte ich, bitte, bitte, Tanz der Vampire… An unserer Schule wurden für Abschlussproduktionen immer Schüler der unteren Stufen oder, wie im letzten Jahr, aus anderen Schulen zur Unterstützung geholt, meist für das Ensemble. Die guten Rollen würden wir bekommen. Oder Les Miserables, hoffte ich weiter. Sarah, die neben mir saß, formte lautlos die Worte Jekyll&Hyde mit den Lippen, und Liams Augen hingen gespannt an Parkers Gesicht. Den schien die nachdenkliche Spannung sichtlich zu erheitern.
„Um das Warten zu beenden“, hob er an, „es wird kein Musical sein, dass es schon gibt.“
Wir sahen kurz stirnrunzelnd zu ihm.
„Sollen wir etwa ein Stück uraufführen?“, platzte Emilia erstaunt heraus.
„Oder eines erfinden?“, riet Michael weiter. Parker nickte.
„Letzteres. Wobei sich das Erfinden auf die Handlung bezieht; sie fügen bereits bestehende Musicalsongs ein.“
„Ist das neu?“, fragte Mark, der gar nicht begeistert klang.
„Nun, ich gebe zu, dass wir es von einer anderen Schule geklaut haben“, lenkte Parker ein. „Aber hier ist es neu, ja.“ Er wurde ernst. „Vielleicht werden einige von Ihnen enttäuscht sein. Aber urteilen Sie nicht zu negativ; es ist eine große Chance für Sie alle, kooperatives Verhalten zu lernen und Ihre Beziehungen zu vertiefen. Sie werden zusammenwachsen, und durch die selbstständige Rollenvergabe und –erfindung werden Sie in das Stück hineinwachsen und einen persönlichen Bezug dazu haben wie kein anderer.“
Wir schwiegen, nachdenklich.
„Das heißt allerdings auch, dass Sie sich spätestens in den Herbstferien zusammensetzen müssen“, wandte er ein. Wir verfielen wieder in reges Gemurmel.
„Und jetzt“, rief er, „entlasse ich Sie in Ihren Unterricht.“
„Beziehungsweise auf die Bühne“, grinste Sarah. Ich sah neidisch zu, wie sie ihre Tasche schulterte. Zwei Mal hatte ich die Aufführung schon besucht, und ich war richtig stolz auf meine beste Freundin. Ich gönnte ihr den Erfolg. Sie spielte wirklich hochkonzentriert, die ganze Zeit über. Wir verabschiedeten uns mit großen und vielen Worten von ihr, ehe wir zum Unterricht gingen. Unsere Klasse war nun für alle Tanzstunden geteilt. Doch die erste Stunde wollten wir gemeinsam absolvieren.
Als ich im Ballettsaal stand und mich umsah, bemerkte ich, dass ich unbemerkt nach Jamie Ausschau hielt. Seine schlaksige Gestalt fehlte, sein breites Grinsen und seine laute Stimme, die irgendeinen Witz aussprach…
„Mich überkommt’s auch gerade“, sagte Isabelle leise und trat zu mir. Ich sah sie an.
„Du solltest dich nicht mehr so gehen lassen“, sagte ich, aber es war nicht böse gemeint, sondern besorgt. Wir hatten uns in den Ferien gesehen und lange geredet. Ich hatte einen neuen, erstaunlichen Einblick in ihre Persönlichkeit bekommen: Isabelle war stolz, aber dieser Stolz war so empfindlich und leicht zu brechen… Und sie bereute es so sehr, Jamie nie ihre Liebe gestanden zu haben, dass sie glaubte, nie darüber hinwegkommen zu können. Jetzt sah sie an sich hinab und zuckte mit den Schultern.
„Es geht schon besser“, erwiderte sie. „Aber gerade… ist es schwer.“
Ich nickte nur. Ich war nach dieser Unterhaltung sehr niedergeschlagen, was Mrs. Paige nicht entging, als ich in den Probenraum trat.
„Sind Sie bereit, das letzte Schuljahr zu beginnen?“, fragte sie mich.
„Ich muss es wohl sein“, rutschte es mir sehr unprofessionell heraus. Sie schwieg kurz und musterte mich eindringlich, dann wurde ihr Blick sanfter.
„Es ist etwas schreckliches passiert“, sagte sie leise. „Ein guter Freund ist gegangen. Ich kann verstehen, dass Sie das sehr traurig und vielleicht hoffnungslos macht. Aber… Es gab eine Zeit der Vorbereitung und eine Zeit der Trauer, und ich denke, nun sollte die Zeit des Neubeginns sein, nicht wahr?“ Sie reichte mir ein Taschentuch und kramte dann ein wenig in ihrer Tasche herum, ehe sie mir einen Bogen ordentlich bedruckten Notenpapiers gab.
„Ich habe mir viele Gedanken gemacht, wie wir das Schuljahr ganz im Sinne der Neuerung starten könnten“, fuhr sie fort. „Dieses Lied sollte Sie herausfordern und gleichzeitig vielleicht Anstoß geben, die Vergangenheit anzunehmen.“
Ich starrte auf den Titel. Ein neuer Tag, Artus Excalibur. Der Schatten einer Melodie huschte durch mein Gedächtnis, aber ich bekam sie nicht zu fassen. Ich wusste nur, dass ich das Lied schon einmal gehört hatte. Mrs. Paige klappte das Klavier auf, und als ihre faltigen Hände bestimmt wie immer auf die Tasten drückten, überkam mich ein sehr heimatliches Gefühl. Mrs. Paige spielte die Melodie sehr deutlich und nachdrücklich und forderte mich auf, ein paar Atem- und Stimmübungen zu machen.
„Konnten Sie in den Ferien üben?“, fragte sie.
„Natürlich. Und ich war zwei Wochen mit Liam in London; in seiner Familie wird eigentlich nur Musik gemacht.“
Sie nickte und lächelte. „Sehr schön. Ich bin übrigens erleichtert, dass Ihre Beziehung nicht Ihre Leistungen beeinträchtigt“, fuhr sie fort, während sie gleichzeitig die Tonleiter spielte und mich mitsingen ließ. Inzwischen hatte ich ein Gefühl für den Song bekommen, und als ich das Blatt noch einmal sorgfältig ansah, fügten sich Melodie und Worte ineinander. Ich summte das Lied einige Male wortlos mit und wir arbeiteten sorgfältig an den Stellen, die ich anfangs als schwierig empfand. Das Lied war an vielen Stellen sehr hoch, aber an manchen auch tief. So war ich für die nächsten zwei Stunden völlig in meine Arbeit an dem Stück versunken.
„Sehr schön, Anouk“, beurteilte Mrs. Paige meine erste Einstiegsleistung. „Sie sollten diesen Song bis Mittwoch auswendig können, damit wir intensiv an den Höhen arbeiten können.“
Ich verließ die Gesangsstunden besser gelaunt als zuvor. Das Gefühl, zu Hause zu sein, war immer noch da, und als Liam mich zur Theoriestunde begleitete, fühlte ich mich sogar sehr glücklich.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Gaefa
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 21.07.2014, 18:12:13

Sehr schöner Teil. Und eine lustige Liedwahl - lustig deshalb, weil ich gestern zum Geburtstag die CD von Artus Excalibur bekommen hab :) Ich werd mir das Lied nochmal genau anhören und dabei sicherlich an deine Geschichte denken ;) Weiter so!
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Ophelia
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 22.07.2014, 22:47:09

Ich hab mich sofort in das Lied verliebt, als ich's letztens hörte, und dachte, es wäre doch ein guter Start ins neue Jahr ;) Hier geht's weiter, und für Anouk bleibt alles recht positiv :)

„Bist du nicht etwas früh dran?“, fragte Melissa, als ich um sechs Uhr morgens in die Küche tapste.
„Schon“, erwiderte ich und schob mich auf einen Hocker vor dem Küchentresen, „aber ich muss heut eine Stunde früher da sein. Tamás Szabó kommt vorbei und gibt zwei Stunden Ballett.“
„Tamás Szabó?“, wiederholte Melissa ungelenk. „Wer soll das sein?“
„Ein ungarischer Balletttänzer“, antwortete ich und nahm einen Schluck Kaffee, den sie mir hingestellt hatte. Eigentlich hieß es Szabó Tamás, da im Ungarischen die Nachnamen zuerst genannt wurden, aber ich verdrehte es immer wieder.
„Und warum musst du so früh raus?“, erkundigte sich meine Mitbewohnerin weiter.
„Weil er nicht sehr viel Zeit hat“, sagte ich. „Er kann nur bis neun bleiben, also haben wir einfach eine Stunde vorndran gehängt. Das hat er vorgeschlagen.“
„Scheint ja ein ganz eifriger zu sein“, stellte sie fest.
„Und ein guter“, fügte ich hinzu und stand auf. „Schau ihn dir im Internet an. Er ist nicht der schönste, aber ein guter Tänzer.“ Und deswegen war ich auch etwas aufgeregt, denn bekanntlich war Ballett nicht meine Stärke.
Auch unter den Schülern herrschte große Aufregung. Als ich den Ballettsaal zusammen mit Sarah betrat, standen die meisten an der Stange und dehnten sich, statt wie üblich locker zu plaudern.
„Ich werde mich blamieren“, stöhnte Sarah und gähnte herzhaft. Marie Antoinette hatte letzten Abend Derniere gehabt, und sie hatte es sich nicht nehmen lassen, zu feiern. Und war erst mit dem Morgenzug gekommen, was hieß, dass sie seit mehr als vierundzwanzig Stunden keinen Schlaf mehr hatte. Und so sah sie auch aus.
„Aber egal“, sagte sie, „das war es mir wert.“ Umständlich hievte sie ein Bein auf die Ballettstange, und ich tat es ihr gleich. Wir trugen unsere besten Ballettsachen – Frau Kurth wollte einen guten Eindruck mit uns machen. Und pünktlich um sieben Uhr stand Tamás im Saal. Ich beobachtete ihn, während er sich kurz vorstellte. Nein, schön war er wirklich nicht; sein Gesicht war sehr eckig, seine Augen standen sehr nah zusammen und lagen tief in ihren Höhlen, aber ich wusste, dass sie gerade dadurch eine ungeheure Ausdruckskraft hatten. Seine schwarzen Haare waren dünn und straff nach hinten gebunden, zu einem kleinen Zopf. Tamás war sehr groß und schlank, fast dürr. Aber als er uns eine komplizierte Piourette vortanzte, wirbelte er federleicht herum und schien beinahe zu schweben. Er machte es uns noch ein paar Mal langsam vor, dann wies er uns an, es allein zu probieren, und während er herumging, blieb er bei jedem Schüler stehen, redete mit ihm oder ihr und korrigierte, was es zu korrigieren gab. Ich war so nervös, als ich bemerkte, dass er nun mich beobachtete, dass ich stolperte und ungeschickt wegknickte.
„Am besten, du nimmst den Fuß so“, sagte er auf Englisch und machte es mir vor. „Und den Rücken gerader“, er zog mich an den Schultern hoch, „Becken weiter nach vorn – genau.“ Er bedeutete mir, es noch einmal zu versuchen, aber es klappte nicht besonders gut.
„Nicht aufgeben“, sagte er, als ich mürrisch dreinschaute.
„Ich bin nicht sehr gut in Ballett“, erwiderte ich. Er schüttelte den Kopf.
„Denk nicht zu viel. Schalte das Gehirn nicht ganz aus, aber denk nicht zu viel. Geschick ist nur so groß wie das Vertrauen in sich selbst. Ohne Vertrauen wirst du nie etwas schaffen.“ Er dachte kurz nach. "Wie fühlst du dich, wenn du singst?"
"Auf jeden Fall besser, als wenn ich tanze", gab ich zu. Er lachte.
"Beschreib das Gefühl, so gut du kannst."
"Hm." Ich überlegte. "Es ist so, als wäre die Musik... in mir drin. Als wäre ich Musik. Ich muss nichts mehr steuern, es ist, als wäre ich in einer anderen Welt..." Ich brach verlegen ab, weil ich fürchtete, meinen Beschreibung käme ihm zu kitschig vor. Aber er nickte recht ernst.
"Und jetzt stell dir vor, du müsstest dieses Gefühl tanzen", sagte er. "Du schließt die Augen und lässt alles los, was dich nachdenklich macht. Denn das Tanzen ist in dir drin, wie das Singen oder das Schauspielen."
"Was soll ich tanzen?", fragte ich.
"Irgendetwas, das ihr schon mal geübt habt", winkte er ab. "Unwichtig. Wichtig ist das Gefühl dabei, denn Tanzen ist nicht mehr als Gefühl und Bewegung ineinander fließen zu lassen."
Ich nickte zaghaft und schloss probeweise die Augen, dachte daran, wie glücklich mich beien Berufung machte, dachte an Rebecca und an mein unglaubliches Glück... Begann, irgendwelche einfachen Schritte zu tanzen, bis meine Füße mich mit einer neuen Leichtigkeit trugen. Die Piourette gelang, zwar nicht so gut wie bei anderen, aber sie gelang. Tamás sah mich zufrieden an. "Das", sagte er, "war das Gefühl, das ich meinte." Er klopfte mir ermutigend auf die Schulter und ließ mich atemlos und begeistert zurück.
Alles in allem war es eine wirklich gute, hilfreiche und vor allem sehr aufbauende Ballettstunde, und wir konnten uns laut Frau Kurth alle geehrt fühlen, von jemandem wie Tamás unterrichtet zu werden. Ich aber hätte mich zu gerne noch einmal bei ihm bedankt, denn er hatte mir neuen Mut geschenkt wenn ich es geschafft hatte, überhaupt an diese Schule zu kommen - warum sollte ich dann nicht auch tanzen können?

Dass wir nun Abschlussschüler waren bedeutete nicht nur, viel und hart arbeiten zu müssen, sondern berechtigte uns auch zu allerlei Sonderaufgaben, die nicht immer mit Anstrengung verbunden waren. So durften wir zum Beispiel einen Workshop begleiten für die Schüler, die sich an unserer Schule bewerben wollten. Isabelle und ich entschieden uns dafür, gemeinsam die Schauspielgruppe zu leiten, und fanden uns am Samstag im Probenraum wieder, wo eine aufgeregte, zehnköpfige Gruppe Jungen und Mädchen wartete. Wir hatten beschlossen, mit einfachen Improvisationsspielen zu beginnen, um die Teilnehmer aufzulockern und einen ersten Eindruck zu gewinnen. Schon bald filterten sich die herausragendsten Talente heraus.
„Der Blonde da“, murmelte Isabelle, und ich nickte zustimmend. Ein hochgeschossener Lockenkopf mit spitzer Nase klatschte sich sehr oft auf die Bühne und hatte viele gute Ideen, die er stets mit starken Emotionen ausdrückte.
„Und die Kleine da“, bemerkte ich und nickte auf ein wirklich winziges Mädchen mit mausbraunem Bob.
„Luca Simons und Vanessa Lorenz“, sagte Isabelle nach einem Blick in die Mappe mit den Teilnehmerunterlagen. Ich schrieb die Namen auf, um sie nachher Parker auszuhändigen, der den zweiten Teil des Workshops übernehmen würde. Wir wechselten anschließend in die Gesangsworkshops, wo ich Mrs. Paige und Isabelle einer weiteren Lehrerin assistierten. Eine der Teilnehmerinnen starrte die ganze Zeit zu mir herüber und schien ganz aufgeregt, als ich langsam die Tonleiter bis zum höchsten Ton sang, den ich bis jetzt erreichte. In einer kurzen Pause kam sie schüchtern zu mir.
„Ich habe dich in Rebecca gesehen“, sagte sie, „und fand dich einfach toll!“
„Öhm, danke“, sagte ich verlegen.
„Wann wirst du das nächste Mal irgendwo mitspielen?“
„Im Moment noch nirgends“, antwortete ich, was sie sichtlich enttäuschte. „Erst mal muss ich meinen Abschluss schaffen“, erinnerte ich sie.
„Den schaffst du bestimmt!“, sagte sie inbrünstig. „Und hoffentlich werde ich hier aufgenommen…“
Ich fragte mich nach diesem Tag, ob ich nicht etwas verpasst hatte: das Bangen und Zittern um einen Ausbildungsplatz, die Aufregung eines Workshops, all die damit verbundenen Hoffnungen… Hatte ich zu viel Glück gehabt? Auf dem Heimweg vertraute ich Liam meine Gedanken an.
„Ich verstehe, was du meinst“, sagte er nach einer Weile nachdenklichen Schweigens. „Aber ich bin mir sicher, dass du dir keine Sorgen machen musst: wenn sie dich bei Wicked genommen haben, hätten sie dich bestimmt auch bei einer Aufnahmeprüfung genommen.“
Das Argument war nicht sehr stichhaltig, aber ich gab mich damit zufrieden. Denn, wie er hinzufügte: „Du hast Glück und bist an unserer Schule, das ist die Hauptsache. Wie du hingekommen bist, spielt später keine Rolle mehr.“
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 22.07.2014, 22:58:33

Ein sehr schöner Teil. Toll, dass sie solche Fortschritte macht und die "großen" jetzt den Kleinen Tipps und Ratschläge geben dürfen. Es freu mich auch, dass sie in Isabelle eine neue Freundin gefunden hat.
Ich bin auch gespannt, wo die Erzählung irgendwann mal enden wird. Schließlich ist die Ich-Perspektive ja eine Rückschau und gerade im Bezug auf die Freundschaft zu Isabelle gab es ja eine Andeutung, dass bis in die "jetzt-Zeit" der Erzählung die Freundschaft bleibt.
Ich werde auf jeden Fall weiter verfolgen, wo die Reise hingehen wird.
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 23.07.2014, 21:18:20

Gaefa hat geschrieben: Ich bin auch gespannt, wo die Erzählung irgendwann mal enden wird. Schließlich ist die Ich-Perspektive ja eine Rückschau und gerade im Bezug auf die Freundschaft zu Isabelle gab es ja eine Andeutung, dass bis in die "jetzt-Zeit" der Erzählung die Freundschaft bleibt.

Wird es zu langweilig? Für die Geschichte ist nämlich noch eine Menge geplant...

Der Tag der offenen Tür war für alle immer sehr aufregend. Es klingt vielleicht eingebildet, aber es machte tatsächlich Spaß, die neidischen Blicke der Besucher zu sehen. Es gab mir die Gewissheit, dass ich etwas geschafft hatte, und es machte mich stolz. Stolz und glücklich. An diesem Tag war ich mal wieder besonders nervös, denn ich hatte ein strammes Programm: von neun bis elf würde ein öffentlicher Gesangsunterricht zwischen Mrs. Paige, Michael und mir stattfinden, und zwar in der Aula. Ab halb zwölf würden die Besucher die Möglichkeit haben, mit den Schülern persönliche Gespräche zu führen und Fragen zu stellen, eine Stunde lang musste ich ihnen gemeinsam mit anderen Schülern zur Verfügung stehen. Anschließend, um ungefähr viertel vor zwei, fand eine weitere öffentliche Probe in Stepptanz statt. Ich war schon erschöpft, als ich den Plan nur las, aber nach dem Tag auch noch aufräumen zu müssen… Ich versuchte, mich zu motivieren mit dem Gedanken an meine Mutter, die sich extra ein Zimmer gemietet hatte, um mir zusehen zu können.
Als ich um halb neun in der Schule ankam, standen bereits die ersten Besucher vor der Türe herum. Ich betrat die Schule und suchte die Aula auf, in der Mrs. Paige und Michael bereits auf mich warteten. Ein Viertel des Raumes war ausgestellt mit Stühlen und ein der Türe hing ein DinA4-großer Zeitplan, und auf der Bühne stand schon der unvermeidliche Flügel.
„Guten morgen, Anouk“, begrüßte mich Mrs. Paige, die heute einen geblümten Rock und weiße Bluse trug. „Singen Sie sich doch mit Michael ein, bitte, ich werde sehen, ob ich das Nachwuchsorchester noch irgendwo auftreiben kann!“
„Das Nachwuchsorchester?“, wiederholte ich an Michael gewandt, als wie weg war.
„Sie ziehen’s heute ganz groß auf. Das Orchester soll uns musikalisch begleiten“, bestätigte er.
„O Gott“, kommentierte ich trocken. Ich war es nämlich gewohnt, meinen aktuellen Song mit Klavierbegleitung oder Playback zu singen – ein Orchester, das gar nicht auf mich eingestimmt war, würde vielleicht zu Komplikationen führen.
„Was singst du?“, fragte ich, um mich abzulenken.
Stars aus Les Miserables“, antwortete er. „Und du?“
Love never dies“, sagte ich und verzog das Gesicht. „Ich weiß nicht, warum sie mich das vor allen singen lässt – ich bin noch total schlecht drin! Besonders die letzten hohen Töne bekomme ich einfach nicht hin! Hast du dir mal das Original angehört? Unglaublich! Aber ich…“
„Ach, Quatsch!“, ermunterte er mich. „Glaub mehr an dich. Die Zuschauer können sich auch eine Scheibe von dir abschneiden, wenn du mal einen schiefen Ton singst. – Wollen wir uns aufwärmen?“
Ich nickte, und gemeinsam machten wir ein paar Atemübungen. Danach wollte Michael sich mit einem Lied einsingen und gab Kalte Sterne aus Ludwig II zum Besten. Es war beinahe schon witzig, was für eine tiefe Stimme Michael hatte – wenn er sich besonders Mühe gab, klang er wie ein musikalischer Bär. Um kurz vor neun platzte das Orchester – eine immerhin achtköpfige Gruppe – etwas desorientiert herein und ordnete sich auf der Galerie gegenüber der Bühne. Ich setzte mich an den Flügel und begann, What I did for love zu singen und mich dabei selbst zu begleiten, um mich von den Besuchern abzulenken, die hereinströmten. Mrs. Paige wuselte derweil ständig über die Bühne und baute eine riesige Musikbox auf – offenbar hatte sie ebenso wie ich Bedenken, was das Orchester und mich anging. Ich sang recht selbstvergessen vor mich hin, und einmal zog Mrs. Paige mich an den Schultern hoch und drückte meinen Rücken durch und murmelte dann irgendetwas genervtes, weil das Orchester begann, sich einzuspielen. Doch schließlich, um kurz nach neun, knipste sie das Mikro an.
„Meine Damen und Herren, herzlich Willkommen an unserer Schule! Mein Name ist Paige und in den nächsten zwei Stunden werden zwei meiner Schüler – Anouk und Michael – gemeinsam mit mir an ihrem aktuellen Song arbeiten.“ Sie beschrieb kurz den Verlauf einer typischen Gesangsstunde machte mit mir noch einmal ein paar Stimmübungen vor, ehe sie die CD mit dem Karaoke-Playback einlegte – zum Glück!
„Anouk hat vor einigen Tagen begonnen, die Arie Love never dies aus dem gleichnamigen Musical zu singen – viele werden es sicher kennen, es handelt sich dabei um die Fortsetzung des Phantoms der Oper.“ Wieder ein paar theoretische Angaben zum Lied.
„Gut Anouk, konzentrieren Sie sich einfach auf das Lied!“, sagte sie leise zu mir. „Sie werden gleich auch einmal mit Orchesterbegleitung singen, aber nur, wenn der Song sitzt. Mein Kollege hat mir versichert, dass der Song vom Orchester einwandfrei eingeübt ist.“
Ich nickte und stellte mich in die Mitte der Bühne, schloss die Augen, um mich besser auf meinen Einsatz konzentrieren zu können.
Es lief erst nicht besonders gut für mich. Die Aula füllte sich, während ich immer wieder an der gleichen Stelle versagte: in der vorletzten Zeile Life may be fleeting, wo der Song seine höchste Stelle erreichte, brach meine Stimme immer wieder weg – manchmal sogar schon vorher. Ich war ziemlich frustriert, wollte es mir aber nicht zu sehr anmerken lassen. Außerdem hatte ich Halsweh. Mrs. Paige machte abermals Stimmübungen, die sie gleichzeitig kommentierte: „Sie sehen, nicht immer klappt alles auf Anhieb. Wir achten sehr darauf, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Stimmen nicht überstrapazieren.“ Sie ließ mich dann die Tonleiter sehr langsam durchsingen, immer höher, bis zu der Note, bei der meine Stimme immer wieder knickte, und ich schaffte es mit Ach und Krach. Michael reichte mir meinen gefühlten vierten Liter Tee, den ich hinunter stürzte, ehe wir es noch einmal versuchten.
Und dann geschah etwas seltsames.
Erst war alles wie immer: ich sang und fühlte mich in den Song hinein. Aber plötzlich schlich sich Jamie in meine Gedanken, gerade als ich sang Love gives you pleasure/ And love brings you pain/ And yet when both are gone/ Love will still remain… Normalerweise geriet meine Stimme ins Stolpern, wenn ich an ihn dachte; nicht so jetzt. Vielmehr schien seine mentale Anwesenheit mich zu beflügeln oder gab mir neuen Mut – wie auch immer, ich lief zu Höchstleistungen auf: das berauschende Gefühl, nicht nur von Musik ausgefüllt zu sein, sondern aus ihr zu bestehen, durchflutete mich, ich war nicht mehr ich selbst. Ich schwebte auf Notenzeilen dahin, immer den richtigen Tönen nach, und die gefürchtete Stelle rückte näher und näher, aber meine Stimme nahm Anlauf und schnellte in die Höhe, sprang einfach darüber und klang weiter, unschuldig, als sei nichts geschehen. Der Raum allerdings schien den Atem anzuhalten – genau wie ich, als der Song vorbei war und ich völlig verdutzt ob meinem Höhenflug den Applaus entgegen nahm. Mrs. Paige geriet kurz völlig aus dem Häuschen.
„Anouk, fantastisch, genau das, was ich erreichen wollte!“, sagte sie geradezu euphorisch. „Können Sie das halten? – Einen Song, wir brauchen einen Song… Fabelhaft, wie fühlen Sie sich? – Michael, kommen Sie doch mal her!“
Ich antwortete gar nicht.
„Planänderung“, sagte Mrs. Paige ins Mikro und winkte dem Orchester zu. „Somewhere, Westsidestory!
Geraschel und Gemurmel.
„Okay“, murmelte ich völlig irritiert, als das Orchester zu spielen begann. Wir sangen das Duett, und es gelang mir noch einmal, plötzlich mit beängstigender Leichtigkeit, diesen hohen Ton zu halten. Nur am Rande bekam ich mit, dass Mrs. Paige von zwei Menschen in Beschlag genommen wurde, die sich die ganze Zeit irgendwelche Notizen machten.
„Gut, danke ihr zwei“, sagte Mrs. Paige, als wir geendet hatten. „Anouk, Sie dürfen sich jetzt eine Pause gönnen, Michael wird jetzt Ihre Stelle einnehmen.“
Ich nickte und verließ die Bühne, vergaß vor lauter Stolz meinen Kram und musste noch einmal zurück, um alles zusammen zu raffen. Vor der Aula wurde ich mit ziemlich viel Lärm empfangen.
„Was war das denn?", schrie Sarah, und Liam küsste mich.
„Das war das beste, was ich je von dir gehört habe!“, meinte er. „Und dein Kleid sieht auch sehr hübsch aus.“
„Öhm, danke“, antwortete ich, total überfordert. Von drinnen ertönte Michaels angenehmer Bariton.
„Kommt, wir sind solidarisch und schauen uns an, was er singt“, schlug Isabelle dann vor, und gemeinsam gingen wir in die Aula zurück.

Anm.: Da ich notentechnisch leider gänzlich unwissend bin, kann ich den "hohen Ton" nicht konkret benennen. Vlt kann mir jemand helfen? Es ist ungefähr der Ton, den Sierra ab 3:44 in diesem Video singt: http://www.youtube.com/watch?v=l_4fo5KSnQk
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 24.07.2014, 09:36:37

Ein sehr schöner Teil. Toll, dass Anouk über sich hinauswächst! Sehe ich da etwa schon ein neues Engagement auf sie zukommen, wenn Menschen Mrs Paige belagern und sich notizen machen? Ich würde mich für die freuen.
Un nein, ganz gewiss wird es nicht langweilig. Ich habe nur an diese Andeutungen zur Jetzt-Zeit denken müssen und wollte das mal erwähnt haben. Von mir auch kann es noch ganz ganz lange so weitergehen, bevor die Jetzt-Zeit erreicht wird. Ich finde nur, dass es das auch spannend macht, wenn man weiß, wo sie dann plötzlich ist. Meine Story hatte ich ja direkt in der Jetzt-Zeit starten lassen und hab noch eine Rückblende in die Zeit geplant, so zwischendrin. War nur eine kleine Anregung, vllt passt es ja. Wenn nicht, auch gut. Ich kann auf jeden Fall nicht genug von deiner Geschichte kriegen und find sie richtig klasse! Könnte fast neidisch werden, dass du sooo gut vorankommst, so als schreiberling, der nichts produziert momentan. Aber als Leser find ich es absolut genial ;) Weiter so!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 24.07.2014, 16:06:23

Achso, dann bin ich beruhigt! Und ich zweifle nicht, dass du auch bald wieder eine produktive Phase haben wirst ;) Ich würde mich jedenfalls freuen.
Und zu der Sache mit der Rückblende: da ist noch ein wenig Geduld gefragt, ehe wir in der Jetzt-Zeit ankommen, aber es ist auch nicht mehr zu lang :)

Wir gesellten uns wieder zwischen die Zuschauer, und ich sah den vertrauten Vorgängen des Gesangsunterrichts zu, als mich plötzlich jemand in die Seite stieß. Ich dachte erst, es sei das Versehen eines Besuchers und reagierte gar nicht.
„Hast du Star-Allüren oder warum redest du nicht mehr mit mir?“, fragte eine vertraute Stimme an meinem Ohr. Ich zuckte zurück – vor mir stand Bertelin und grinste mich an.
„Oh – hallo!“, sagte ich erstaunt. „Was machen Sie denn hier?“
„Nun, eigentlich begleite ich zwei meiner Schüler hierher, aber ich dachte, ich könnte dich ja auch mal besuchen und ein bisschen vor ihnen angeben.“
„Wer von uns beiden hat denn hier Karriere gemacht?“, fragte ich im Spaß.
Ich habe deinen Weg geebnet!“, meinte er dramatisch. Ich kicherte leise.
„Kommen Sie doch gleich in Raum G4“, schlug ich dann vor. „Dort werde ich die interessierten Schüler beraten.“
„Das klingt doch interessant“, gab er zu.
„Und wohin geht’s danach?“
Wir drehten uns beide zu der dritten Stimme um, die sich einmischte. Vorne beendete Michael gerade seinen Song, und die Besucher klatschten.
„Daniel!“, sagte ich, erneut überrascht. Er grinste.
„Hallo, Anouk!“ Wir standen kurz zögernd und seltsam unsicher voreinander, dann lachten wir und umarmten uns.
„Wie geht es dir?“, fragte er.
„Sehr gut. Aber wie kommst du hierher?“
„Ich wollte dich noch mal in Action sehen“, erklärte er.
„Wie schön, Fiyero und Elphaba immer noch einträchtig vereint zu sehen“, kommentierte Bertelin trocken.
„Nun, eigentlich bin ich jetzt ihr Fiyero“, mischte sich Liam ein und legte demonstrativ den Arm um meine Mitte. Ich beobachtete, wie er und Daniel sich von oben bis unten musterten und musste mir ein Lachen gehörig verkneifen. Hier waren sie, die männlichen Egos, und zwar in ihrer reinsten, urzeitlichen Form.
„Niemand ist mein Fiyero“, stellte ich dann aber klar. „Ich bin nämlich ich, wisst ihr? Oder bin ich über Nacht grün geworden?“
„Wenn hier jemand grün wird, dann vor Neid“, entgegnete Bertelin schnippisch. „Wie meine beiden Schüler da hinten, die sich nicht hertrauen, weil ich mit einer beliebten Musicalsängerin spreche.“
Ich sah zu den zwei Jungen hinüber, die zu uns blickten und offenbar nicht genau wussten, was sie jetzt tun sollten.
„Schicken Sie sie ruhig zu den Beratungsräumen!“, sagte ich noch einmal und sah dann Liam an. „Wie ist es, wollen wir uns langsam mal auf den Weg dahin machen?“
Er lächelte. „Klar“, antwortete er und küsste mich. Ich sah Daniel verlegen an.
„Also, um deine Frage zu beantworten… Um ungefähr viertel vor zwei kannst du mir beim Stepptanzen zusehen. Oder beim Pinguintanz, so kann man’s bei mir auch nennen…“
„So ein Quatsch!“, fiel Liam mir ins Wort. „Sie ist inzwischen viel besser! Sie redet sich nur immer ein, schlecht zu sein!“
„Ja“, entgegnete Daniel und sah mich an. „Das hat sie früher schon. Dabei war sie immer die beste.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand einfach zwischen den Menschenmassen. Ich drehte mich zu Liam um.
„Das war ganz schon blöd von dir, weißt du?“, sagte ich gereizt. Er hob unschuldig die Schultern. „Ich wollte nur klarstellen-“
„Hier gibt’s nichts klarzustellen!“, unterbrach ich ihn.
„Oh-oh, hormongesteuerte Beziehungsdiskussion! Ich bin weg.“ Bertelin eilte zu seinen Schülern. Liam und ich starrten ihm beide verdutzt nach – und mussten lachen.
„Ich wollte ihm einfach nur zeigen, wie sich ein guter Freund benimmt“, lenkte er dann ein. „Tut mir leid, wenn ich ihn verletzt habe.“
„Schon gut“, seufzte ich. Es war nicht mehr zu ändern.

Die Beratungsgespräche machten mehr Spaß, als ich angenommen hatte. Die Besucher stellten meist interessierte und sinnvolle Fragen, die mir sogar manchmal Schwierigkeiten bereiteten. Und die anschließenden Stepptanzstunden gelangen ebenfalls: wir probten das erste Mal eine neu erarbeitete Choreographie in der Gruppe, und es gelang so gut, dass wir uns beinahe frenetisch freuten. Noch nie waren wir so synchron gewesen!
„Tja, ich schätze, wir neigen uns tatsächlich dem Ende zu“, meinte Sarah nostalgisch. „Irgendwann gibt es nichts mehr, was uns große Probleme bereitet.“
„Aber zum Glück werden wir nie immer das Gleiche machen!“, warf Mark ein. „Wie irgendeinen Bürojob!“
Wir verzogen gespielt angeekelt die Gesichter und lachten. Aber als wir aus der Umkleide kamen, blieb ich stehen. Am Ende des Flures stand meine Mutter, und sie war nicht allein. Mein Vater, der natürlich auch da war, stand bei ihr, und sie schienen sich tatsächlich zu unterhalten. Ich zögerte noch, ob ich zu ihnen gehen wollte, da wurde mir die Entscheidung von Mrs. Paige und einem weiteren unerwarteten Besucher abgenommen: in Begleitung von Marius kam sie auf mich zu. Da sie offenbar mit mir reden wollte, beschloss ich, meine Eltern noch eine Weile miteinander sprechen zu lassen, und drehte mich zu meiner Lehrerin und meinem ehemaligen Arbeitskollegen zu. Inzwischen war ich schon gar nicht mehr besonders überrascht; dieser Tag hatte so viel Unerwartetes für mich parat gehabt, dass ich schon fast mit Marius oder jemand anderem aus dem Rebecca-Ensemble gerechnet hatte.
„Gute Neuigkeiten“, sagte er zu mir, nachdem wir uns begrüßt hatten.
„Wird Rebecca noch mal aufgeführt?“, riet ich. Er lachte und schüttelte den Kopf.
„Nun, so gut nun auch wieder nicht. Obwohl – das könnte sich ja bald ändern.“
Ich sah zwischen ihm und Mrs. Paige hin und her. „Was gibt es denn?“, fragte ich ein wenig ungeduldig, weil sie mich so auf die Folter spannten. Mrs. Paige hielt mit einen weißen Briefumschlag entgegen, der ziemlich dick war.
„Der ist ja schon geöffnet!“, stellte ich fest. Aber als ich die Papiere durchlas, vergaß ich meinen Ärger darüber.
„Eine Einladung!“, sagte ich erfreut. Es handelte sich um eine Audition für ein Engagement bei Westsidestory, und zwar für die Rolle der Maria. Und das Engagement würde auch noch direkt nach meinem Abschluss beginnen!
„Das ist… toll!“, sagte ich.
„Und eine große Chance“, ergänzte Mrs. Paige. „Wenn Sie ein Engagement bekommen, haben Sie direkt festen Boden unter den Füßen.“
Ich las noch einmal die Rollenbeschreibung, und plötzlich sank meine Freude ein wenig. Bei der Sache gab es nämlich einen Haken: Westsidestory zählte nicht zu den Musicals, die ich mir als Start in mein Arbeitsleben gewünscht hätte...
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 24.07.2014, 17:21:27

Was sind schon Wünsche und Träume? Maria ist die Hauptrolle!! Und spielt Marius vllt den Tony?
Ich mag den Teil und bin gespannt, was aus dem Gespräch ihrer Eltern wird. Bald weiter bitte :)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 25.07.2014, 13:13:30

Ich verrate noch nichts ;) Aber du hast Recht, in Anouks Situation darf es erst mal keine speziellen Wünsche geben - das sieht sie im folgenden Teil mit etwas Hilfe auch ein: (Und was aus den Eltern wird - dazu später mehr ;))

Auditions und eventuelle Engagements waren ein großes Thema. Denn für uns frisch gebackene Musicaldarsteller würde es sehr erleichternd sein, wenigstens eine Ensemblerolle zu bekommen – nach der Schule würde nun endgültig der „Ernst des Lebens“ beginnen. Der Markt war voller Konkurrenz und, wie uns die Lehrer versicherten, besonders anfangs sehr hart: „Es kann – und wird – frustrierend für Sie sein festzustellen, dass für viele Shows, besonders für recht neue, erfahrenere und beliebtere Darsteller gewählt werden, allein um den Erfolg anzukurbeln.“ Fairness war bei Rollenvergabe nicht immer großgeschrieben, und allmählich wurden wir von der Angst gepackt: Agenten mussten gefunden, Internetseiten eingerichtet und Engagements gefunden werden. Ich war schon sehr froh, dass ich einen großen Erfolg zu verbuchen hatte, so würde mir der Einstieg ins Berufsleben sicher leichter fallen. Aber ich hatte auch Mitleid mit jenen, die immer wieder hoffnungsvoll zu Auditions gingen – und enttäuscht wurden. Und fühlte mich schlecht, weil ich meine Einladung nicht so recht zu würdigen wusste.
Ich haderte sehr lange mit mir, aber dann musste ich mich jemandem anvertrauen. Jemandem mit Erfahrung. Ich wollte einfach mein übervolles Herz ausschütten über alles, das mir seit dem Tag der offenen Tür durch den Kopf ging: war es richtig, zu einer Audition zu gehen, obwohl ich mir sehr unsicher war, dass ich die Rolle überhaupt haben wollte? Andererseits, wenn ich nicht ging: würde das dieser kleine Moment sein, der alles verspielt? Würde ich mein Talent vergeuden, wenn ich mich für andere, vielleicht kleinere aber für mich sympathischere Engagements bewarb? Und wie lange konnte ich gegen die Konkurrenz durchhalten? Welche Alternativen hatte ich? Diese Fragen waren nur ein kleiner Teil eines großen Ganzen, das mein Denken täglich und quälend ausfüllte.
Als Mrs. Paige sich mit mir über die anstehende Audition unterhalten wollte, quoll das alles aus mir heraus. Meine Zweifel, meine Ängste. Versicherungen, dass ich mich wohl fühlte, aber plötzlich unerklärliche Bedenken hatte. War ich nicht etwas zu jung für eine Midlife-Crisis? Zum Glück hörte Mrs. Paige mir sehr ruhig zu und unterbrach mich kein einziges Mal. Fast fünfzehn Minuten lang vertrödelte ich den nötigen Unterricht, indem ich über meine Probleme sprach.
„Ich… weiß einfach nicht… was los ist“, endete ich, verwirrt und erschöpft. „Ich fühle mich schlecht, weil manche überhaupt kein Engagement bekommen, und ich die Möglichkeit gar nicht will.“
Mrs. Paige schien sich die Worte, mit denen sie antwortete, sehr sorgfältig zurechtzulegen, ehe sie sagte: „Seien Sie versichert, dass Sie nicht die einzigste mit solchen Zweifeln sind. Schon viele vor Ihnen mussten sich mit denselben Dingen beschäftigen. Ich werde Ihnen den Rat geben, den ich allen gab: gehen sie zu der Audition. Und wenn Sie ein Engagement bekommen, nehmen Sie es an! Nicht gegen Ihren Willen oder nur um damit Geld zu verdienen. Im Schauspiel ist es wichtig, nicht nur aus Geldsorgen einen Job anzunehmen, sondern der Rolle wegen, die Sie bereichern wird. Schauen Sie sich noch einmal das Musical an, hören Sie die Musik. Schreiben Sie alle Dinge heraus, die Maria sympathisch und spielenswert machen. Kein Engagement ist gleich, und es kommen Zeiten, in denen Sie sich fragen: was mache ich eigentlich hier? Aber ich verspreche Ihnen: wenn der Durchbruch gelingt, und auch, wenn Sie nur im Kleinen spielen, werden Sie reich belohnt werden.“
Ich empfand ihre Antwort als etwas kitschig, aber doch sehr hilfreich, und tat, wie sie sagte: ich sah mir den Film an und schrieb sorgfältig alle Dinge auf, die mich an Maria wirklich reizen würde, und bekam sehr bald eine positivere Sichtweise auf sie.
Das Leben ist lang, sagte ich mir, und du fängst gerade erst mit dem Spielen an. Mrs. Paige hat Recht – alles wird mit der Zeit kommen.

Die folgenden Herbstferien konnte ich dieses Jahr nicht zu Hause verbringen. Zwischen Prüfungsangst und Auditionstress saß uns unsere Abschlussarbeit im Nacken, und am ersten Ferienmontag trafen wir uns im nächstliegenden Theater, dessen kleine Bühne uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde, und begannen, wild Ideen hin und her zu werfen.
„Ich weiß nicht, wieso“, begann Mark, „aber ich bin für irgendwas fantasievolles. So etwas wie Sommernachtstraum in Musicalform.“
„Aber den gibt es ja schon“, widersprach Emilia. „Wir sollen etwas ganz neues schaffen!“
„Ich wollte ja nur ein Beispiel machen!“
„Ich finde es eh dumm, dass sie das Konzept ausgerechnet dieses Jahr geändert haben“, warf Isabelle ein. „Ich hätte so gern ein großes Musical gespielt.“
„Nicht mehr zu ändern“, meinte Michael ruhig. „Ich finde diese Aufgabe ganz interessant.“
„Ja, aber zeitraubend“, klagte Anna. „Nicht nur proben, sondern auch erfinden!“
„Wenigstens müssen wir die Songs nicht auch komponieren!“, murmelte Anita.
„Was haltet ihr von der Idee, unsere Geschichten auf die Bühne zu bringen?“, nahm Mark den Faden wieder auf.
„Zu langweilig!“, urteilte Sarah. „So etwas ähnliches hatten Anouk und ich schon in der Show vom ersten Jahr.“
„Fällt sie deshalb schon ganz weg?“, erkundigte sich Liam, „weil zwei sie hatten?“
„Hm, ich denke schon“, antwortete ich. „Außerdem scheint mir das tatsächlich ein bisschen zu einfach. Die eigenen Geschichten erzählen ist immer das einfachste, aber nicht immer das spannendste.“
„Irgendetwas historisches? Ich finde, Ludwig XVI ist eine spannende Persönlichkeit. Außerdem war er mit Elisabeth befreundet, die ist ja auch ein beliebter Charakter.“
„Das war Ludwig II, du Schlaumeier!“, meinte Emilia. „Und Elisabeth ist wieder so ein klassisches Erfolgsrezept.“
„Ach, dann schlag was besseres vor!“, giftete Mark, dem sein geschichtlicher Fehltritt sehr peinlich zu sein schien.
„Halt! So geht das nicht!“ Michael stand auf. „So kommen wir nie weiter. Ich schlage vor, wir ernennen ein oder zwei Leute zu den vorübergehenden Projektleitern – nur, damit nicht alles in Chaos ausartet.“
„Du“, meinte Isabelle, „und Aubrey.“
Wir nickten, und Aubrey stand ebenfalls auf. „Okay. Wie wäre es, wenn wir uns melden? Dann hört dieses Durcheinanderreden auch auf und jeder kommt zu Wort.“
Sofort hob sich der erste Finger, Michael nickte Anna zu.
„Ich habe mir schon Gedanken über das Stück gemacht“, sagte sie schüchtern. „Ich dachte eher an etwas… komödiantisches. Alke Musicals sind doch immer sehr ernst…“ Sie zögerte.
„Nur weiter“, ermunterte Michael sie. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass im Moment niemand eine richtige Idee hat.“
Sie nickte und holte tief Luft. „Was wäre, wenn wir uns und das Musicalgenre selbst parodieren?“
Darauf herrschte kurz Schweigen, ehe alle durcheinander sprachen.
„Unmöglich! Sie denken, wir sind undankbar!“
„Wer nimmt uns das ab?“
„Versteht ihr keinen Spaß?“
„Selbstironie ist total angesagt!“
„Ja, dunkler Humor!“
„So ein Unsinn, das wird uns nie erlaubt!“
„Stopp!“, rief Michael. „Leute, ich habe doch gesagt, Handzeichen!“ Er wandte sich an Anna. „Ich verstehe, was du meinst. Kannst du vielleicht noch genauer erklären…?“
„Aber sicher.“ Sie sah in die Runde, offenbar etwas verunsichert von der hitzigen Diskussion, die sie ausgelöst hatte. „Ich möchte uns oder unseren Beruf keineswegs schlecht machen“, erklärte sie, „aber ich dachte daran, dass wir uns selbst als Schüler spielen – von mir aus auch mit anderen Namen. Einer ist in der Situation, dass er nicht weiß, zu welcher Audition er gehen soll, und dann spielen wir das Musical ganz schnell durch, sozusagen stichwortartig: sie berühmtesten Lieder werden in einen Medley gefasst.“
„Hm, das wäre eine Idee“, murmelte Emilia.
„In einer anderen Szene werden total viele Klischees bedient, zum Beispiel bei Proben für das Stück: der Choreograph ist stockschwul, die Hauptdarstellerin hat Starallüren, das Ensemble motzt und streikt…“
Jemand begann zu kichern. „Ich bekomme da gerade ganz viele Ideen!“, sagte Mark. „Wisst ihr noch unsere erste Steppstunde? Ich bin nie mitgekommen. Ein Lehrer oder Choreograph könnte ja total überschnell steppen!“
„Oh Mann, das hätte Jamie bestimmt gut gekonnt!“, meinte Sarah.
„Na, aber Mark ist ja auch nicht der schlechteste!“
„Quatsch, Mark muss doch den schwulen Choreographen spielen!“
Wir lachten, und Mark machte eine Siegerpose.
„Und wir brauchen natürlich noch den absoluten Musical-Frauenschwarm, dem immer kreischende Fans an den Beinen hängen!“, ergänzte ich und stieß Liam an.
„Ja, und wisst ihr noch…“, fuhr Aubrey fort, und wir verfielen in eine turbulente und sehr lustige Diskussion über Klischees und verschiedene Rollen. Irgendwann wurden Seiten um Seiten mit hektischer Handschrift gefüllt, um nur ja keine Idee zu vergessen. Und am Ende des Tages lehnten wir uns entspannt zurück.
„Jetzt haben wir schon mal einen Rahmen“, meinte Michael. „Ist irgendwer gegen dieses Stück?“ Als sich keiner meldete, fuhr er zufrieden fort: „Gut. Wir sollten Zuhause über mögliche Charaktere nachdenken und versuchen, alle so einzubringen, wie es sinnvoll ist. Danach können wir das Stück drum herum bauen!“
Wir schoben all unsere Notizen in eine einheitliche Mappe, und erschöpft, aber erleichtert traten wir den Heimweg an.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon little miss sunshine » 25.07.2014, 14:52:14

"Das einzigste" gibt's nicht *Klugscheiß-Modus off* :mrgreen:
Ansonsten wieder ein sehr schöner Teil,und die Idee eines ironischen Musicals find ich auch gut.
Auf jeden Fall finde ich es positiv,dass sie sich bei Mrs Paige - obwohl diese ja oft recht streng wirkt - aussprechen kann und auch ihren Rat befolgt; ich finde es für Anouks persönliche Entwicklung sehr wichtig,sich auch mit "eher ungeliebten Rollen" zu beschäftigen (und sie scheint ja auch langsam daran Gefallen zu finden^^).
Ich bin auf jeden Fall gespannt,wie es weitergeht...
Is this the real life, is this just fantasy...

The air is humming, and something great is coming!

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 25.07.2014, 15:46:58

Ein sehr schöner Teil! Mir gefällt die Idee dieser Parodie auch ganz gut, obwohl ich persönlich die Dramamusicals favorisiere. Dennoch für sowas eine tolle Idee. Ich bin sehr auf die Umsetzung gespannt! Es ist immer schwierig, die Personen in einer Geschichte so etwas ersinnen zu lassen, schließlich muss man sich ja selbst als Schreiber das alles ausdenken. Ich bin gespannt, was du uns präsentieren wirst (kannst es dann ja auch umsetzen ;)).
So und nun muss ich mich wieder an meine Masterarbeit setzen, aber deinen neuen Teil zu lesen, war eine willkommene Pause :)
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 29.07.2014, 16:21:53

So,nach einem kurzen Hänger geht's weiter:

Ich glaube kaum, dass es jemals so lustige und gleichzeitig stressige Proben gab wie die für unser Abschlussprojekt. Lustig, weil die Ideen gar nicht mehr abrissen und es furchtbaren Spaß machte, alle möglichen Situationen übertrieben darzustellen, stressig, weil beinahe jeden Tag jemand fehlte: eine Audition folgte auf die nächste, Vorsprechen und Üben überlappten sich mit unserem Probenplan… Es war nötig, diese Auditions zu besuchen, aber es war auch nötig, zu proben. Denn trotz alldem Spaß, den wir hatten, kam mir das Stück immer noch sehr unstrukturiert vor. Insgeheim war ich sogar froh, meine eigene Audition als Ausrede zu haben, um wenigstens für einen Tag den Kopf frei zu bekommen.
Es gibt nicht viel zu der Audition zu bereichten. Sie war wie alle anderen, und das wichtigste ist eigentlich, dass ich bereits in der ersten Runde rausflog. Es wurde mir sehr förmlich am Telefon und schriftlich mitgeteilt, und trotz meiner Zweifel schämte ich mich beinahe, so früh ausgeschieden zu sein.
„Mach dir nichts draus“, tröstete Liam mich, als ich etwas geknickt nach Hause kam. „Ich wette, du wirst bald eine weitere Audition finden. Irgendwer wird dich schon nehmen.“
„Du hast leicht reden“, erwiderte ich. „Bei dir ist ja noch alles offen.“ Liam hatte vor zwei Tagen eine Audition besucht – es ging um eine freie Ensemblerolle in Phantom der Oper.
„Das ist manchmal schlimmer, als Gewissheit zu haben“, hielt er weiterhin dagegen. Ich fand es lieb, dass er mich trösten wollte, aber trotzdem machte sich langsam eine unangenehme Panik in mir breit: was, wenn ich keinen Job bekam? Zurück in der WG setzte ich mich sofort an den PC und suchte im Internet nach laufenden Ausschreibungen.

Ich warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und stellte zufrieden fest, dass meine Frisur nach wie vor saß. Obwohl ich beinahe zwei Stunden dafür beim Frisör gesessen hatte, hatte ich ständig Angst gehabt, schon nach dem ersten Akt wie ein gerupftes Huhn auszusehen. Ich wusch mir bedächtig die Hände und belauschte zwei Frauen, die sich neben mir lautstark über das Stück unterhielten.
„…der Wahnsinn, da hast du Recht!“, sagte die eine gerade, deren Lippenstift im Mundwinkel verwischt war. Aber ihre Freundin, die das genaue Gegenteil von ihr war – dürr und lang – fand es offenbar nicht notwendig, sie darauf aufmerksam zu machen.
„Unter mir würde der Boden wahrscheinlich einsinken, wenn ich mich am Steppen versuchen sollte“, fuhr die dickere Frau fort.
„Ach, du“, erwiderte die andere, und ich nutzte die Suche nach dem Handtuchspender als Alibi, um sie mit einem eingehenden Blick zu streifen. Gerade sah sie ihre Begleitung recht hochnäsig an.
„Als Mädchen habe ich auch ein paar Monate Stepp gemacht, so schwer ist das nun wirklich nicht.“
Ich hätte ihr gern gesagt, wie schwer Stepptanz war, aber ich ließ es sein. Stattdessen warf ich meinen zerknüllten Handtuchball in den Papierkorb. Plötzlich entstand hinter mir ein kleiner Aufruhr, mehrere Frauen gaben empörte Laute von sich.
„Anouk!“
Ich drehte mich verblüfft um.
„Hören Sie mal, junger Mann!“, sagte die dürre Pseudo-Stepptänzerin, „das ist das Frauenklo!“
Liam beachtete sie gar nicht. Er kam schnurstracks auf mich zu, ein breites Grinsen im Gesicht, in einer Hand sein Handy.
„Rate mal, wer grade angerufen hat“, sagte er und nahm mich in den Arm. Und antwortete gleich selbst: „Ich bin im Ensemble von Phantom der Oper! Und auch noch Cover Raoul!“
„Wahnsinn!“, schrie ich, und wir fielen uns wieder in die Arme. Ein paar Frauen applaudierten, andere stellten neugierige Fragen und andere guckten immer noch böse. Liam setzte mich ab, nahm meine Hand und zog mich wieder aus den Toilettenräumen.
„Ich fasse es nicht!“, sagte er. „Ab Sommer werde ich in Hamburg spielen!“
„Das ist toll!“, bestätigte ich und unterdrückte die Angst, die sich in mir breit machte. Angst, dass unsere Beziehung der Entfernung nicht standhalten würde – denn von Hamburg aus war Düsseldorf nicht gerade um die Ecke. Ich schob den Gedanken beiseite. Noch war nichts sicher, und ich wollte nicht denken, wollte nicht hoffen, dass ich die Rolle bekommen könnte…
Im Zuschauerraum, der glücklicherweise weitgehend leer war, wurde Liam stürmisch gefeiert.
„Du wirst Hamburg rocken!“, meinte Michael enthusiastisch. „Ich sehe dich schon als Phantom!“
„Na, erst mal ist er ja Raoul“, warf Sarah bodenständig ein. Der erste Gong ertönte und mit ihm strömten die Besucher wieder in den Saal.
„So, ihr Lieben, es geht weiter!“, dröhnte Parkers Stimme vom anderen Ende der Reihe.
Es war Samstagabend und wir saßen in der Premiere zu 42nd-Street, die wir natürlich im Rahmen unserer Ausbildung besuchten. Schon vor der Show hatten wir einige Darsteller besuchen und mit ihnen einige Tanzschritte wagen dürfen sowie Bühnenluft schnuppern. Ich freute mich, dass wir die Gelegenheit hatten, diese Premiere zu besuchen und war bisher, gelinde gesagt, beeindruckt.
Der zweite Akt begann und ich spürte, wie Liam nach meiner Hand griff, die auf der Armlehne lag. Ich sah zu ihm und bemerkte, wie glücklich er aussah. Aber in seinem Blick, den er mir zuwarf, konnte ich die gleichen Gedanken sehen, die mich eben noch gequält hatten.
Das ängstliche Gefühl war wieder da und ich kämpfte mit aller Macht dagegen an, während auf der Bühne die Show fröhlich weiterging.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
Nur mein Gift macht dich gesund
um zu leben musst du sterben

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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 29.07.2014, 17:15:54

Schöner Teil!
Beinahe bekommen mir "die Kleinen" aus der Schule zu große Rollen, aber es sei ihnen gegönnt ;)
Düsseldorf? Was spielen sie denn dort? Ich verharre gespannt!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 30.07.2014, 10:58:38

Ich versuche realistisch zu bleiben, aber ich gönne es ihnen ja auch ;)

Zeitsprung: 4. Dezember
Das Telefon klingelte, schrill und unnachgiebig. Ich sah von dem Kuchenteig auf, den ich knetete.
„Kann bitte jemand rangehen?“, rief ich in die Wohnung.
„Tut mir leid, ich bin in Eile!“, rief Melissa, und kurz darauf knallte auch schon die Haustüre zu.
„Sebastian?“
„Der schläft noch“, sagte Jens, tappste mit verstrubbelten Haaren in die Küche und begann gemächlich, sich einen Kaffee zu machen. Das Telefon klingelte immer noch.
„Herrgott noch mal!“, sagte ich gereizt, warf den Teig hin und putzte mir die Finger notdürftig am Spültuch ab, ehe ich ins Wohnzimmer rannte. Das Telefon stand nicht auf der Station.
„Wo ist das Scheißteil?“, fluchte ich und warf alle Kissen von der Couch – das Telefon lag in der Ritze und hörte genau in dem Moment auf zu klingeln, in dem ich es in die Hand nahm.
„Ach, verdammt!“ Ich legte es auf den Wohnzimmertisch und ging zurück in die Küche, um mir die Finger zu waschen.
„Erwartest du einen Anruf?“, fragte Jens, der nach einer durchzechten Nacht offenbar noch etwas angeschlagen war.
„Ja“, sagte ich übertrieben geduldig, „steht aber auch auf dem Zettel da.“ Ich wies auf unsere neue Pinnwand. Eigentlich war sie dazu da, uns gegenseitig über wichtiges zu informieren, aber ich war die einzige, die regelmäßig draufschaute. Jens nahm den Zettel ab und hielt ihn sich ziemlich nah vor die Augen.
„Lucas van de Kraaijenberg“, las er ungelenk vor. „Wer soll das sein?“
Ich sparte mir die Antwort, denn erstens standen die nötigen Informationen drunter und zweitens klingelte das Telefon schon wieder. Diesmal war ich schneller dran.
„Steger?“, meldete ich mich atemlos und mit klopfendem Herze. Bitte, lass es ihn sein, bitte, bitte, bitte…
„Guten Tag, Frau Steger“, meldete sich eine Stimme mit niederländischem Akzent (er sagte „Chuten Tach, Frrau Stecher“), „hier ist van Kraaijenberg.“
„Hallo“, sagte ich und setzte mich vorsichtshalber.
„Frau Steger, es tut uns sehr leid, dass wir so lange gebraucht haben, um Sie zu erreichen, es gibt einige organisatorische Probleme hier, aber jetzt ist wieder alles so weit in Ordnung.“
„Das macht doch nichts“, erwiderte ich. „Bei den Auditions konnte ich mich ja schon in Geduld üben.“
„Ah, das stimmt“, schmunzelte er (zwei Mal hatte die letzte Audition-Runde verlegt werden müssen). „Ich gehe davon aus, dass Sie unsere E-Mail noch nicht erhalten haben?“
„Nein“, antwortete ich vorsichtig. Ich hatte meine Mails eben erst nachgesehen. Er schnalzte ungeduldig mit der Zunge.
„Na, Sie werden den Bescheid auch noch schriftlich bekommen, bis dahin müssen Sie auf mein Wort vertrauen: Herzlichen Glückwunsch, Sie spielen ab Oktober nächsten Jahres die Rolle der Johanna.“
Obwohl das Gespräch mich darauf vorbereitet hatte, war ich völlig aus dem Häuschen. „Vielen Dank!“, sagte ich begeistert.
„Nun, bedanken sie sich bei Ihrem überzeugenden Talent“, erwiderte er. Wir plauderten noch eine Weile, zumindest versuchten wir es, aber er schien zu merken, dass ich mich auf ein richtiges Gespräch nicht mehr konzentrieren konnte.
„Also, die Proben beginnen Mitte Juni. Wir haben leider einen sehr engen Zeitplan… Na ja, Sie werden noch alle Informationen bekommen. Haben Sie schon eine Agentin?“
„Noch nicht“, antwortete ich. „Aber es kann nicht mehr lange dauern.“
„Alles klar“, sagte er. „Dann wünsche ich Ihnen noch ein erfolgreiches letztes Schuljahr!“
Wir verabschiedeten uns und ich legte das Telefon benommen auf meine Knie.
„Ein neues Engagement?“, fragte Jens und setzte sich neben mich, eine Schüssel Müsli in der Hand.
„Ja. Johanna in Sweeney Todd.“
Er nickte; inzwischen kannten meine Mitbewohner sich aus, was Musicals anging.
„Wo?“
„In Düsseldorf.“
Wir schwiegen kurz. „Tja“, meinte er dann, „das heißt dann wohl, dass du bald weg bist?“
„Ich fürchte schon“, antwortete ich.
„Was heißt hier fürchten? Du hast eine tolle Rolle, und wir halten dir immer eine Sofaecke frei!“
Ich lächelte. „Das ist lieb.“ Aber jetzt musste ich dringend meinen Freunden von meinem Erfolg erzählen.

Es schneite, dicke, wattige Flocken. Ich stand in dem verabredeten Türeingang und spürte mein Herz höher schlagen. Aufregung, Angst – alles war dabei. Langsam ließ ich meinen Blick durch die Fußgängerzone gleiten. Schräg gegenüber von mir stand Mark unter dem Schutz des Vordaches einer Drogerie. Menschen strömten hinein, und Menschen strömten hinaus. Er hob kurz die Hand und nickte mir zu, und ich gab meinerseits das Zeichen weiter – an Anna, die neben einem älteren Ehepaar auf einer Bank saß. Und so ging es weiter: Anna an Emilia, die sich an einem Werbestand bequatschen ließ, Emilia unauffällig an Liam, der sich mit Michael unterhielt, Liam an Aubrey, die an Isabelle, welche sich die Auslagen an einem Gemüsestand anzusehen schien. Ich sah, wie sie Aneta zuwinkte und wie Aneta das Zeichen ein letztes Mal weitergab, an Sarah. Die saß ebenfalls auf einer Bank, und ich konnte ihre Anspannung sehen, als sie den großen Kassettenrekorder aufnahm und ihn langsam in die Mitte der Fußgängerzone trug. Gleichzeitig schlenderte Liam langsam näher. Die ersten Leute blieben stehen und drehten sich um, als die Musik einsetzte und er zu singen begann:
Do you hear the people sing/ Singing he song of angry men?…” Ich sah begeistert zu, wie Mark zu ihm trat und ihm total dramatisch die Hand auf die Schulter legte, während er den Combeferre-Part anstimmte, und als Michael ebenfalls hinzu trat, um Courfeyrac zu mimen, kam der Rest ebenfalls näher. Gemeinsam sangen wir den Refrain, und Aubrey übernahm die Strophe von Feulliy, wie es abgesprochen war.
Es war ein unglaubliches Gefühl: ich sah, wie die Menschen stehen blieben, wie sie sich verwundert und manchmal auch verärgert umdrehten; wie das alte Ehepaar schon mit den Münzen klapperte und vergeblich einen Becher suchte; ich sah sogar den Akkordeonmann, der mich breit grinsend grüßte und uns mit seinem Instrument zur Seite stand.
„Kein Geld!“, rief Michael, als das Ehepaar ihm etwas geben wollte, und drückte ihnen stattdessen einen der frisch gedruckten Flyer in die Hand.
„Besuchen sie unser Abschlussprojekt! Wir garantieren ein 1a-Musical, mit Songs, die Sie zuvor noch nie in dieser Ausführung gesehen haben!“
Wir begannen nun ebenfalls, unsere Werbekarten zu verteilen. Mein Herz schlug immer noch sehr schnell und ich fühlte mich zittrig, aber glücklich.
„Das war großartig!“, sagte Melissa und trat neben mich. Ich hatte meine Mitbewohner auf den Plan gerufen, als Statisten-Zuschauer sozusagen.
„Ich hoffe nur, dass einige tatsächlich kommen“, erwiderte ich besorgt.
„Also, wir auf jeden Fall!“, versicherte sie mir nicht zum ersten Mal. „Und es ist ja noch fast ein halbes Jahr bis dahin!“
„Man kann nie früh genug mit der Werbung anfangen!“, entgegnete ich und drehte mich zu Liam um, der meine Hand in seiner hielt.
„Ich finde, das hat ganz gut geklappt“, sagte er zuversichtlich.
Ich nickte. Und außerdem würde es nicht die letzte Werbeaktion sein, die wir geplant hatten…
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 30.07.2014, 12:29:40

Ah, Sweeny Todd also. Ich muss gestehen, dass ich das Stück nicht kenne. Ist Johanna eine große Rolle`? Bei dem Namen musste ich zuerst an die Päpstin denken, aber das sollte sie doch dann lieber zusammen mit Liam spielen *g*
Die Werbeaktion gefällt mir sehr gut! Ich konnte es mir förmlich vorstellen, vor allem die Stelle, als der nächste dazutritt und die Hand auf die Schulter des anderen legt - das hatte ich fast schon gesehen, bevor ichs gelesen hab ;) Weiter so!
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Ophelia » 31.07.2014, 14:41:14

Gaefa hat geschrieben: Ist Johanna eine große Rolle`?

Es geht so - die größten Rollen sind natürlich Sweeney und Mrs. Lovett, dann Anthony und dann Johanna - so in der Reihenfolge würde ich sagen.
Jetzt kommt noch mal ein gewaltiger Zeitsprung - ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich die Zeitspanne sonst hätte füllen sollen.

Zeitsprung: 14. Juni

„Und du hast es schwarz auf weiß?“
„Ja, sagte ich doch gerade.“
„Ich meine: es ist alles geregelt? Keine weiteren Prüfungen? Klausuren? Vorsprechen? Ist wirklich alles vorbei?“
„Ja, Mama!“, erwiderte ich mit Nachdruck. „Na ja, nicht alles“, lenkte ich dann ein. „Du weißt ja, das Projekt…“
„Wie könnte ich das vergessen!“, fragte sie mit nasaler Stimme – sie heulte.
„Oh nein, Mama, bitte nicht!“, rief ich. „Das kannst du dir für meinen Abschlusstag aufheben!“ Ich begann ja selber, geradezu depressiv zu werden, weil das Schuljahr für uns nun offiziell beendet war. In den nächsten zwei Wochen würde man nur unser Stück zu sehen bekommen.
„Ach, mein Schatz, ich bin einfach so glücklich und stolz!“, schluchzte sie. „Wirklich, dass du deinen Weg gemacht hast, einfach so… Dabei war ich dir so ein schlechtes Vorbild!“
Ich klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, um die Hände frei zu haben. „So ein Unsinn, Mama!“, protestierte ich, während ich mir eine Spange ins Haar schob.
„Aber es stimmt doch“, erwiderte sie etwas lahm. „Weißt du noch, dass du heimlich Gesangsstunden genommen hast, weil du wusstest, ich könnte dir finanziell sowieso nicht helfen?“
„Ja, aber das ist jetzt vorbei“, stellte ich klar. „Du hast einen Job, du hast Geld, ich werde Geld haben.“
„Ja, so ist es wohl“, seufzte se wehmütig. „Übrigens, letztens habe ich Bertelin in der Stadt getroffen. Er will versuchen, zu einer der Aufführungen zu kommen.“
„Sehr gut! Hast du ordentlich Werbung gemacht?“ Warum rutschte diese verdammte Haarspange immer wieder raus? Ausgerechnet heute klappte gar nichts!
„Aber sicher. Die halbe Verwandtschaft wird auflaufen. – Wird dein Vater auch kommen?“
Ich hasste es, wenn sie dein Vater sagte – es klang immer so distanziert. Nun, ich durfte mich eigentlich nicht beschweren: seit dem Tag der offenen Tür schienen die beiden offenbar wieder miteinander warm zu werden. Papa war wirklich sehr höflich zu ihr, immer freundlich.
„Ja, wird er“, sagte ich geduldig. „Er kommt gar nicht drüber weg, dass ich von hier wegziehe.“
„Da hab ich schon mehr Glück“, kicherte sie. Ich verdrehte die Augen. Inzwischen fragte ich mich, wie ich auf ihren Vorschlag hatte eingehen können, das kleine Dachgeschoss-Apartment direkt über ihrer Wohnung zu beziehen? – Ach ja: die Finanzen. Und die Nähe zu Düsseldorf, mit dem Auto gerade mal eine halbe Stunde entfernt. Und mit der Bahn kaum länger, zum Glück – einen Führerschein hatte ich mit inzwischen fast einundzwanzig Jahren immer noch nicht.
„Mama, ich muss jetzt auflegen“, sagte ich mit einem Blick auf die Uhr.
„Noch viel zu tun?“
„Eigentlich schon“, sagte ich, während ich mich kritisch vorm Spiegel drehte. „Aber es ist der vierzehnte Juni.“
Sie schien etwas ratlos. „Was ist am vierzehnten Juni?“
Ich schwieg und nestelte an meinem Rocksaum herum. Draußen schien die Sonne, ich würde in meinem schwarzen Kleid wahrscheinlich zerfließen.
„Jetzt weiß ich’s wieder“, sagte sie plötzlich. „Ist es makaber, wenn ich dir viel Spaß wünsche?“
„Jamie würde so etwas auch sagen“, entgegnete ich. „Bis demnächst.“
„Bis dann, Schatz.“ Sie klang mitleidig, und ich legte rasch auf.

„Leute, ich glaube, es würde ihm nichts ausmachen, wenn wir in weiß gekommen wären“, ächzte Emilia und wischte sich über die Stirn. „Unter meinem T-Shirt ist die Temperatur ungefähr zweihundert Grad.“
„Nach dem Picknick wirst du nicht mehr so schwitzen“, erwiderte Michael, „weil wir den Korb da erleichtern werden.“
Emilia sah auf den voll bepackten Picknickkorb, den sie mitgebracht hatte. „Hoffentlich!“
Ich sah auf den Friedhof. Er sah fast idyllisch aus in dem strahlenden Sonnenlicht. Isabelle neben mir war ganz blass. Ich rieb ihr über die Schulter, und sie sah mich an und brachte tatsächlich ein Lächeln zustande.
„Nicht zu glauben, dass es ein Jahr her ist“, sagte sie leise. „Ich meine… merkst du, wie die Zeit fliegt? Es kommt mir vor, als wäre ich eben erst auf unsere Schule gekommen, und jetzt…“ Sie schüttelte fassungslos den Kopf und ich nickte bestätigend. Ja, ich wusste auch nicht, wo die Zeit geblieben war: das zweite Halbjahr war förmlich an uns vorbeigehuscht: Prüfungen, Choreographien, Workshops, Proben, lange Schultage, kurze Nächte – all das war so plötzlich vorbei, dass ich mich ziemlich haltlos und verloren fühlte.
„Da kommt endlich der letzte“, sagte Aubrey, und ich drehte mich um. Ja, da kam Mark, und er hielt ein französisches Papier-Nationalfähnchen in der Hand. Verwundert sah Liam darauf.
„Wofür hast du die dabei?“, fragte er ratlos.
„Na, Jamie hat doch immer von Frankreich geschwärmt!“, erklärte Mark. „Und ich dachte, ich stecke sie an sein Grab, weil heute doch der französische Nationalfeiertag ist.“
Michael schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. „Der ist am vierzehnten Juli, Mark! Es ist Juni!“
Mark sah ziemlich verdutzt aus, und wir brachen in schallendes Gelächter aus.
„Mal ehrlich, kennst du dich ein bisschen mit Geschichte aus?“, fragte Sarah. „Erst behauptest du, Elisabeth sei die Cousine von Ludwig XVI gewesen, und jetzt das!“
Mark sah niedergeschlagen auf das Fähnchen, aber dann hellte sich seine Miene auf. „Egal, Jamie mag Frankreich. Ob nun Juni oder Juli ist!“
Das konnte keiner widerlegen. Wir machten uns auf, um Jamies Grab zu besuchen, und wir waren nicht die ersten: eine Menge frischer Blumen lagen schon auf dem Grab. Wir hängten den riesigen Kranz, für den wir alle zusammengeworfen hatten, halb über den Grabstein, der wirklich wunderschön war. Direkt daneben wuchs eine Trauerweide, ihre langen Äste strichen sanft über die Erde. Wir standen eine Weile stumm herum, bis es zu schrecklich wurde.
„Ihr alten Langweiler!“, sagte Michael plötzlich. „Warum steht ihr so herum? – Das würde er sagen.“
„Wir sollten singen“, schlug Aubrey vor. „Irgendwas, was ihm gefällt.“
Lasst mich ruh’n auf dem grünen Feld“, begann Isabelle leise zu singen, „lasst mich ruh’n auf dem Feld der Ehre…
Meine Seele ist endlich frei, denn hier enden Not und Leid“, fielen Sarah und Anna ein.
Nach und nach fielen wir ein, und unsere Stimmen schwollen an, überwanden das lächerliche Gebot, auf dem Friedhof leise zu sein. Wieder blieben ein paar der wenigen Besucher stehen, aber wir beachteten sie nicht, sondern verließen das Grab, nachdem Mark sein Fähnchen in unseren Kranz gesteckt hatte.
Wir picknickten auf dem Hügel gegenüber dem Friedhof, wie letztes Jahr. Es wurde trotz der Anspannung und Trauer doch noch ein netter Tag; wir konnten sogar über Jamie reden und lachen, statt in betroffenes Schweigen zu fallen oder zu weinen.
„Tja“, sagte Michael mit einem Blick auf die langsam untergehende Sonne, „in zwei Tagen ist die Premiere.“
"Aber vorher noch eine Werbeaktion!", fügte Aubrey begeistert hinzu.
Ich bekam einen aufgeregten Knoten im Magen. Liam, gegen den ich gelehnt saß, legte das Kinn auf meinen Scheitel. Noch habt ihr den ganzen Sommer, ermahnte ich mich und das unwohle Gefühl, das nun immer auftauchte, wenn ich an unsere baldige Trennung dachte.
Und wer weiß – vielleicht würden wir irgendwann sogar einmal zusammen auf der Bühne stehen.
Was ich rette, geht zu Grund
Was ich segne muss verderben
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Re: Mich trägt mein Traum

Beitragvon Gaefa » 31.07.2014, 16:34:02

Ich freue mich jedes Mal wieder, wenn ich ins Forum komme und ein neuer Teil deiner Geschichte darauf wartet, gelesen zu werden.
Auf die Show bin ich schon sehr gespannt und hoffe, dass sie nicht dem nächsten Zeitsprung zum Opfer fällt ;)
Ich hoffe, die beiden die räumliche Trennung besser verkraften als meine beiden Hauptpersonen das können! Die beiden sind ein süßes Paar.
Ich kann gut nachvollziehen, dass es für sie seltsam ist, dass plötzlich wieder ein Lebensabschnitt endet. Ich steh grad kurz vorm Abschluss meines Studiums und kann auch kaum glauben, dass bald alles anders wird und viele Sachen, an die man sich in den letzten 5 Jahren gewöhnt hat, nicht mehr so weitergehen...
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