
So, hier geht's weiter mit dem ersten Schultag. Ich habe nicht viel Ahnung, wie das so ist auf einer Musicalschule, was für Stundenpläne man da hat u.s.w. Falls ich mal völlig daneben liegen sollte, müsst ihr mich korrigieren

Erst am nächsten Morgen traf ich meine anderen Mitbewohner. Ich musste erst um zehn Uhr an der Schule sein, trotzdem stand ich früh auf und fand das Bad trotzdem besetzt vor.
„Sebastian ist drin“, ertönte eine Stimme hinter mir. „Und der braucht länger als Melissa. Er braucht sogar länger als alle Frauen dieser Welt.“ Es musste Jens sein. Er hatte blondes Haar, das in alle Richtungen abstand, und sah nicht schlecht aus.
„Hi, ich bin Jens.“ Er umarmte mich.
„Anouk“, erwiderte ich.
„Und, bist du schon aufgeregt auf den ersten Schultag?“
„Ja, ziemlich.“
Er grinste. „Dann solltest du mein Rührei probieren: das schmeckt so gut, dass es dich auf der Stelle von all deinen Sorgen befreit.“ Er zog mich in die Küche, ohne mich Antworten zu lassen, und ehe ich mich versah, saß ich auch schon am Tisch, einen Teller mit köstlich duftendem Rührei vor der Nase. Ich probierte vorsichtig.
„Mann, das ist wirklich gut!“, sagte ich. Jens sah zufrieden auf den Herd.
Eine Weile war ich so beschäftigt mit Essen, dass ich gar nichts mitbekam. Erst, als jemand die Küche betrat, sah ich auf.
„Mann, Leute, ich habe so schlecht geschlafen heute Nacht. Ist denn schon wieder Vollmond?“
Ich starrte den Jungen an und versuchte, ganz neutral zu gucken. Es musste Sebastian sein, und jetzt, wo ich ihn sprechen hörte und ihn sah, fügte sich alles ineinander: sein Sinn für Stil, dass er so lange im Bad brauchte, sein Gesundheitsfimmel… Sebastian war stockschwul. Ich fand das süß, irgendwie. Ich hatte mir schon immer einen schwulen Freund gewünscht.
„Oh, hallo!“ Er sah mich und kam auf mich zu, und ich wurde erneut mit einer herzlichen Umarmung begrüßt. „Ich habe den Tag gestern total verschlafen, tut mir so leid, dass ich dich jetzt erst begrüße!“, sagte er. Ich fragte mich, warum er dann noch müde war.
„Wie wär’s mit einem Kaffee?“, fragte Jens.
„Oh, nein, nein, nein! Meinen Himbeersmothie, jetzt!“ Sebastian griff in den Kühlschrank. Ich senkte den Blick und versuchte, nicht zu lachen. Sebastian war wirklich ein totales Klischee. Aber er war mir auf Anhieb sympathisch. Ich beobachtete die beiden, wie sie über richtige Ernährung stritten, und dann dachte ich, dass sie eine große, alberne Familie waren, die ständig neu geboren wurde.
Die Music&Art Academy war ein großes, viereckiges Gebäude, das auf den ersten Blick gar nicht in die Stadt passte mit seinen großen Glasfronten und dem modernen Kiesweg. Das Gelände war eingefasst von einem dunklen Metallzaun. An dem geöffneten Tor hing ein Schild mit der Aufschrift
Music & Art Academy
Schule für Musik und Kunst
Ich schritt hindurch und folgte dem aus steinernen Bodenplatten bestehendem Weg bis zur Eingangstür. Sie war sehr groß und führte in eine helle Halle. Ich kam mir zuerst ein wenig vor wie im Theater – Stuck an den weißen Wänden, eine Garderobe, über einem langen Tresen hing ein Schild mit dem Wort Information. Unsicher ging ich darauf zu.
„Entschuldigung?“
Die Frau, eine ältere, nette Dame, sah auf und lächelte.
„Ich bin Anouk Steger“, sagte ich.
„Ah, sicher ist heute der erste Schultag für Sie?“ Sie tippte etwas in ihren Computer ein, dann nickte sie sich zu und blätterte in einem Karteikasten. „So, Anouk, hier ist Ihr Schülerausweis, bitte melden Sie einen Verlust rechtzeitig und tragen Sie ihn immer bei sich. Bei außerschulischen Veranstaltungen werden Sie ihn brauchen.“ Sie reichte mir eine schmale Mappe. „Hier sind einige wichtige Informationsblätter, Ihr Stundenplan sowie Hausregeln und so weiter. Sie werden in Aula 2 erwartet, links den Gang hinunter, die erste Türe rechts.“
„Okay. Danke.“ Ich nahm die Mappe entgegen und ging den beschriebenen Weg entlang. Ich erreichte die Aula tatsächlich ohne Umwege. Die gewaltige Flügeltüre stand offen, und ich betrat schüchtern den Raum – nein, es war beinahe ein riesiger, festlicher Saal, mit einer großen, hellen Bühne und hohen, schmalen Fenstern. Schwere Vorhänge und eine Art Balkon am anderen Ende des Saales konnte ich außerdem ausmachen. Jetzt war es beinahe leer, nur zwei Stuhlreihen links und rechts vom Gang waren aufgestellt. Darauf saßen, in großen Abständen zueinander, die neuen Schüler. Einige redeten miteinander, andere saßen stumm da oder lasen in den Mappen. Ich setzte mich mittig in die zweite Reihe und sah mich um. Ein schwarzer Flügel stand dekorativ auf der Bühne, außerdem war dort ein Pult mit Mikro.
Außer mir, das wusste ich, gab es in diesem Jahrgang nur elf weitere Schüler. (Die Wahrscheinlichkeit, aufgenommen zu werden, war so gering! Warum ich?) Ich zählte, dass wir schon zu acht waren. Um kurz vor zehn waren alle versammelt. Ich zählte immerhin fünf Jungen und sieben Mädchen. Ungewöhnlich viele männliche Teilnehmer, dachte ich.
„Hallo, Anouk. Darf ich mich neben dich setzen?“
Ich sah erstaunt auf. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Michael, der den Zauberer gespielt hatte! Wie konnte ich ihn nur vergessen? Und warum hatte ich ihn nicht sofort erkannt?
„Klar“, sagte ich erleichtert. „Setz dich.“ Ich konnte sehen, dass er ebenfalls erleichtert war, jemanden zu kennen.
„Hast du eine Wohnung hier?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf.
„Meine Cousine wohnt in der Nähe. Ich muss zwar ein ganzes Stück fahren, aber ich muss keine Miete zahlen, zum Glück. Und du?“
Ich berichtete ihm kurz von der WG, hielt aber inne, als die Türen geschlossen wurden. Jemand betrat die Bühne. Es war eine Frau, vielleicht Mitte fünfzig, sehr schick angezogen. Ihr Blick war furchtbar streng, aber sie lächelte ein wenig.
„Ich begrüße Sie, Damen und Herren, auf der Music&Art Academy!“ Sie hatte einen englischen Akzent. „Sie sind hier in der Aula der Abteilung Music. Falls Sie für Kunst angemeldet sind, bitte ich Sie, diese Aula nun zu verlassen.“
Vereinzeltes Gelächter, einige sahen sich neugierig um. Niemand rührte sich.
„Sehr schön.“ Die Frau rückte sich ihre rote Brille zurecht. „Mein Name ist Paige, Mrs. Paige, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich auch so ansprechen. Ich bin Dozentin an dieser Schule seit 15 Jahren. Ich werde Sie unterrichten in Ensemblearbeit sowie einige von Ihnen in Einzelgesang.“ Sie ließ Ihren Blick kurz durch die Reihen schweifen. „Ich möchte nun, dass Sie mir genau zuhören, und dass Sie das Gehörte behalten und überdenken.
Eine Musicalausbildung ist nie, in keinem Fall, eine gewöhnliche Ausbildung. Sie alle glauben zu wissen, was auf Sie zukommt. Sie glauben zu wissen, dass diese Ausbildung hart ist, schwer, schmerzhaft, ausdauernd, fordernd, anspruchsvoll, und Sie glauben, dass Sie den Anforderungen gewachsen sind.
Ich werde Ihnen nun etwas sagen, dass Ihnen den Boden unter den Füßen wegreißen wird:
Niemand, ich sage, niemand von Ihnen, ist den Anforderungen im Moment gewachsen.“
Eine unangenehme Stille trat ein, die Schüler sahen sich ratlos an.
„Hier zu sitzen bedeutet für Sie das reinste Glück. Sie denken, Sie haben es geschafft? Sie irren sich. Sie haben es geschafft, wenn drei Jahre vorüber sind. Wenn Sie hier sitzen und Zweifel haben, ob das hier Ihr Ding ist, dann sind Sie falsch. Wenn Sie nicht hundertprozentig für Ihren Traum leben, dann werden Sie Schwierigkeiten haben. Und das“, sie machte eine unheilschwangere Pause, „sehen wir Ihnen sofort an.“
Mir wurde heiß. Tausend Zweifel bemächtigten sich meiner. War ich hier richtig? Warum sagte sie uns so etwas? Würde sie sehr streng sein? Würde ich es nicht schaffen? Ich sah die anderen Schüler an und wusste, dass sie sich genauso fühlten. Da begann Mrs. Paige plötzlich zu lächeln.
„Genug Angstmacherei“, sagte Sie. „Ich heiße Sie herzlich willkommen auf unserer Schule. Auf dass wir eine wunderbare, lehrreiche Zeit haben, in der Sie über sich hinauswachsen werden. Seien Sie Freunde, keine Feinde. Kameraden statt Konkurrenten. Jetzt ist die Zeit, in der Sie voneinander lernen können. Später werden Sie sich gegenseitig die guten Jobs klauen. Wachsen Sie zusammen, denn für die nächsten drei Jahre sind Sie ein Ensemble.
Und nun schlagen Sie bitte Ihre Mappen auf. Sie finden als erstes IhrenStundenplan; er ist auf jeden Schüler individuell ausgerichtet. Einiges haben Sie gemeinsam, einiges alleine. Erste Aufgabe: finden Sie sich im Gebäude zurecht.“
Sie verschwand hinter der Bühne, und wir blieben zurück, verwirrt, ängstlich und orientierungslos.