Kinky Boots Hamburg, 19.5.18 abends

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serena
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Kinky Boots Hamburg, 19.5.18 abends

Beitragvon serena » 27.05.2018, 20:55:47

Kinky Boots
Operettenhaus Hamburg – Samstag, 19.5.2018, 19.30 Uhr

Meine Damen und Herren und alle diejenigen, die sich noch nicht festlegen wollen:
Das Fazit gleich vorneweg: Klasse Musical, unbedingt anschauen!!!!
Wer in Hamburg ist und dieses Stück (leider nur noch bis September) nicht anschaut, hat wirklich was verpasst!

Die Geschichte ist eigentlich kurz erzählt: Charlie erbt die veraltete Schuhfabrik seines Vaters, die kurz vor der Pleite steht. Zufällig lernt er die Dragqueen Lola kennen und entwickelt durch sie die Idee, Damenstiefel für Herren zu produzieren, worüber im „Hinterland“ Englands nicht jeder erfreut ist. Da Charlie nicht der geborene Manager ist, seine Freundin ganz andere Pläne hat und Lola erstmal mit massiven Vorbehalten zu kämpfen hat, entstehen so einige Irrungen und Wirrungen. Auch wenn die Story erstmal recht durchschaubar wirkt, wird sie nie langweilig. Die Irrungen und Wirrungen bringen so einige überraschende Wendungen mit. Es wechseln sich nachdenkliche, übermütige, traurige, witzige und (wörtlich) kämpferische Momente ab. Emotional wird die große Bandbreite abgedeckt, und dies fließend.
Überhaupt ist „fließend“ eine gute Beschreibung für dieses Stück, da es bei der Musik und beim Bühnenbild auch noch auftauchen wird.

Die Musik bietet beim ersten Hören recht wenige Ohrwürmer. Die größten Ohrwurmqualitäten haben die Finalnummern der beiden Akte sowie Lolas erstes Solo. Aber egal, denn die Musik passt zum Stück und bietet für jede Stimmung den entsprechenden Stil: mal ruhiger, balladenhafter, mal fetziger Partysong und so einiges dazwischen. Die Band besteht aus 9 Musikern, wobei gemäß des insgesamt poppigen Musikstils die Bläser und die Geige nicht gerade dauerbeschäftigt werden. Gitarren, Keyboards und Schlagzeug haben entsprechend mehr zu tun. Und da kann auch schon mal eine Mandoline für Abwechslung im Klangbereich sorgen.
Schön ist auch, dass die Lieder wirklich in die Handlung passen und sie mittragen. Gesangspausen zwischen den Dialogen, damit mal wieder einfach gesungen wird, gibt es hier nicht. Die Struktur ist so gut, dass jeder Song völlig natürlich an dieser Stelle kommen muss. Häufig werden sie gar nicht durchgesungen, sondern sie werden durchbrochen von kurzen Dialogen. Und diese Wechsel geschehen ebenfalls fließend und sinnvoll.
Nebenanmerkung: Auch wenn die erste Reihe zum Angucken des Stücks seine Reize hat, so ist es mit dem Anhören dort durchaus „interessant“. Es kann nämlich sein, dass man die Bläser, wenn man ganz rechts sitzt, direkt vom Orchestergraben aus hört, die restlichen Instrumente und den Gesang aber per Lautsprecher von hinten.

In einem Aspekt ist dieses Stück für die Stage Entertainment glatt ungewöhnlich: Hier hat das Bühnenbild wirklich die Funktion, die Geschichte mitzuerzählen und nicht selbst die Sensation zu sein! Das Hauptelement des Bühnenbildes bleibt konstant, die Versatzstücke und ein Podium stellen die verschiedensten Orte innerhalb und außerhalb der Fabrik dar. Dabei hat das Bühnenbild so einige Überraschungen und tolle Ideen parat. Da wird das Fabriklaufband schon mal zum Laufsteg samt Turnstange. Einfallsreich ist auch die „Halterung“ des Boxringes! Die Darsteller sorgen dabei selber für die Umbauten, Szenenwechsel klappen fließend, reibungslos, teils erkennbar, teils verdeckt. Nur am Ende des ersten Aktes ziehen 4 Bühnenmitarbeiter die Elemente nach hinten, damit sich der Vorhang senken kann.
Die Kostüme umfassen eher schlichte Kleidungen für die Fabrikarbeiter, die je nach Typ lockerer, sportlicher oder robuster ausfallen, sowie knallig-schrille Kostüme für die Dragqueens. Eine zeitliche Einordnung des Musicals per Kostüme ist kaum möglich, da sie recht neutral aussehen.

Es gibt zwar keine direkt „anstößigen“ Szenen, aber dennoch würde ich das Musical nicht für Kinder unter 14 empfehlen. Wer seinen jüngeren Sprösslingen erklären kann, warum da Männer in glitzernden Damenkleidern und anderen körperbetonten Kleidungsstücken rumlaufen und was das Führen einer Fabrik samt Pleite bedeutet, mag auch etwas jüngere Kinder mitnehmen. Unter 12 würde ich dann doch besser auf die Disney-Auswahl verweisen. Ab dem Jugendalter dürfte der Nachwuchs mit dem Stück aber schon seinen Spaß haben. Die eigentliche Botschaft des Stücks, „Sei du selbst“, ist ja recht altersunabhängig.

Die Besetzung:
Lola: Benét Monteiro
Ok, zwischendurch hört man den Akzent durch und manche Wörter klingen leicht mühselig ausgesprochen. Aber er schafft es, dass seine Texte lebendig und nicht aufgesagt wirken.optisch genau die richtige Mischung, nicht zu männlich und nicht zu weiblich. Da braucht es schon zwei Blicke, um zu erkennen, wer vor einem steht. Schön.

Charlie: Marlon Wehmeier

Mann, ist der Kerl groß. Und mit seinen langen Beinen kann er wunderbar schlaksig und unbeholfen wirken, besonders auf Stiefeln! Mit seinen im „Frust“ ruckartigen Bewegungen wirkt er manchmal wie der sprichwörtliche „Storch im Salat“. Das mag erstmal merkwürdig klingen, passt aber sehr gut zur Rolle.

Lauren: Jeannine Wacker
Ihre Rolle stellt den Comedy-Faktor des Stücks dar, und sie stellt diesen sehr gut dar. Ihr Charakter wirkt nie dämlich, peinlich oder flach. Sie trifft stets den passenden Ton und schafft es, ihre Rolle so glaubwürdig zu präsentieren.

Nicola: Franziska Schuster

Optisch fällt sie etwas aus dem Rahmen, da sie recht schick in schwarz gekleidet ist. Das passt zur Rolle, die aus dem Kleinstadt-Rahmen fallen will. Für eine der Hauptrollen hat sie wenige Szenen zu spielen, die sie aber eindrucksvoll zu nutzen weiß.

Don: Marco Heinrich
Er ist der Gegenspieler von Lola, der betont „männlich“ auftreten darf. Und das klappt einwandfrei. Dabei ist er trotz aller Skepsis und Abneigungen in seiner Rolle immer sympathisch. Herrlich, wie sich sein Gesicht im Zeitlupentempo fließend verändert, als er begreift, wen er auf seinem Schoß sitzen hat!

George: Tilman Madaus

Der Traum von Schwiegersohn im fortgeschrittenen Alter: zuverlässig, optisch konservativ, herrlich steif wirkend, herzensgut und bereit, für seinen Job (fast) alles zu geben. Der Anblick am Ende hat hier erst recht seinen Reiz!

Pat: Steffi Irmen
Trish: Fleur Alders
Marge/Milan Stage Manager: Merel Zeeman
Gemma Louise: Linda Konrad
Maggie: Denise Jastrauning
Mr Price: Frank Logemann
Richard Bailey / Paddington: Stephan Zenker
Harry / Crispin: Robert Knorr
Simon Senior: Christopher Hemmans
Hooch: Boris Böhringer
Mutt: Taddeo Pellegrini

So einige dieser Rollen kommen eher selten bzw. am Rande vor. Die Damen sind in der Fabrik aktiv und somit zwar häufig präsent, aber nicht mit dem Namen im Rampenlicht. Simon Senior wird am Ende des zweiten Aktes im Rollstuhl auf die Bühne geschoben und hat außer anwesend sein nicht wirklich was zu tun. Mr Price darf ja in der 3. Szene bereits gestorben sein und in Charlies Gedanken im 2. Akt noch einmal auftauchen. Richard hat immerhin eine längere Szene zu tun, inklusive eines Auftritts mit seinen Musiker-Kumpels samt Song für/mit Charlie. Bei den anderen Personen weiß ich gerade gar nicht mehr, wer diese genau waren. Manchmal huschen die Namen bei den Kurzauftritten der Rollen an einem vorbei (falls sie überhaupt jedes Mal genannt wurden...). Zumindest haben damit alle Darsteller die Position der Nebenrollen gut ausgefüllt.

Angels:
Antonio Calanna (Referee), Paolo Avanzini, Tayler Davis, Dorival Junco, Raúl Rodriguez, Alex Snova
Also die Herren können sich definitiv gut bewegen. Bei manchen sieht man erstmal gar nicht, ob wirklich ein Mann unter der Damenbekleidung steckt.

Lola Junior: Jarvis
Charlie Junior: Justin

Die Kinder spielen in der ersten Szene und gegen Ende des zweiten Aktes noch einmal mit. Beide müssen gut singen und tanzen können, was sie auch taten. Jarvis sprang am Ende des Finales auch mal eben in den Spagat. Beide wirkten sehr natürlich und sympathisch in ihrem Spiel.

Für einen Samstag Abend war trotz hoher Kartenpreise die Show gut besucht. Ohne Rang waren ca. 90% der Plätze belegt Die Stimmung im Publikum war super, entsprechend gab es am Ende schnell Standing Ovations samt Party-Gefühl. SE-typisch ist die Zahl der „Vorhänge“ und Zugaben extrem beschränkt. Schade. An dem Abend hätte das Publikum noch gerne weiter gefeiert.

Kleiner Tipp: Auch wenn die Rangplätze nicht belegt werden, geht nach der Vorstellung mal nach oben! Es kann sein, dass es einige ausrangierte Kinky Boots (wohl aus Melbourne) zum Anprobieren gibt! Wer mal ausprobieren möchte, wie es sich auf 16,5cm Absatz läuft, kann es dort tun.
An dem Abend gab es einen interessanten Effekt: Während die Frauen mehrheitlich damit beschäftigt waren, nicht schon im Stand umzufallen, hatten die Männer keine Probleme damit, zu laufen oder sogar einige Tanzschritte zu wagen. Ok...

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Re: Kinky Boots Hamburg, 19.5.18 abends

Beitragvon armandine » 31.05.2018, 22:03:12

Danke für den schönen lebendigen Bericht!


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